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Antje Bultmann (Hrsg.)
Vergiftet und allein gelassen

Die Opfer von Giftstoffen in den Mühlen von Wissenschaft und Justiz

Originalausgabe März 1996
© 1996 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Umschlaggestaltung Adolf Bachmann, Reischach
Umschlagfoto Das Fotoarchiv/Robert Chasin, Essen
Satz MPM, Wasserburg
Druck und Bindung Eisnerdruck, Berlin
Printed in Germany
ISBN 3-426-77214-054321

Immer öfter lösen vom Menschen verursachte Umweltschäden Gesundheitsgefahren aus. Die Opfer all der Schadstoffe in unserem Alltag tragen nicht nur bleibende körperliche Schäden davon. Sie werden von vielen Ärzten, Gutachtern, Anwälten und Richtern auch noch gnadenlos bekämpft, denn jeder gewonnene Prozeß könnte ja eine Lawine von weiteren Schadenersatzansprüchen auslösen. Um das zu verhindern, ist der Industrie nahezu jedes Mittel recht: Das Spektrum der Maßnahmen reicht von Psychiatrisierung über Prozeßverschleppungen bis zu handfesten Einschüchterungen. Betroffene und Experten schildern in diesem Buch aber nicht nur solche skandalösen Praktiken, sondern berichten auch davon, wie die übermächtige Allianz aus Wissenschaft und Industrie besiegt werden kann. Eine Risikoliste der wichtigsten Gefahrenstoffe und ihrer Symptome, Tips für den Umgang mit Behörden und Gerichten sowie Adressen von Selbsthilfegruppen machen dies Buch zu einem wichtigen Ratgeber für alle Betroffenen.

Antje Bultmann, geboren 1941, studierte Verhaltens- und Sozialwissenschaften in Heidelberg, Göttinger und Tübingen. Zehn Jahre war sie als Lehrerin und Heimleiterin tätig, bevor sie ein Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart absolvierte. Sie leitete ein Projekt Umweltschutz und Kirche in München und ist Mitglied der Emst-Friedrich-Schumacher-Gesellschaft. Heute lebt und arbeitet sie als freiberufliche Journalistin in der Nähe von München.


Inhalt

Volker Zahn:

Vorwort - So außen wie innen .........

Antje Bultmann:

Einleitung - Unser täglich Gift ........

I   Gift am Arbeitsplatz
Martin Hofmann:

»Das einzige, was nie bestritten wurde, ist die Tatsache, daß er krank ist«
Ein gelähmter Arbeiter und seine Gutachter

II Wohngifte
Jörg Rheinländer:

»Die glauben alle, du gehörst in die Klapse« - Krank durch Insektengift

Volker Zapke:

»Und dann bin ich richtig zusammengebrochen. Ich hab also wirklich gedacht, ich muß sterben«
Das schmutzige Geschäft mit Holzschutzmitteln

III In ärztlicher Behandlung
Marc Rufer:

Zu Tode »behandelt« - Der Fall Franz Schnyder und die Psychiatrie

Martin Hofmann:

»Von Monat zu Monat habe ich körperlich mehr abgebaut« - Amalgam: Gift in aller Munde

IV Hochrisikotechnologie
Uwe Horden:

»Ich will wissen, für wen ich ein Restrisiko bin« - Die Leukämie in der Elbmarsch . .

V Ist Heilung möglich?
Elisabeth Josenhans:

»Man muß alle verfügbaren Register ziehen, um zum Erfolg zu kommen«
- Krankheit und Heilung

VI Wie mit den Vergifteten umgegangen wird
Peter Binz:

»Nun sind ja alle tot« - Die Verlängerung des Leidensweges durch den Rechtsweg

Harald Theml:

Warum wirken Ärzte oft so »Ignorant« und Patienten so »hysterisch«?
Die unterschiedliche Sicht von Arzt und Patient

VII Darstellung eines Beschwerdeprofils am Beispiel einer Pestizid-Intoxikation
Helmuth Müller-Mohnssen:

Frühe Erkennung des Krankheitsbildes

VIII Anhang l 257
Volker Zapke.

Tips und Hinweise für Betroffene

259
IX Anhang 2 285
Klaus-Peter Böge:

Schadstoffe in unseremWohnumfeld

287
Adressen 297
Analyse und Bewertung von Schadstoffen 301
Krankenhäuser für Umweltkranke 304
Weiterführende Literatur
Zu den Autorinnen und Autoren 306

 


Volker Zahn

Vorwort: So außen wie innen

Ein Eingriff in die Natur
provoziert den nächsten -
das ist ein Naturgesetz

Genau weiß es niemand. Aber man schätzt, daß die chemische Industrie heute etwa 100 000 verschiedene Chemikalien auf den Markt bringt. Viele von ihnen gelangen früher oder später in die Umwelt. Da bei ihrer Herstellung, Verwendung und Beseitigung zahlreiche Nebenprodukte anfallen und die Substanzen ihrerseits in der Umwelt vielfach umgewandelt werden, geht das Bundesgesundheitsministerium inzwischen von einer Million synthetischer Verbindungen aus. Dies wirft lange Schatten auf den Versuch, beim Menschen Umweltgifte mit Allergietests aufzuspüren.

Wir haben es heute eben nicht mehr mit einer Handvoll Stoffen aus lokalen Quellen zu tun, sondern mit einer »toxischen Gesamtbelastung«, einem Phänomen, das bereits 1956 von dem Heidelberger Professor für Umweltpathologie Fritz Eichholz beschrieben wurde, der sich schon damals mit Zivilisationsschäden befaßte. Ende 1993 war in vielen wissenschaftlichen Zeitschriften eine kleine Notiz über eine japanische Forschergruppe zu lesen, die die zwölfmillionste chemische Verbindung synthetisiert haben will. Wie die unzähligen Substanzen auf Umwelt und Gesundheit wirken, liegt völlig im dunkeln. Nur ungefähr 1500 Substanzen hingegen werden beispielsweise in der MAK-Liste (Liste der maximalen Giftkonzentration am Arbeitsplatz) für gefährliche Stoffe aufgeführt.

Über Luft, Wasser und Boden werden die Schadstoffe von der belebten Natur aufgenommen. Durch Atmen, Essen, Trinken und Körperkontakt gelangen die Gifte bei Mensch und Tier über die Eingangspforten - hauptsächlich der Lunge, des Verdauungsapparates und der Haut - in den tierischen und menschlichen Organismus. Jeder Schadstoff für sich allein hat einen eigenen Wirkungsmechanismus bei seiner Aufnahme, der Verarbeitung durch den Stoffwechsel, der Speicherung und Ausscheidung. Oft lernen wir erst nach Jahrzehnten, wie die giftigen Kreisläufe und Wirkungsmechanismen der bereits lange auf dem Markt befindlichen Schadstoffe funktionieren.

In der Schulmedizin anerkannt ist mittlerweile nur die gesundheitsschädigende Wirkung von Zigarettenrauch. Sowohl beim aktiven als auch beim passiven Rauchen werden eine Unzahl verschiedener Chemikalien mit inhaliert, wobei hier nur Benzpyrene, Cadmium, Formaldehyde und Vinylchlorid genannt werden sollen. Wie, wann und wo genau die schädigenden Stoffe bei aktivem und passivem Rauchen auf Säuglinge, Kinder, Schwangere und alte Menschen und chronisch Kranke wirken, ist bisher, trotz Forschung in Milliardenhöhe, nicht bekannt. Es kommt jedenfalls unter anderem zu Reizzuständen, chronischer Bronchitis, Gefäßveränderungen oder Krebs. Welche Menschen nach welcher Menge Zigaretten nun geschädigt werden, läßt sich nicht vorausbestimmen.

Von einem Gemisch von Wohn- und Textilgiften sowie von Schadstoffen durch Verkehr, Industrie und Landwirtschaft wird der menschliche Organismus nun ebenfalls stark geschädigt. Diese logische Aussage wird von der Wissenschaft derzeit zwar nicht anerkannt, aber verschiedenste Umwelterkrankungen wie das Müdigkeitssyndrom, das vielseitige Chemikaliensyndrom (MGS) oder das Sick-building-Syndrom haben hier ihre Ursache.

Gefahrlich sind auch viele Gifte am Arbeitsplatz, besonders die Schwermetalle wie Blei, Cadmium, Zinn, Palladium, dann die große Zahl von Lösungsmitteln, Organo-chlorverbindungen wie Dioxine, Furane, polychlorierte Biphenyle, Formaldehyde und auch Asbest. Die meisten dieser Gifte wirken vor allem auf Gehirn und Nervensystem, ferner auch auf Leber, Immunsystem, Haut, Lunge, Nieren und letztlich auf jede Körperstruktur.

Ein Eingriff außen zieht einen Eingriff innen nach. Wenn der Mensch zu dieser Erkenntnis nicht gelangt, werden ihn die chronischen Erkrankungen und in zunehmendem Maße auch die Unfruchtbarkeit bald einholen. Anzeichen dafür sind ja schon vorhanden. Solch eine Kette von Wirkungen soll exemplarisch am Beispiel der Pflanzengifte in der Nahrungsmittelerzeugung und in der Holzwirtschaft deutlich gemacht werden.

