Dr. Erich Schöndorf
Professor für Umweltrecht

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Offener Brief
an die Bundesregierung und die Mitglieder des Deutschen Bundestages

Bad Vilbel, 10. Juni 1999

Sehr geehrte Damen und Herren,

erlauben Sie mir, daß ich Sie mit diesem Schreiben auf ein Problem hinweise, das innerhalb der gesellschaftspolitischen Diskussion immer noch keinen adäquaten Stellenwert gefunden hat, dessen Lösung aber immer dringlicher wird. Es geht um die Beeinträchtigung der menschlichen Gesundheit durch Chemikalien. Zweifellos trägt die chemische Industrie viel zu unserem wirtschaftlichen Wohlstand bei, indem sie nützliche Produkte herstellt und Menschen Arbeit gibt. Sie ist aber auch auf der Negativ-Seite präsent.

Vor über 30 Jahren hat der Conterganfall gezeigt, mit welch großen Risiken der chemisch-pharmazeutische Fortschritt verbunden ist. Dabei ist es nicht geblieben. Toxische Holzschutzmittel haben vor allem in den 70er und 80er Jahren in Deutschland viele tausend Menschen krank gemacht. Gegenwärtig wird das Amalgam-Problem heftig diskutiert und am Horizont dämmert wahrhaft Apokalyptisches: Der Zusammenbruch des hormonellen Systems und das Versagen des Immunsystems unter der Last menschengemachter Stoffe. Eine wachsende Zahl von Allergikern signalisiert - wenn auch relativ unspektakulär - das Problem. Auch die massenhafte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit durch den Umgang mit giftigen Arbeitsstoffen muß uns aufhorchen lassen. Offenbar werden die Menschen mit der Vielzahl der Fremdstoffe, denen sie überall ausgesetzt sind, nicht mehr fertig.

Hinter dem Begriff der Chemikalienerkrankung verbergen sich schwerste gesundheitliche Einbußen. Zahlreiche Einzelsymptome ergänzen sich zu einem umfassenden Beschwerdebild, das mit einem enormen Verlust an Lebensqualität und viel menschlichem Leid verbunden ist und an dessen Ende allzuoft Arbeitsunfähigkeit, Pflegebedürftigkeit und Krankenhauskarriere stehen. Als ehemaliger Staatsanwalt in Frankfurt a.M. habe ich im Rahmen der Bearbeitung des Holzschutzmittel- und des Amalgamverfahrens viele dieser traurigen Schicksale kennengelernt.

Fatalerweise erleiden die Betroffenen in ihrem sozialen Umfeld einen zusätzlichen Nachteil: Sie werden als Kranke nicht anerkannt. Im Gegenteil unterstellt man ihnen übertriebene Empfindlichkeit, outet sie als Schwächlinge und packt sie in die Psycho-Schublade, in der man glaubt, Hypochonder endlagern zu dürfen. Wenn die Krankmacher unsichtbar sind, will man auch die Krankheiten nicht sehen.

Diese Ignoranz erfahren die Betroffenen überall: im Umgang mit Behörden, am Arbeitsplatz und sogar in ihren Familien. Und selbst die Institutionen, die - an erster Stelle! - zur Lösung der genannten Probleme berufen sind, verweigern sich ihnen: Medizin und Justiz. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Sie auf meinen am 7. Juni 1999 im "Spiegel" erschienenen Beitrag zu dieser Thematik hinzuweisen.

Viele Ärzte sind mit den Umweltkrankheiten überfordert, können sie weder diagnostizieren noch therapieren und flüchten sich schließlich in psychosomatische Erklärungen. Während es mittlerweile aber schon eine kleine Zahl Umweltmediziner gibt, bei denen die Patienten gut aufgehoben sind, versagt die Justiz praktisch auf der gesamten Linie. Ihre erkennbar widerwillige Befassung mit der fraglichen Materie besteht vornehmlich in der Suche nach Gründen für eine rasche Klageabweisung oder eine umgehende Verfahrenseinstellung. Am Ende teilt man den ihr Recht suchenden Menschen Entscheidungen mit, die nichts mit einem gerechten Interessenausgleich zu tun haben und von den Betroffenen auch nicht akzeptiert werden; Entscheidungen also, die keinen Rechtsfrieden schaffen. Neben das medizinische Trauma tritt ein juristisches.