Ein Großteil der Nahrungsmittel in der Welt wird unter Einsatz von großen Mengen Pestiziden, Kunstdüngern und sonstigen Giftmischungen erzeugt. Zusätzlich werden über die Abgase durch Industrie und Verkehr noch weitere Giftmengen von den Pflanzen aufgenommen. Die nicht direkt von den Pflanzen absorbierten Schadstoffe werden über die Verdunstung in die Wolken aufgenommen und regnen über der Erde ab. Pestizide, die in Kanada gespritzt werden, regnen in Irland ab.

Die Gifte wirken nun direkt auf das Wachstum aller Pflanzen, indem sie die Feinstrukturen der Zellen zerstören. Es kommt aber auch darüber hinaus indirekt zu einer Einlagerung von Giften in den lebenden Zellen. Im Boden werden Kleinstlebewesen wie Bakterien oder Sporenpilze durch Gift geschädigt. Als Folge können die Pflanzen Spurenelemente, Nährstoffe und weitere lebenswichtige Stoffe, die sie zum Wachstum brauchen, nur erschwert aufnehmen.

Diese nährstoff- und vitaminarmen Pflanzen werden nun über die Nahrung vom Menschen aufgenommenund, und so wie außen in der Natur der schädigende Einfluß der Gifte gewirkt hat, so tritt nun auch die innere schädliche Wirkung im Körper des Menschen ein: Ein großer Teil verschiedenster Mikroorganismen in Mund, Magen und Darm wird vernichtet. Das heißt, der Eingriff in die belebte Natur durch das Ausbringen von Chemikalien provoziert den nächsten Eingriff in den Organismus des Menschen selbst.

Dies ist ein Naturgesetz, welches wir Menschen anerkennen müssen. Was außen vernichtet wird, wird auch innen vernichtet. Es ist halt nun einmal nicht so, daß sich die chemischen Spritzmittel in nichts auflösen, auch wenn Experten uns das weismachen wollen. Bei der industriellen Nahrungsmittelverarbeitung werden den Lebensmitteln dann zusätzlich noch einmal etwa 8000 chemische Zusätze beigemischt: zur Konservierung, zur Verschönerung, zur »verbrauchergerechten« Vermarktung. (Zugelassen sind allerdings nur etwa 350 Zusatzstoffe.) Wer soll das auf Dauer aushalten?

Ein Anbau unserer Lebensmittel im Einklang mit der Natur, wie es Bioland, Demeter und viele andere ökologische Anbauverbände schon tun, ist ein Anfang. Solche hochwertigen, vitalstoffreichen Lebensmittel sollten wir frisch zubereiten und frisch verzehren, um dem Organismus Schutz zu bieten vor weiteren Angriffen.

Aber nicht nur über die Nahrung kommen die Pestizide zu uns zurück. Ein Giftkreislauf schließt sich auch über die Holzwirtschaft. Die großen Mengen ausgebrachter Pflanzengifte in der Forstwirtschaft kommen - nach dem Fällen der Bäume und entsprechender Verarbeitung des Holzes zu Baustoffen und Möbeln - durch Ausdünstungen der Chlorverbindungen in den Häusern wieder auf den Menschen zurück. Die Folge: Er wird krank.

Die Vermeidung dieses schleichenden Vergiftungsprozesses wird nur dann möglich sein, wenn der Gifteintrag in die belebte und unbelebte Natur durch den Menschen angehalten wird. Dann könnte sich langsam wieder ein Gleichgewicht zwischen der Welt der Natur und dem menschlichen Organismus einstellen. Wie heikel dieses Gleichgewicht ist, veranschaulicht folgendes Beispiel: Im Menschen stehen etwa 40 Billionen Zellen miteinander in einer sinnvollen Verbindung und Wechselwirkung. Sie kommunizieren über minimale chemische und elektrische Prozesse. Wie das möglich ist, ist heute nur ahnungsweise zu erklären: Das planvolle Zusammenspiel hat sich in vier Milliarden Jahren entwickelt.1 Denkt man nur daran, daß der Mensch in der Lage ist, tausendstel Gramm Moschus durch das Sinnesorgan der Nase wahrzunehmen, wird deutlich, wie hochsensibel das ganze System des Lebens ist. Hier unbedacht einzugreifen bedeutet Zerstörung. Deshalb gilt die umweltmedizinische Forderung: Deine Baustoffe sollen Deine Heilstoffe sein.

Anmerkung

1.) M. P. Jaumann in: I. Kolloquium, Würzburg 1993, DGUT e. V., Deutsche Gesellschaft für Umwelt- und Humantoxikologie

 

Antje Bultmann

Einleitung: Unser täglich Gift

Erdbeeren unterm Weihnachtsbaum

Kein Mensch weiß, weshalb Erdbeeren mit Aromastoffen und Farbstoffen geimpft werden. Ist es wirklich notwendig, in das Grundnahrungsmittel Brot Gips hineinzubacken, Weizen zu bestrahlen oder der Wurst Um-rötungsmittel beizufügen? Und weshalb müssen Teppiche oder das Holz in einem Pferde- oder Kuhstall noch mit Gift behandelt werden? Solche Fragen ließen sich beliebig vermehren. Allein Spezialbedürfnisse anspruchsvoller Konsumbürger können hier nicht ausschlaggebend sein. Schmecken doch Kartoffelchips ohne Aromastoffe genauso gut, sind doch Plüschtiere ohne Azofarben mit krebserzeugenden aromatischen Aminen oder Männerhemden ohne Formaldehyd ebenso schön und riechen doch frischgelüftete Räume (vor allem auf die Dauer!) besser, als wenn man sie mit Hilfe von Duftsprays parfümiert.

Chemie bestimmt unser ganzes Leben. Ihr ist es zu verdanken, daß Erdbeeren auch unterm Weihnachtsbaum liegen, Motten die Teppiche meiden, Lebensmittel lange halten. Doch das Chemiewunder hat seine Kehrseite, die nicht unmittelbar wahrnehmbar ist: Dioxine, Schwermetalle, Hormone, Antibiotika, Pestizide verseuchen Luft, Wasser und Boden.

Angst vor dem mündigen Verbraucher?

Weshalb werden nicht auf allen Waren, Bauteilen, Möbeln, Kleidungsstücken und Nahrungsmitteln usw. die chemischen Zusatzstoffe offen deklariert? Darauf gibt es nur eine Antwort: Bedenken könnten den Konsumenten veranlassen, eine Ware nicht zu kaufen. Das hätte wirtschaftliche Einbußen zur Folge. Wenn der Trend allerdings so weitergeht wie bisher und immer mehr Gift in die Nahrung, Kleidung, Möbel usw. gelangen, wird es später immer schwieriger, Kontrollen einzuführen. Man wird nicht wissen, wonach zu suchen ist.

Über die Frage, ob eine Ware chemisch bearbeitet werden muß oder nicht, könnte gegebenenfalls noch diskutiert werden. Nicht allerdings darüber, daß jeder Bürger ein Recht darauf hat, sich zu informieren und sich die Waren auszusuchen, die er für richtig hält. Desinformationskampagnen über bestimmte Chemika-lien seitens der Industrie machen die Sache noch komplizierter. 1 Wenn die Informations- und Entscheidungsfreiheit des Bürgers sabotiert wird, ist das eine Bankrotterklärung unserer Demokratie.

Nicht jeder spürt die schädlichen Auswirkungen der Umweltgifte. Den Betroffenen sieht man - soweit die Intoxikation (Vergiftung) noch nicht weit fortgeschritten ist - äußerlich oft kaum etwas an.

Schwerstbehinderte meiden den Kontakt mit der Öffentlichkeit. Viele Geschädigte verdrängen ihr Leiden, solange es irgend möglich ist. Etliche wollen die verseuchte Arbeitsstelle oder Wohnung nicht verlassen, obwohl ihnen bewußt ist, daß hier die Ursache für ihr Leiden liegt. Manche warten so lange, bis sie keine Chance mehr haben, wieder gesund zu werden. Und selbst in diesem Stadium gibt es Menschen, die die wirkliche Ursache nicht wahrhaben wollen. Ein Gärtner beispielsweise, den ich auf den immensen Pestizideinsatz in seiner Baumschule angesprochen hatte, verharmloste die Pflanzengifte und wehrte alles rundweg ab. Kurz darauf starb der Mann an Kehlkopfkrebs. Seine Familie macht trotzdem genauso weiter ...

Am Gift scheiden sich die Geister

Es wundert nicht, daß sich Außenstehende kein Bild machen können. Wer nicht betroffen ist, will sich die Stimmung nicht verderben lassen, urteilt oft vorschnell, ohne zu wissen, worüber er spricht. Andere meinen: »Alles ist halb so schlimm.«

Eigentlich sollten die vielen Berichte über Betroffene all jene warnen, die bisher verschont geblieben sind. Schließlich sitzen wir ja doch alle im gleichen Boot. Während früher in den Medien nur ab und zu über Umweltskandale berichtet wurde, vergeht heute kaum eine Woche ohne neue Meldungen. Als Reaktion darauf kommt es jedoch weder zu einer erhöhten Wachsamkeit, noch wird nach Lösungsmöglichkeiten gesucht.

Statt dessen spaltet sich die Öffentlichkeit in zwei Lager. Auf der einen Seite sind die Betroffenen und für die Sache engagierte Ärzte, Rechtsanwälte und Wissenschaftler, die zwar äußerst sachkundig sind, jedoch oft wenig Einfluß haben. Auf der anderen Seite stehen Menschen, die selbst keine entsprechenden Erfahrungen gemacht haben und deshalb skeptisch sind, oder solche, die ein bestimmtes Interesse daran haben, daß Informationen über Schadstoffauswirkungen unterdrückt werden; oft verfügen sie über viel Einfluß und Geld.

Auch der Spiegel läßt sich in einer Titelgeschichte »Feldzug der Moralisten«2 hämisch über Betroffene aus. Er bläst in das Hörn der Ignoranten, spricht von »vermeintlichen Opfern« und bezeichnet unliebsame Rufer in der Wüste als »Gutmenschen« mit »moralistischem Größenwahn«. Was sich da breitmache, sei eine »psychogene Massenreaktion«, zitiert der Spiegel den Münchner Toxikologen Thomas Zilker vom Klinikum Rechts der Isar. In dem Artikel ist weiter die Rede von »Hysterie«, »Neurosen« und »Depressionen«, die das Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Erlangen in einer Studie als Ursache für Kopfschmerzen und Allergien festgestellt haben will. Nur waren die wenigen angewendeten klinischen Tests, mit denen die Gifte diagnostiziert werden sollten, völlig unzureichend. Hätten die Wissenschaftler (zwei Arbeitsmediziner, ein Psychologe, ein Psychosomatiker und ein Psychiater) u. a. Wohnung oder Arbeitsplatz auf Gifte untersucht und entsprechend den Ergebnissen die Blutuntersuchungen durchgeführt, wären sie sicher zu einem völlig anderen Ergebnis gekommen. Allerdings wäre ein solches sogenanntes Umweltmonitoring (Analyse von Schadstoffen in der Umwelt) vermutlich auf den Widerstand der Arbeitgeber der Betroffenen gestoßen, die in der Regel nicht gern verraten, mit welchen Schadstoffen Arbeitsplätze belastet sind. Blut- und Urinuntersuchungen auf ein paar zufällige Gifte heißt, eine Stecknadel in einem Heuhaufen zu suchen. Im übrigen sind viele Gifte weder im Blut noch im Urin, sondern nur in den Organen und im Fettgewebe nachweisbar. So verrät diese Studie allenfalls, daß es kaum Tests gibt, Umweltgifte nachzuweisen. Gerne hätte man auch gewußt, weshalb der Verfasser der Studie von vornherein die Fragestellung schwerpunktmäßig auf psychologische Probleme lenktef. Auf den ca. 25 Seiten des Leitartikels findet sich im übrigen kein einziges plausibles Beispiel, das die These von den »Ökochondern« belegt.

Zudem stellt sich die Frage, weshalb der Spiegel zu dieser wichtigen Sache ein Institut (ohne es ausdrücklich zu nennen) zitiert, dessen Leiter, Professor Dr. Gerhard Lehnert, er an anderer Stelle scharf kritisiert hat.3 Dort schreibt er unter anderem: »Das Hamburger Sozialgericht bescheinigte dem Gutachter (gemeint ist Lehnert, die Hrsg.) 1989 in einem Prozeß, den die Witwe eines durch Dioxin vergifteten Boeringer-Arbeiters gegen die Chemie-Berufsgenossenschaft angestrengt hatte, >eine Interessengebundenheit<. Lehnert hatte die Beschwerden des von Chlorakne, Speiseröhrenkrebs, Muskelschwäche, Nervenleiden und Gehirnschwund gezeichneten Mannes nach Aktenlage als >alters- bzw. gefäßsklerosebedingt< beurteilt.« Lehnert, der mit der Holzschutzmittelfirma Desowag einen Beratervertrag habe, sei bekannt für seine Industriefreundlichkeit ... Man muß kein Nobelpreisträger sein, um zu erkennen, daß die oben zitierte Studie ganz auf der Linie seines Instituts liegt. Das sah auch der Verfasser, der Arbeitsmediziner Thomas Kraus, so. Er widmete einen Sonderdruck der Studie seinem Chef zum 65. Geburtstag.

Unterstützt wird diese Sichtweise, die alles auf die Psyche reduzieren will, durch plausibel klingende Theorien, denen zufolge jedem körperlichen Leiden ein seelischer Konflikt zugrunde liegt. Danach führen verdrängte Wünsche und unbefriedigte Bedürfnisse - so meinen etliche Psychosomatiker und Psychiater - zu Symptomen wie Migräne, Bluthochdruck, Bauchschmerzen, Krebs usw. Besonders geeignet, diese Theorie zu stützen, sind Krankheiten, deren Ursache unklar ist und die zunächst mit herkömmlichen naturwissenschaftlichen Methoden nicht nachzuweisen sind. Man denke zum Beispiel daran, wie lange Magenschleimhautentzündung fast immer als psychisch bedingt angesehen wurde. Die Aufwertung des Psychischen in unserer Zeit mag sicher berechtigt sein. Das sollte jedoch nicht dazu mißbraucht werden, Umweltsünden wegzudiskutieren.

Nebelkerzen inmitten der Naturwissenschaft

Wie sich beispielsweise nach dieser Neurosethese die Zunahme von Allergien oder der Neurodermitis bei Neugeborenen erklären läßt, ist höchst fraglich. Soll man vielleicht davon ausgehen, daß Mütter ihre Babys bereits im Mutterleib telepathisch mit ihren Ängsten psychogen indoktrinieren? Ein anderes Beispiel bringt der Mainzer Medizinstatistiker Jörg Michaelis. Der Wissenschaftler verbreitete allen Ernstes, daß eine »Radio-phobie«, sprich eine eingebildete Angst vor radioaktiven Strahlen, zu Leukämie führen kann. Er will nämlich eine erhöhte Leukämierate dort beobachtet haben, wo ein Kernkraftwerk erst in der Planung war.4

Auch wenn es an den Haaren herbeigezogen ist: Immer wieder taucht in Gutachten über Vergiftungsfälle die Beurteilung »demonstrative Symptomatik infolge konversionsneurotischer Fehlentwicklung« auf.5 Es sei hier unbestritten, daß es in Ausnahmefällen auch psychogen bedingte Allergien gibt. Um solche Fälle geht es in diesem Buch nicht. Manche Patienten haben jedoch neben einer psychischen Krankheit auch noch eine Allergie. Vor allem aber gibt es viele Menschen, die vergiftet sind und, aus der unerträglichen Situation ihrer Krankheit heraus, »schwierig« werden.

Irreversible Nervenschäden

Nachgewiesen ist darüber hinaus, daß Chemikalien und Schwermetalle beim Menschen irreversible Nervenschäden bewirken können. Wenn man den Versuchen des Wissenschaftlers Helmuth Müller-Mohnssen und seines Mitarbeiters Armin Tippe das ihnen gebührende Gewicht beigemessen hätte, wäre mindestens den heute Pyrethroidgeschädigten viel Leiden erspart geblieben (und den öffentlichen Kassen viel Geld). Schon im Mai 1984 wiesen die beiden Wissenschaftler in Experimenten an Wirbeltiernerven nach, daß diese durch Pyrethroid (ein angeblich »natürliches« Pestizid) irreversibel geschädigt werden.6 Darüber, welche Krankheitssymptome verschiedene Gifte anrichten und wo sie vorkommen, kann der Leser sich am Ende des Buches anhand der Tabelle von Klaus-Peter Böge und Mareke Wieben informieren.

Vergiftete, deren Psyche sich verändert, erkennen das in aller Regel. Sie können die Realität sehr wohl wahrnehmen und haben eine genaue Erinnerung daran, wie sie früher agiert und reagiert haben. Wie schlimm es für manch einen Umweltkranken ist, zu merken, wenn der Kopf nicht mehr das tut, was er soll, nicht mehr das leistet, was er früher geleistet hat, das kann leider nur der Betroffene selbst ermessen. Viele schämen sich deswegen und versuchen ihren Zustand zu verheimlichen. Das Erlebte ist kaum kommunizierbar. Wer vermag das schon nachzuvollziehen?

Die meisten toxisch Geschädigten entwickeln eine Multiple Chemical Sensibility (MGS), das bedeutet: eine vielfache Sensibilität auf Chemikalien aller Art. Wenn überall etwas ist, das krank macht, kommt leicht das Gefühl auf, daß man in dieser Gesellschaft unerwünscht ist, daß man kein Recht hat, zu leben, oder daß einem die Lebensqualität abgesprochen werden soll. Die allgegenwärtige, unsichtbare Bedrohung durch allergieauslösende Chemikalien verdichtet sich zu einer großen exi-stentiellen Angst. Nicht unberechtigt: Es gibt inzwischen zu viele Leichen am Weg.