Komplettiert wird der Mißstand schließlich noch dadurch, daß Ministerien und Behörden aber selbst nach den Erfahrungen mit den geschilderten Katastrophen nicht in der Lage sind, Ähnliches zukünftig verbindlich zu verhindern. Während beispielsweise die toxischen Verbindungen Pentachlorphenol und Lindan die Holzschutzmittelbühne - vor allem auf Druck der Betroffenen - verlassen mußten, haben ungehindert von staatlichen Aufsichts- und Kontrollorganen die Pyrethroide deren Platz eingenommen und über zusätzliche Pfade die unendliche Geschichte der Wohnraumgifte fortgesetzt.

Ein sozialer Rechtsstaat muß unter diesen Umständen handeln, ansonsten läuft er Gefahr, den Rückhalt bei seinen Bürgern zu verlieren. Dies umso mehr, als es sich bei den Betroffenen längst nicht mehr um eine verschwindend kleine Minderheit handelt. Amerikanischen Schätzungen zufolge sind bereits 25 Prozent aller dort diagnostizierten Erkrankungen umweltbedingt. In Deutschland dürfte es kaum anders sein. Das jedenfalls signalisieren zahllose Patienteninitiativen und Selbsthilfegruppen.

Der entsprechende Handlungsbedarf ist groß. Man wird ihm sicherlich nicht kurzfristig und auch nicht innerhalb einer Legislaturperiode gerecht werden können, aber ein Anfang sollte so bald wie möglich gemacht werden.

Da ist zunächst die Tatsache, daß viele Chemikalienkranke finanziell am Ende sind. Holzschutzmittelverwender beispielsweise haben ihre Häuser aufwendig sanieren, teilweise sogar aufgeben müssen und sind aufgrund der mittlerweile eingetretenen Erwerbsunfähigkeit nicht mehr in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Auffällig oft führt das Chemikaliensyndrom zu einer vollständigen Zerstörung der Arbeitskraft und langandauernden Krankenhauskarrieren.

Hier sollte der Staat bereit sein, wenigstens die Härtefälle kurzfristig zu entschädigen - das auch und vor allem deshalb, weil seine obersten Aufsichtsorgane es nicht geschafft haben, die Menschen vor den gesundheitlichen Risiken der problematischen Verbindungen zu schützen. Im Holzschutzmittelkomplex hat das Frankfurter Verfahren deutlich gemacht, wie tief das damalige Bundesgesundheitsamt in die Schuld der Hersteller verstrickt war. Und auch auf dem Amalgamsektor vermißt man bis heute ein verbindliches Wort des BgVV: nämlich die Forderung nach einem Verbot des Amalgams. Kein Mensch kann sich heute mehr taub stellen gegenüber den tausendfach dokumentierten Schäden durch Schwermetall-haltige Zahnfüllstoffe.

Nun sind finanzielle Forderungen in Zeiten leerer Kassen nicht gerade beliebt, jedenfalls bei denen, die diese Kassen bedienen und sie - nebenbei bemerkt - oft auch geleert haben. Aber die Betroffenen sehen das anders. Ein Staat, der Milliardenbeträge allein für den Umzug seiner Regierung ausgibt, der es sich für viel Geld im neuen - hoffentlich Schadstoff-freien - Domizil gemütlich macht, dem meinen die Verlierer des technischen Fortschritts ebenfalls einiges abverlangen zu dürfen.