Ratsuchende sind verzweifelt, oft mißtrauisch, enttäuscht, vielleicht sogar aggressiv - was verständlich ist, wenn man bedenkt, welche Odyssee von Arzt zu Arzt sie oft hinter sich haben. Ihr Anliegen können sie dem Arzt gegenüber oft nicht in der erwarteten Gelassenheit äußern. Wenn dieser keine ausreichende Empathie, das heißt, nur ein unzulängliches Einfühlungsvermögen hat, wird er die Gefühlsausbrüche schnell als psychopathische Symptome werten.

Die Psychiatriefalle

Aus solcher Situation allerdings dann noch den Schluß zu ziehen, daß Allergien und Vergiftungssymptome letztlich auf Hysterie und Neurosen beruhen, und flugs lediglich eine »Paranoia« (Verfolgungswahn) zu konstruieren, entbehrt jeder seriösen wissenschaftlichen Basis und Erfahrung. Hier werden Ursache und Wirkung vertauscht. Ganz schlaue Experten sprechen gar von einer »toxikopen« Psychopathie, soll heißen, einer ein-gebildeten Vergiftung. Und das, obgleich es - wie aus umfangreicher internationaler Literatur bekannt - inzwischen eine große Zahl von Giftgeschädigten gibt, die die gleichen Symptome haben.

Sicher, der Arzt hat es auch nicht leicht. Dem Patienten ist meist äußerlich nichts anzusehen. Wie will er ihn von einem eingebildeten Kranken unterscheiden? So mancher hat keine Erfahrung mit Umweltkrankheiten und weiß über die einschlägige Diagnostik wenig Bescheid. In Unkenntnis werden selbst solche Patienten, die sich völlig adäquat verhalten, als Psychopathen deklariert, mit Psychopharmaka abgespeist und voreilig in die Psychiatrie überwiesen. So wird ein Patient, der verständlicherweise ohnehin am Ende seiner Kräfte ist, auch noch tief in seinem Selbstwertgefühl gekränkt.

Neurotische Halbgötter in Weiß?

Die Ignoranz vieler Ärzte, mit der sie Allergikern und Vergifteten gegenübertreten, ist auffällig. Etliche lassen sich in Gegenwart der Patienten sehr abfällig über andersdenkende Kollegen aus. Können sie ihre Hilflosigkeit oder Inkompetenz nicht verkraften? Oder handelt es sich um Verdrängungsversuche, frei nach Christian Morgenstern: »Und also schließt er messerscharf, daß nicht sein kann, was nicht sein darf«? Oder liegen dem Bedürfnis, solche Patienten in eine Psychiatrie zu überweisen, vielleicht neurotische Ängste und Machtbedürfnisse zugrunde? Oder führt die Angst, selbst davon befallen zu werden, dazu, daß Ärzte die Symptome nicht zur Kenntnis nehmen wollen? Unerträglich wird es, wenn ein Arzt - und sei es aus schierer Hilflosigkeit heraus - seine Position dazu ausnützt, den Patienten einfach abzuschieben.

Wenn der schiffbrüchige Robinson Crusoe seinem Freund, dem Eingeborenen Freitag, vom Schnee berichtet hätte, würde der vermutlich wohl nur ungläubig gestaunt haben. Das wäre verständlich. Doch wenn ein Berliner Neurologe in einer Konferenz vor den versammelten Koryphäen der deutschen Arbeitsmedizin und Toxikologie behauptet, daß es keine Schädigungen durch das Insektizid Pyrethroid gibt, ist das ein unverzeihliches Wissensdefizit, das ihn als Facharzt disqualifiziert. Geradezu unglaublich mutet es an, wenn solch ein Arzt dann auch noch Weiterbildungskurse anbietet oder darüber Vorlesungen in der Universität abhält.

Eine neue Rassenhygiene?

Die Arzt-Patient-Beziehung ist nicht nur deshalb schwierig, weil Ärzte eine ihnen unbekannte Krankheit nicht wahrhaben wollen und sich deshalb entsprechend ablehnend verhalten. Manche sehen sich auch gern als Vertreter des Fortschritts der Menschheit und fühlen sich als Verfechter einer modernen Schulmedizin - wie Harald Theml in seinem Beitrag beschreibt - zur Treue gegenüber der Chemie verpflichtet. Sie meinen deshalb, ein gewisses Risiko für Gesundheit und Leben müßte hingenommen werden, wenn der Nutzen das rechtfertigt. Einmal abgesehen davon, wer hier den Nutzen hat und wer bestimmt, was das für ein Nutzen ist - wer mag schon als Patient zu einem Arzt gehen, der ihn im Hinterkopf gleichsam als Opfer der Zivilisation akzeptiert?

Läßt sich etwa das Wohl des einen Menschen gegen das Leiden eines anderen aufrechnen? Nein, eine solche Güterabwägung kann es nicht geben, diese mehr oder weniger bewußte Unterscheidung zwischen Individuen, die ein Recht auf ein lebenswertes Leben haben, und denen, die das nicht haben, weil sie vielleicht anfälliger sind, ist nicht zu vertreten.

Ansätze für andere, menschen- und naturfreundliche Lösungen finden sich in unserer reichen Gesellschaft überall. In Wirtschaft und Politik hat eine solche Güterabwägung daher nichts zu suchen. Erst recht nicht in einer Arztpraxis, selbst wenn der Arzt von sich meint, einer Elite in unserer Gesellschaft anzugehören und ein System schützen zu müssen, das den Vorrang des Starken vor den Schwächeren zu seiner Ideologie erklärt hat.

Auch wohlmeinende, dem einzelnen Patienten zugewandte Ärzte können ihr Fachwissen häufig nicht anwenden und mitunter keine eindeutige Diagnose stellen. Noch schwieriger ist es mit der Therapie. Selbst Ärzte, die sich in Umweltmedizin haben weiterbilden lassen, können oft nicht helfen. Das ist um so schlimmer für den Betroffenen, je schlechter es ihm geht. Alle nur möglichen Untersuchungen und Tests werden gemacht, Therapien ausprobiert, Kuren durchgeführt. Die Patienten aber können nicht begreifen, daß man ihnen womöglich einfach gar nicht helfen kann.

Die ganze Situation rechnet sich mancher Arzt leicht als Mißerfolg zu. Er will nicht aus seiner Rolle als kompetenter Helfer aussteigen und will sich keine Blöße geben. Für ihn ist es auch nicht einfach, mit den existentiellen Ängsten der Patienten umzugehen. Ein Schritt zur Verbesserung der Beziehung wäre es, wenn der behandelnde Arzt auch bereit ist, vom Patienten zu lernen.

Unerfüllbare Erwartungen der Geschädigten

Es gibt allerdings auch Patienten, die mit ihrer Krankheit nicht fertig werden und das an ihrem Arzt auslassen. Sie stellen ihn auf ein Podest und erwarten, was niemand leisten kann. Werden ihre Erwartungen nicht erfüllt, werden sie aggressiv. Einige Arzte, die sich in der Umweltmedizin engagieren wollten, haben deshalb das Handtuch geworfen. Die Patienten sollten bedenken, daß Ärzte oft nicht nur den Angriffen enttäuschter Kranker ausgeliefert sind, sondern gleichzeitig auch von Berufsgenossenschaften oder Krankenkassen bedrängt werden, die ihre Diagnosen in Frage stellen und die Leistungen nicht zahlen wollen.Ein anderes Problem besteht darin, daß es sich schnell herumspricht, welche Ärzte sich in der Umweltmedizin engagieren und auf Seiten der Patienten stehen. Deren Praxen sind so überlaufen, daß sie dem Ansturm nicht mehr gewachsen sind. Mancher Arzt beginnt morgens um sechs und zieht erst abends um 22 Uhr seinen Kittel wieder aus.

Vorhersagbare Ergebnisse

Gutachten, die die Berufsgenossenschaften zur Beurteilung von Intoxikationen in Auftrag geben, haben nur zu oft das gleiche vorhersagbare Ergebnis: Alle Ansprüche der Betroffenen werden in der überwiegenden Zahl der Fälle abgeschmettert. Man muß kein Hellseher sein, um die Gründe dafür zu erkennen. Auch wenn die Anträge auf Berufsunfähigkeit oder Frührente kreuz und quer durch die Bürokratie komplizierte Wege gehen und es oft Jahrzehnte dauert, bis ein gültiger Bescheid vorliegt, scheint jeweils vorher festzustehen, was dabei herauskommt. Einige der gängigsten Begründungen, bei denen umweltbedingte gesundheitliche Störungen und entsprechende neurotoxische Schäden nicht als solche anerkannt werden, lauten wie folgt (siehe auch den Beitrag von Peter Binz).

  • Es handelt sich um keine Vergiftung, sondern eine Konversionsneurose, das heißt, die körperlichen Symptome sind aufgrund der Neurose entstanden.
  • Der Arbeitnehmer hätte den Arbeitsplatz verlassen müssen, bevor er schwer krank geworden sei.
  • Der Betroffene sei erst krank geworden, nachdem er seinen Arbeitsplatz verlassen habe
  • Die Krankheit sei erblich bedingt oder in der Kindheit erworben, zum Beispiel durch einen Unfall oder durch Erkrankungen.
  • Der Betroffene sei bereits vorher vergiftet gewesen.
  • Der neueste Trend: Eine Chemikalien-Überempfindlichkeit, die vielfache Krankheitssymptome hervorruft (MGS), werde bei dem Vergifteten zwar anerkannt, sie sei aber auf dessen individuelle körperliche Disposition zurückzuführen. Die Mehrheit der Allgemeinbevölkerung sei davon nicht betroffen. (Daß das nicht stimmt, wurde in einer Asthma- und Allergiestudie des GSF-Instituts für Epidemiologie, Neuherberg, festgestellt.7

Bei Begutachtung und Untersuchung des Antragstellers wird gerne in jedem einzelnen Punkt so lange ermittelt, bis das Haar in der Suppe gefunden ist. Eine Berufsunfähigkeitsrente wurde 1993 nur in sieben Prozent der Fälle zuerkannt.

Die Aggressivität der Opfer ist verständlich. Ihr Leiden ist nicht schicksalsbedingt, sondern menschengemacht. Und dann haben sie es mit Arbeitsmedizinern zu tun, die meist - ohne praktische Erfahrung und ohne sie gesehen zu haben - ihre Diagnosen nach Aktenlage erstellen. Andere verfassen Expertisen, die nicht ihrem Spezialgebiet entsprechen. Aber selbst, wenn sie vom Fach sind, zeigen sich manche Ärzte erstaunlich ahnungslos.

Den Betroffenen wird, obwohl sie ein Recht darauf haben, oft keine Einsicht in ihre Akten gewährt. Gegen derartige Gutachten anzugehen ist nervenaufreibend, kompliziert und hat wenig Aussicht auf Erfolg.

Doch auch nicht jeder Vertreter der Berufsgenossenschaften ist mit dem jetzigen Berufsunfähigkeitsverfahren glücklich. Das Verfahren gilt als zu langwierig und aufwendig. Kritik wird auch an den Experten laut, weil sie die Gutachten viele Monate und länger herumliegen lassen. An die Politiker ergeht die Forderung, sie sollten sich eindeutiger ausdrücken und die Verordnungen im Sozialgesetzbuch so fassen, daß jeder weiß, woran er ist. Solange das allerdings nicht geklärt ist, müssen die Versicherungen, Berufsgenossenschaften usw. für den Schaden geradestehen. Die Betroffenen brauchen Geld zum Leben, und zwar mehr als der Durchschnittsbürger. Schließlich wollen sie alles für ihre Gesundheit tun, was noch möglich ist. Oft geben Betroffene ihr letztes Geld für Heilbehandlungen aus, die nicht von der Kasse übernommen werden. Solange es keine andere Lösung gibt, müssen die Berufsgenossenschaften darum für die Schäden am Arbeitsplatz aufkommen.

Goldesel Versicherungsnehmer

Obgleich das Geld knapp ist, denken die Versicherungen in der Regel nur im Zusammenhang mit Autounfällen daran, sich von den Verursachern das Geld zurückzuholen. An Hersteller von Schadstoffen treten sie nicht heran, selbst in Fällen, wo Zusammenhänge zwischen dem Kontakt mit dem Schadstoff und der Krankheit erwiesen sind. Statt dessen bedienen sie sich per Beitragserhöhung bequem aus den Taschen der Versicherungsnehmer.

Nicht nur ein bereits Erkrankter, auch ein Gesunder müßte bei begründetem Verdacht die Möglichkeit haben, vorsorglich seine Wohnung oder seinen Arbeitsplatz auf giftige Substanzen untersuchen zu lassen. In Düsseldorf testet die örtliche Innungskrankenkasse (IKK) in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt bei begründetem Verdacht die Wohnung aus. Das Geld für den »Gift-Check auf Rezept« ist gut investiert. Nach Aussage der IKK leiden bis zu 30 Prozent der Bevölkerung unter Auswirkungen von Innenraumgiften. Mit dem Test soll verhindert werden, daß aus akut Vergifteten teure Langzeitpatienten werden. Andere Versicherungen ziehen inzwischen nach. Hier müßten alle Versicherungen mitmachen - und sich selbstverständlich anschließend bei dem Schadensverursacher das Geld wieder holen. Eine Änderung wird unumgänglich sein, denn auf die Dauer werden die umfangreichen gesundheitlichen Schäden durch Intoxikationen für Versicherungen unbezahlbar werden.

Suche nach Schadensquellen

Wenn Patienten ihren gesundheitlichen Zustand verbessern wollen, müssen sie den größten Teil selbst dazu beisteuern, indem sie die Nahrungsgewohnheiten, die Wohn- und Arbeitsbedingungen umstellen. Das ist aus finanziellen Gründen oft kaum möglich und stößt auch sonst fast immer auf erhebliche Widerstände in der Familie, beim Vermieter oder Arbeitgeber. In einer verseuchten Wohnung ist es außerordentlich schwierig herauszufinden, wo die Schadensquelle ist. Sind es die Teppichböden, die Holzdielen, der Schrank, die Wandfarbe? Inzwischen gibt es verschiedene Umweltambulanzen, die eine Wohnung aus testen können. In schlimmen Fällen hilft nur die Entsorgung des kompletten Hausrats. Näheres erfährt der Leser in dem Kapitel »Tips für Geschädigte« von Volker Zapke. Werden neue Möbel, Teppiche, Kleidung angeschafft, muß erst umständlich recherchiert werden, ob darin nicht Gifte wie Permethrin, Deltamethrin, Lindan, Formaldehyd usw. enthalten sind. Qualitätssiegel sagen nicht immer etwas über Qualität aus. Wo Naturreinheit garantiert wird, liegt der Preis hoch. Zu der Belastung in Innenräumen kommt die Bedrohung von außen: Gärtnereien, Spenglereien, Industrieanlagen oder Müllverbrennungsanlagen - alles kann das Leben zur Qual werden lassen.

Tausend Umständlichkeiten — heißt das Lebensqualität?

Für viele Vergiftete ist der Speisezettel kurz. Oft leiden sie unter verschiedenen Lebensmittelallergien. Eine bestimmte Diät muß eingehalten werden. Beim täglichen Einkauf muß darauf geachtet werden, was im Brot, im Saft, in tiefgefrorenem Fleisch, Gemüse usw. enthalten ist. Nicht nur pestizidbehandeltes Gemüse oder Obst muß gemieden werden, auch Lebensmittelzusätze wie Geschmacksstoffe, künstliche Färbemittel und Konservierungsstoffe. Trinkwasser ist heute ein verdünnter Chemiecocktail von Chlordioxid, Ozon, Chloroform, Pflanzengiften usw. So können aus Lebensmitteln allmählich und schleichend Tötungsmittel werden. Man denke daran, daß die griechische Kultur womöglich an Bleivergiftung zugrunde gegangen ist.

Einladungen anzunehmen, auf Feste zu gehen, soweit in diesem Zustand möglich, ist ebenfalls ein Risiko. Wie reagieren wohl Gastgeber auf die Frage, was in der Mayonnaise ist oder ob die Holzdecke mit Insektiziden behandelt wurde? Aber es sind nicht nur die Zusätze in Nahrungsmitteln. Allergische Reaktionen entwickeln viele chronisch Vergiftete ebenso auf »natürliche« Nahrungsmittel wie Obst, Milch oder Fett. Wenn Magen und Darm über längere Zeit zum Beispiel fungizidbehandelte Äpfel verdauen müssen und eine Allergie auf Pilzgifte besteht, kann der Körper nach einiger Zeit zwischen dem Nahrungsmittel und dem allergieauslösenden Gift nicht mehr unterscheiden und wehrt sich gegen beides.

Besuche bei Bekannten und Freunden, die rauchen oder in belasteten Wohnungen wohnen, müssen je nach gesundheitlicher Disposition ausfallen. Viele Kranke ziehen sich aus ihrem Bekanntenkreis vollständig zurück. Manche schämen sich ihrer Krankheitssymptome wie übermäßiges Zittern, Schweißausbrüche oder Konzentrationsstörungen und trauen sich nicht mehr aus dem Haus. Es gibt Geschädigte, die nur mit Atemmaske in die Stadt gehen oder kein Kaufhaus mehr betreten können.

Reisen birgt ebenfalls Risiken. Wer weiß, ob nicht das Hotelzimmer - wie vielerorts üblich - mit Insektengiften ausgesprüht wurde? Spaziergänge führen womöglich durch frisch gespritzte Felder. Ein Umzug kann zum Horrorerlebnis werden. Woher im voraus wissen, ob die neue Wohnung und der neue Arbeitsplatz belastet sind? Soll man alles erst testen lassen?