Darüberhinaus sollte das Gutachterwesen neu geordnet werden.
Das Versagen der Justiz hat mit den schlimmen Zuständen auf diesem Gebiet entscheidend zu tun. Vor allen Gerichten und Instanzen haben, wenn es um komplexe naturwissenschaftliche Sachverhalte geht, die Männer in weiß die Zügel in die Hände genommen. Ihnen ist die Justiz mangels eigener Sachkunde oftmals vollständig ausgeliefert. Deshalb muß sichergestellt sein, daß in diesem Bereich uneingeschränkte Objektivität und exzellentes Fachwissen vorhanden sind. Die Wirklichkeit vor unseren Gerichten sieht aber anders aus. Viele Sachverständige stehen mit den am Rechtsstreit beteiligten Unternehmen wirtschaftlich in Verbindung, nicht wenige sind von ihnen finanziell abhängig. Das Ergebnis der Gutachten ist so vorhersagbar. Wes Brot ich eß, des Lied ich sing - dieser Satz gilt besonders dort, wo weitreichende Entscheidungen getroffen werden: vor Gericht. Im Frankfurter Holzschutzmittel-Prozess wurde exemplarisch deutlich, welch menschenverachtende Ergebnisse industriefreundliche Sachverständige zu vertreten bereit sind. Das Gericht ist ihnen zwar nicht gefolgt, aber das ist nicht die Regel im Lande.

Auf diese Weise wird die Justiz zugunsten der wirtschaftlich Mächtigen instrumentalisiert und als Kontrollorgan ausgeschaltet. Verfassungsrechtlich bedeutet dies die Infragestellung der Rechtsstaatlichkeit und des Prinzips der Gewaltenteilung. Es geht also um mehr als das eine oder andere falsche Urteil.

Was wir brauchen, ist nicht unbedingt der gläserne, aber doch der in Teilbereichen transparente Sachverständige. Seine finanziellen Verflechtungen müssen bekannt, seine wirtschaftlichen Abhängigkeiten offengelegt sein. Er muß sagen, woher er seine Aufträge und sein Geld bekommt und wer sein Institut finanziert. Und er muß seine Sachkunde detailliert belegen. Wer die Frage beurteilen will, ob ein chemischer Stoff einen Menschen krank gemacht hat, muß notwendigerweise über entsprechende klinische Erfahrungen verfügen, muß Umgang mit Patienten nachweisen. Wenn er darüber hinaus noch die einschlägige toxikologische Literatur kennt und von Tierexperimenten zu berichten weiß, ist das sicher von Vorteil. Für sich allein genügt letzteres allerdings nicht. Nur ein solchermaßen wirtschaftlich transparenter und fachlich qualifizierter Sachverständiger kann der Justiz eine verläßliche Entscheidungshilfe sein.

Für die Vergabe entsprechender Lizenzen, etwa eines "weißen Umweltengels", kommt nur ein demokratisch legitimiertes Gremium in Betracht, das die gesellschaftlichen Interessen ebenso repräsentiert wie deren kreative Fähigkeiten. Vertreter der Schul- und Umweltmedizin, Verbraucher- und Naturschutzinitiativen, sowie Wirtschaftsverbände könnten den Gutachterpool füllen, aus dem sich die Justiz - selbstverständlich völlig frei - bedienen kann.

Das wäre ein Anfang. Ein Anfang allerdings, der die heute noch überwiegend unerfreuliche Situation chemikaliengeschädigter Menschen spürbar verbessern würde.

Noch ein Satz dazu, wie es danach weitergehen könnte: Die Zulassung neuer chemischer Verbindungen sollte nur noch dann erfolgen, wenn deren Unbedenklichkeit nachgewiesen ist; auf dem juristischen Sektor entspricht dem die Umkehr der Beweislast zugunsten des Geschädigten, wenn es um Beeinträchtigungen durch generell gefährliche Produkte oder Stoffgruppen geht.

Die Industriegesellschaft muß sich endlich zu ihren Schattenseiten bekennen und die Verantwortung für ihr wachsendes Risiko- und Schadenspotential übernehmen. Auf dem Rücken zufällig Betroffener dürfen die Nachteile des technischen Fortschritts nicht abgehandelt werden.

Ich bitte Sie daher herzlich, innerhalb von Parlament und Regierung die Initiative zu ergreifen, um die geschilderten Mißstände zu beheben und die vorgeschlagenen Maßnahmen umzusetzen: die Einrichtung eines Entschädigungsfonds für Chemikalienopfer sowie die Etablierung eines für die Lizenzierung von Sachverständigen zuständigen Gremiums.

Mit vielem Dank für Ihre Aufmerksamkeit
und freundlichen Grüßen

Dr. Erich Schöndorf

 


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