Wenn ein Vergifteter zusätzlich eine Infektion bekommt, hat er schlechte Karten. Viele MCS-Kranke sind gegen zahlreiche Medikamente allergisch. Sie vertragen kaum etwas von dem, was die Pharmaindustrie an Arzneimitteln anzubieten hat. Diese können Hautausschläge verursachen, Sehstörungen bewirken, sich auf Kreislauf und Herz schlagen oder Entzündungen an den Organen hervorrufen, Völlig unnötigerweise enthalten viele Medikamente Geschmacks- und Farbstoffe, werden Cremes künstliche Duftstoffe zugesetzt, die von Allergikern und Vergifteten nicht vertragen werden. Bis das richtige Medikament gefunden ist, vergeht wertvolle Zeit.

Vergiftete brauchen Anwälte

Manche Betroffene müssen Wohnung und Arbeit aufgeben. Oft brechen die Familien auseinander. Die Kranken fallen durch das soziale Netz und enden in Hilflosigkeit, Verzweiflung und Desorientierung. Zu einer unheiligen Allianz schließen sich Politiker und Wissenschaftler, Arbeitsmediziner, Toxikologen, schadstoffproduzierende Unternehmen, Versicherungen und in ihrem Fahrwasser auch Behörden gegen die Vergifteten zusammen. Auch wenn hier keiner Verschwörungstheorie das Wort geredet werden soll: Im Ergebnis wirken alle diese Kräfte gegen den Kranken. In öffentlichen Sitzungen, Vorträgen und Diskussionen geben oft Vertreter der Industrie den Ton an, die jeden Vorhalt geschickt parieren, plötzlich über angebliche Wohltaten ihres Produktes in der Dritten Welt berichten oder belanglose Antworten geben, die alles und nichts sagen. Mitarbeiter der Berufsgenossenschaften verweisen meist darauf, daß nichts bewiesen und daher nichts daran zu ändern sei.

Ihre Konflikte können die Vergifteten nicht allein bewältigen. Sie brauchen Anwälte, die ihr Anliegen kompetent in der Öffentlichkeit vertreten. In den letzten Jahren schießen Selbsthilfegruppen wie Pilze aus dem Boden. Einige haben sich etabliert, viele lösen sich kurz nach der Gründung wieder auf. Doch immer wieder entstehen neue. Der Bedarf ist da. Immer mehr Betroffene suchen dort den Rat und die Hilfe, die sie von staatlichen Stellen nicht bekommen.

Selbsthilfegruppen leisten teilweise hervorragende Arbeit. Die, die eine effektive Arbeit nachweisen können, müßten kommunal unterstützt werden. Sie entlasten die öffentlichen Kassen und sparen den Versicherungen durch ihre Beratung viel Geld. Um ein wirkungsvolles Gegengewicht zu bilden, das auch politisch nicht über-gangen werden kann, müßte allerdings ein größerer Zusammenhalt unter den Gruppen entstehen.

Trotz des Unrechts, das ihnen angetan worden ist: Das Wichtigste für die Betroffenen ist, sich um die eigene Gesundheit zu sorgen. Nur Wut auf die Industrie und politisches Engagement in eigener Sache machen niemanden gesund. Manche Therapien können das Leben erleichtern. Für den Erkrankten steht an erster Stelle: sich den richtigen Arzt zu suchen und gegebenenfalls das richtige Krankenhaus, das sich auf ihre Symptome spezialisiert hat und ökologisch eingestellt ist.

Was sich ändern muß

Natürlich muß die Vermeidung von Giftstoffen bei Produkten, ihrer Behandlung und Herstellung im Vordergrund stehen. Die wissenschaftlichen Kriterien für Studien auf dem Gebiet der Umweltmedizin müssen angehoben werden. Es muß bei begründetem Verdacht auf Schadstoffe am Arbeitsplatz ein Arbeitsverweigerungs-recht geben. Der Unternehmer muß eine volle Produkthaftung übernehmen. Die Beweislast muß beim Verursacher liegen und nicht beim Geschädigten. In Japan beispielsweise gibt es vorläufig - bis eine bessere Lösung gefunden ist - einen Fonds, in den jeder Unternehmer, der mit Schadstoffen irgendeiner Art zu tun hat, Beiträge zahlen muß, um für eventuelle spätere Schäden aufzukommen

Ein Wort zu diesem Buch:

Es gibt in jeder Berufsgruppe schwarze Schafe, und um die geht es hier. Es geht um bestimmte Ärzte, nicht um alle Ärzte. Es geht um bestimmte Gutachter, nicht um alle Gutachter. Es geht um eine bedenkliche Tendenz von Berufsgenossenschaften, Ansprüche von Geschädigten möglichst abzuweisen, nicht um alle Mitarbeiter der Berufsgenossenschaften. Vor allem aber geht es darum, die Opfer unserer vergifteten Gesellschaft selbst zu Wort kommen zu lassen und ihre Leiden endlich ernst zu nehmen. Nur wenn wir vor den Schäden unserer industriellen Lebensweise nicht länger die Augen verschließen, können Wege zu menschenfreundlichen Produktions-, Arbeits- und Lebensverhältnissen gefunden werden. Dazu ist es unabdingbar, ein Klima offener Auseinandersetzung zu schaffen, in dem auch die vielen kritischen Stimmen aus Berufsgenossenschaften, Unternehmen, Medizin und Wissenschaft sich offen äußern können, statt — aus Furcht um ihre Stellung — nur hinter vorgehaltener Hand. Verschwörungstheorien auf der einen Seite und Ökochondergesäusel und Besserwisserei auf der anderen Seite schaffen die Konflikte nicht aus der Welt. Auch totschweigen hilft nicht weiter. Sich den Problemen stellen und umdenken muß das Ziel sein. Schließlich kann schon morgen jeder selbst betroffen sein. An dieser Stelle möchte ich mich bei den vielen Einzelkämpfern, den Selbsthilfegruppen, den Ärzten und Wissenschaftlern bedanken, die mich mit Informationen und Adressen versorgt haben und ohne die das Buch in dieser Form nicht zustande gekommen wäre.

Anmerkungen

Wer gute Erfahrungen mit Entgiftungs- und anderen Therapien gemacht hat, möge bitte der Herausgeberin schreiben: Knaur Verlag, Rauchstr. 9-11, 81679 München.Gefälligkeitsgutachten sammelt Professor Otmar Wassermann, Toxikologisches Institut der Universität Kiel, Brunswiker Str. 10, 24103 Kiel.

1.) Auch die ganze Diskussion über die angebliche Naturidentität von synthetischen Stoffen gehört hierher. Immer noch lassen sich Leute täuschen, wenn ihnen der Kammerjäger mit Gasmaske beteuert, er würde »bloß« den Naturstoff der Chrysantheme verwenden, um Käfer oder Ameisen aus dem Haus zu vertreiben. Abgesehen davon: In der Natur gibt es viele Gifte. Niemand würde z. B. auf die Idee kommen, das Gift der Tollkirsche oder getrocknete Beeren der Eibe als Würzmittel anzubieten.

2.) Spiegel, 39/1995, S. 34 ff.

3.) Spiegel 4/1993,8.48

4.) Antje Bultmann, Friedemann Schmithals, Käufliche Wissenschaft, München 1993 S. 126 ff.

5.) Helmuth Müller-Mohnssen, Hansjürgen Daheim: »Der Wertewandel im Arztberuf am Beispiel der Insektizid-Intoxikation«, in: W. Bödeker, Chr. Dümmler: Pestizide und Gesundheit, Karlsruhe, 2. Aufl. 1993

6.) Drei Gruppen solcher Biozide beherrschen den Markt. Die akut giftigsten sind die Organophosphate (z. B. E 605, Chlorpyrifos, Sarin; wegen des Wirkungsmechanismus hinzuzurechnen sind die Carbamate), es folgen die Pyre-throide (z. B. Deltamethrin, Permethrin) und an dritter Stelle die Organochlorverbindungen (z. B. Lindan, PCP).

7.) In der zitierten Studie heißt es, daß 33 Prozent der neun-bis elfjährigen Kinder in München an Heuschnupfen, Neurodermitis oder Asthma bronchiale leiden. Werden Kinder dazugerechnet, die auf Allergietests positiv reagieren, sind es insgesamt 48 Prozent, die überempfindlich sind, so die Studie. Von einer verschwindenden Minderheit kann also keine Rede sein.

 

I Gift am Arbeitsplatz

Martin Hofmann

Ein gelähmter Arbeiter und seine Gutachter

»Das einzige, was nie bestritten wurde,
ist die Tatsache, daß er krank ist.«


Der Gutachter ist sich sicher: »Aufgrund toxikologischer Überlegungen ist es ganz unwahrscheinlich, daß diese Substanzen selbst in hohen Konzentrationen in der Lage sind, chronische neurologische Schäden hervorzurufen.« Doch worauf beruht diese Gewißheit? Fünf Jahre zuvor schloß derselbe Autor »selbstverständlich nicht aus«, daß Schäden »trotzdem existieren oder ... aufgrund besonders unglücklicher Umstände ... aufgetreten sind«. Hat die Forschung inzwischen neue Erkenntnisse gewonnen? Es werden keine genannt. Oder hat der Mediziner zunächst vorschnell geurteilt? Die erste Feststellung steht in einem »wissenschaftlichen Gutachten« für die Berufsgenossenschaft Feinmechanik und Elektrotechnik aus dem Jahre 1992. Die zweite stammt aus einem Schreiben an den behandelnden Hausarzt von 1987. Verfasser der Sätze: Professor Hans Konietzko, Leiter des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.

Doch Beckmesserei soll mit den Einlassungen nicht betrieben werden. Auch ein angesehener Mediziner darf sich widersprechen und muß sich nicht an jeden niedergeschriebenen Satz erinnern, wenn er den gleichen Sachverhalt noch einmal bewertet. In dem Brief an den praktischen Arzt macht der Mediziner überdies auch darauf aufmerksam, daß die Chemikalie Frigen »bisher keine neurologischen Schäden« verursacht habe. Allerdings steckt die Leidensgeschichte des Albert G. (Name auf Wunsch der Familie geändert) zu sehr voller Widersprüche, Merkwürdigkeiten und Gegensätze, als daß Allzumenschliches sie erklären könnte. Dennoch haben sich der halbseitig gelähmte Mann, seine durchaus lebensbejahende Frau und die zwei inzwischen erwachsenen Kinder mit ihrem Schicksal fast vollständig abgefunden. Denn Nachforschungen, um die Hintergründe aufzudecken, verlaufen seit Jahren im Sand: Auf Unterlagen läßt sich nicht zurückgreifen, wichtige Papiere sind anscheinend verschwunden. Hat sie eine interessierte Seite aufgekauft, wie das Ehepaar mutmaßt? Beweisen läßt sich das nicht. Hinweise, daß die Vorfälle verschleiert wurden, finden sich aber genug.

Mühsam, fast zentimeterweise schleppt sich der Mann aus der Wohnstube über den Flur. Voll konzentriert schiebt er sich an der Wand entlang, mit einer Hand hält er sich aufrecht. Schleifend zieht er das linke Bein nach. Seit fast 20 Jahren quält sich der gelernte Maschinenschlosser durch seine Dreizimmerwohnung. »Das einzige, was nie bestritten wurde, ist die Tatsache, daß er krank ist«, sagt Hilde G. Ihre Stimme klingt nicht bitter, eher nüchtern und traurig. »Von Anfang an war auch klar, daß man an der Lähmung nichts mehr ändern kann«, begegnet die Frau rasch der Vorstellung, es könne noch Hoffnung auf Heilung geben. Das Ehepaar würde sein Los auch mit Fassung tragen. Doch die ärztliche Diagnose läßt das kaum zu. Multiple Sklerose (MS) - »mit hoher Wahrscheinlichkeit« - lautet der Befund. Doch kann das sein? Nicht nur der Krankheitsverlauf läßt den geistig wachen Patienten und seine Angehörigen an diesem Urteil zweifeln. Sein Zustand hat sich in zwei Jahrzehnten nicht merklich verändert. Auch Erkrankungsschübe treten nicht auf, wie sie für rund 80 Prozent der MS-Opfer typisch sind. Gehört er eben zu dem übrigen Fünftel, dem diese Schmerzen erspart bleiben? Die Vorgeschichte zu seinem Leiden legt andere Schlüsse nahe.

Achtzehn Jahre lang funktionierte Albert G. als treuer und zuverlässiger Mitarbeiter der Firma Bauknecht. In der Reparaturabteilung des Calwer Herstellers von Haushaltsgeräten — das Unternehmen hat inzwischen zweimal den Besitzer gewechselt - behob er zusammen mit rund zehn Kollegen Defekte an Kühlgeräten. Die Beschäftigten trennten Kupferrohre der Gefrieraggregate auf, erhitzten die Lötstellen mit Schweißbrennern, um sie aufzuwuchten, und ließen die Kühlflüssigkeit ab. Danach fahndeten sie in dem feingliedrigen Röhrensystem nach undichten Stellen: Sie leiteten dazu Stickstoff ein, um Risse und Löcher aufzuspüren, ersetzten schadhafte Leitungen, löteten unter hohen Temperaturen (bis 800 Grad Celsius) die Schwachstellen zu, entfernten die Luft aus den Rohren, füllten die Kühlflüssigkeit wieder ein und verschlossen das Leitungssystem. Albert G. setzte täglich bis zu zehn Geräte instand. Die Chemikalien, mit denen ständig hantiert wurde, haben einen ungewöhnlichen Bekanntheitsgrad erlangt: Fluorchlorkohlenwasserstoffe (kurz: FCKW) zersetzen in einem komplizierten Prozeß den dreiatomigen Sauerstoff, das Ozon, im Oberhaus der Erdatmosphäre. Durch diesen Ozonabbau gelangen mehr harte ultraviolette Strahlen der Sonne auf die Oberfläche unseres Planeten, schädigen die menschliche Haut und hemmen das Wachstum von Tieren und Pflanzen.

Albert G. atmete das Kühlmittel - der Chemiekonzern Hoechst (Frankfurt a. M.) verkaufte es unter dem Handelsnamen Frigen - fast 20 Jahre lang an seinem Arbeitsplatz ein. Meist fünf Tage pro Woche. Seine Kollegen und er ließen das unbrennbare Gas aus mindestens zwei Dritteln der kaputten Kühlschränke frei in die Raumluft ab. Aus den übrigen Geräten war es schon zuvor in die Atmosphäre entwichen. Abgesaugt wurde die Chemikalie nicht. Lediglich ein Ventilator befand sich an einer Seitenwand der Werkstatt (das arbeitsmedizinische Gutachten spricht später von zweien). »Ständig herrschte in dem Raum ein beißend-stechender Geruch«, berichtet G. Durch das Ausblasen der Leitungen mit Stickstoff und Preßluft reicherte sich die Raumluft zusätzlich mit den Substanzen Frigen R 12 (Dichlordifluormethan) und R 22 (Monochlordifluormethan) an. Da die Lötflammen ständig brannten, dürften sich die beiden Stoffe auch in Chlor- und Fluorwasserstoff, Phosgen sowie elementares Chlor zersetzt haben. Nebenher trocknete G. häufig alte Gerätekapseln - 15 bis 20 Stück am Tag -, aus denen noch Frigen ausgaste. An Recycling dachte Bauknecht auch schon: Die Kupferleitungen wurden nach Reinigung in einem Tri-(Trichlorethen-) oder Per-(Perchlorethen-)Bad wieder verwendet. Auch diese Giftstoffe dürften sich in der Atemluft angereichert haben.

Was genau an Gasen und in welcher Zusammensetzung durch den Raum schwirrte, weiß niemand. Von Messungen des Unternehmens haben die Beschäftigten nie etwas gehört. Lediglich ein Sicherheitsdatenblatt der Firma Hoechst für die Chemikalie (Frigen) empfahl, das Einatmen der Dämpfe zu vermeiden und Arbeitsräume gezielt zu entlüften.

Die ersten Anzeichen von G.s Erkrankung reichen etwa ins Jahr 1967 zurück. Ausgedehnte Wanderungen des Schwarzwaldvereins konnte er nicht mehr so durchstehen wie gewohnt. »Ich spürte ein dumpfes Gefühl in den Beinen«, schildert er die Symptome. Diese Schwere in den Gliedmaßen nimmt in den folgenden Jahren zu. Gleichgewichtsstörungen treten auf. Auch der linke Arm fühlt sich schwer an, wird ungeschickt. Nach seinem Jahresurlaub 1975 sucht G. seinen Hausarzt auf. Dieser beruhigt ihn: »Das werden vorübergehende Streßerscheinungen sein.« Kurz vor seinem körperlichen Zusammenbruch konsultiert der Maschinenschlosser den Betriebsarzt. Dieser bescheinigt ihm nach der Untersuchung, er sei kerngesund. Kurze Zeit später ist der 41jährige gelähmt. Der örtliche Internist weist ihn stationär in die neurologische Universitätsklinik Tübingen ein. Er könne ihm nicht helfen. Sein Verdacht: Multiple Sklerose.

Rund fünf Jahre - mit Unterbrechungen - wird G. in Tübingen untersucht. »Es gibt kein Körperteil, das nicht getestet, durchleuchtet, abgetastet wurde«, weiß Frau G. Selbst die Entnahme von Gewebeproben kann das Rätsel, wodurch die Lähmung ausgelöst wurde, nach Auskunft des behandelnden Neurologen, Professor Johannes Hirschmann, nicht lösen. Auch ein Computertomogramm - gefertigt an der Uni Ulm - bringt keinen Aufschluß. Gegenüber Frau G. betont Hirschmann, die Ursachen der Erkrankung seien nicht zu finden, ein Beweis, daß der eingeatmete Chemiecocktail sie ausgelöst habe, könne nicht erbracht werden. Nach weiteren Experimenten erklärt ein Uni-Kliniker: »Wir können nichts tun.« Daraufhin kehrt der Patient nicht mehr in die Klinik zurück. Ihm ist klar, daß die Schulmedizin ihm nicht helfen kann.

Über Unterlagen der zahllosen Tests und Versuche verfügt die Familie damals nicht. Erst nachdem sie einen Rechtsanwalt einschaltet, erhält sie 1993 Einblick in einen Teil der Krankenakten, die jedoch nur spärlich Auskunft geben. An älteren Schriftstücken findet sich dort ein Befundbericht vom Februar 1980. Die Uni-Neurologen bestätigen darin: Ursache der Lähmung »dürfte am ehesten eine atypische Verlaufsform einer Enzephalomyelitis disseminata« (ausgebreitete Entzündung von Gehirn und Rückenmark) sein. Übersetzt heißt das: Multiple Sklerose. Da niemand exakt weiß, wie MS entsteht, wird diese Frage auch nicht beantwortet. Dafür war bereits 1975 in der Medizinischen Poliklinik der Uni Tübingen bei Herrn G. eine weitere Krankheit ungeklärter Ursache diagnostiziert worden: ein Morbus Boeck. Typisch für dieses Leiden sind ein Anschwellen der Lymphknoten, eine entzündete Regenbogenhaut des Auges und fleckige Verschattungen der Lungen. Diese Krankheit wurde mit der Höchstdosis Cortison bekämpft. Die Chemikalienbelastung am Arbeitsplatz wurde in dem Schreiben an den niedergelassenen Internisten im Heimatort des Patienten als mögliche Ursache nicht einmal erwähnt.

Vorsichtiger äußert sich Hans Konietzko, damals Privatdozent, zwei Tage vor dem Arztbrief in einem Bericht an seine Neurologen-Kollegen: »Ich glaube nicht, daß sein derzeitiges Leiden auf die Expositionsverhältnisse am Arbeitsplatz zurückzuführen ist, kann es aber auch nicht sicher ausschließen.« Da die Frigene »als völlig ungefährlich« gelten, hebt der Arbeitsmediziner auf die Zersetzungsprodukte ab. Am Institut solle im Laufe eines Monats »experimentell« geklärt werden, ob aus den FCKW nicht doch »sehr gefährliche neurotoxische Schadstoffe entstehen können«. Stutzig macht Konietzko, daß vier weitere Arbeitskollegen von G. Frühinvaliden sind und ein anderer bereits 1974 gestorben ist. Dem Betriebsarzt habe er aufgetragen, die Diagnosen und die Todesursache der Beschäftigten zu ermitteln. G. mußte - wohl um die Versuche realitätsnah ablaufen zu lassen - den Arbeitsmedizinern bis ins Detail schildern, wie der Arbeitsraum aussah, welche Apparate wo aufgestellt waren und wie der Arbeitsprozeß ablief. Zuvor war nach seiner Darstellung ein Versuch der Tübinger Ärzte gescheitert, die Reparaturwerkstatt bei Bauknecht in Augenschein zu nehmen. Die Firmenleitung habe sie abgewiesen, versichert G.

Über den Umgang der Mediziner mit ihm kann sich der halbseitig Gelähmte übrigens nicht beklagen. Im Gegenteil. »Wie in Watte gepackt« sei er sich vorgekommen. Prof. Hirschmann bemerkte gegenüber der Ehefrau zudem: Ihr Mann sei der einzige, der die zahlreichen medizinischen Untersuchungen psychisch durchstehe. Auch arbeitsrechtlich erledigt die Uni-Klinik alle Formalitäten für ihren Patienten. Rückwirkend zum 17. Mai 1976 wird er frühberentet. Den Schwerbehindertenausweis unterschreibt er am Krankenbett. Die Mediziner haben ihm das Formular besorgt. Mit einer Meldung als Berufskrankheit will Dr. Konietzko jedoch noch warten, wie er schriftlich vermerkt.

Was ist aus den Vorhaben und Recherchen des Arbeitsmediziners geworden? Was ergaben die Experimente? Das Ehepaar hört nichts mehr davon. Da er sich wie ein Versuchskaninchen vorkommt, bricht G. - wie schon erwähnt - den Uni-Klinik-Aufenthalt resigniert ab. Zunehmend beschleicht ihn das Gefühl, niemand wolle ernsthaft die Hintergründe, die zu seinem Leiden führten, ergründen. Seine frühere Abteilung bei Bauknecht ist laut Beschäftigtenliste spätestens 1978 geschlossen worden. Frühere Kollegen berichten, daß nach G.s Erkrankung und vor Schließung der Werkstatt Herren des Hoechst-Konzerns im Calwer Werk ein und aus gingen. Belege dafür gibt es jedoch nicht.

Erstmals Zweifel an der Tübinger Diagnose - »am ehesten ist es MS« - meldet der Nervenarzt Dr. Brinkmann an. Er untersucht G. 1982 im Auftrag der Landesversicherungsanstalt (LVA) Baden, um ein Rentenkontrollgutachten zu erstellen. Den Nachweis eines Befalls der Hirnnerven sieht der Mediziner allein durch die elektrophysiologische Untersuchungsmethode der Uni-Nervenklinik als nicht erbracht an. »Die chronische Schadstoffexposition dürfte« als Auslöser für die schwere neurologische Störung des Patienten wahrscheinlicher sein, urteilt er. Als weiteren Anhaltspunkt führt Brinkmann den vollkommen gleichbleibenden Verlauf der Erkrankung an, räumt jedoch ein, daß dies auch bei MS möglich sei. (1988 teilt die LVA mit, dieses Gutachten könne sie dem Patienten nicht zusenden. Kurz darauf befindet es sich aber doch in seiner Rentenakte.)

Nach einem von Brinkmann befürworteten Kuraufenthalt G.s in der Psychosomatischen Klinik Schloß Waldleiningen (Odenwald) empfehlen im Sommer 1983 auch die dort behandelnden Ärzte, der Frage einer berufsbedingten Schädigung von Rückenmark und Gehirn nachzugehen. Das Entstehen der Lähmung halten sie für nicht geklärt, MS nur für eine Verdachtsdiagnose. Drei Jahre später erwähnen die Mediziner nach einem weiteren Aufenthalt des Patienten, daß Untersuchungen auf MS nach wie vor ohne faßbares Ergebnis geblieben seien. Außerhalb seiner vier Wände sei G. inzwischen ausschließlich auf den Rollstuhl angewiesen.

Nun nimmt sich G.s neuer Hausarzt, Dr. Thomas Allmendinger, seiner Sache an. Er wendet sich an Prof. Konietzko sowie an den Arbeitsmedizinischen Dienst der Berufsgenossenschaften in Pforzheim. Ersterer, inzwischen Leiter des Instituts für Arbeitsmedizin der Universität Mainz, bittet Allmendinger Mitte Mai 1987, das Leiden als Berufskrankheit zu melden, obwohl er keine großen Chancen für eine Anerkennung sehe. Denn: Neurologische Schäden durch Frigene seien bislang noch nicht beobachtet worden. Sie könnten aber trotzdem existieren. Der Professor erwähnt auch, daß er 1981 die Arbeitsplätze besichtigt habe. Besonders auffällig seien sie ihm nicht erschienen, allerdings seien sie auch nicht mit denen von 1971 identisch gewesen. Eine merkwürdige Bemerkung. Drei Jahre zuvor war die Abteilung aufgelöst worden. Selbst die Wände der Werkstatt waren frisch gestrichen.

Die Ärzte der Berufsgenossenschaften raten von einer Berufskrankheitenanzeige ab. Der Arbeitsmediziner Dr. Schmitt hält eine »durch Frigenexposition verursachte neurologische Systemerkrankung für wenig wahrscheinlich«. An der MS-Diagnose besteht für ihn kein Zweifel. Er warnt überdies vor dem »erheblichen Verwaltungsaufwand«, den eine solche Anzeige verursache. Sein Vorschlag: Die Problematik solle bei der zuständigen Berufsgenossenschaft (BG) für Feinmechanik und Elektrotechnik erst einmal informell abgeklärt werden. Die BG schaltet daraufhin ihren Berater, den Hamburger Arbeitsmediziner Prof. Dieter Szadkowski, ein. Seine »gründliche Literaturrecherche ergibt keinerlei Hinweise, daß die FCKW oder ihre Zersetzungsprodukte neurologische Erkrankungen verursachen können«. Erst ein halbes Jahr nach dieser Mitteilung erkundigt sich die BG bei Herrn G. schriftlich nach den Bedingungen an seinem früheren Arbeitsplatz. Doch sein Hausarzt wartet nicht mehr länger, sondern meldet G.s Leiden als Berufskrankheit. Sein Verdacht: Die Gase haben die Lähmung ausgelöst. Außerdem findet er in den Unterlagen der Tübinger Neurologen von 1975, 1976 und 1977 weder nach Untersuchungen der Hirnflüssigkeit noch nach der Auswertung des Computertomogramms Anhaltspunkte für das Bestehen einer MS. Prof Konietzko hatte dem Allgemeinmediziner zuvor schon angeboten, auf seine Voruntersuchungen zurückzugreifen.

Doch welche meint er? Helmut Eisele, viele Jahre Sanitäter bei Bauknecht, kennt die Tübinger Experimente samt der Ergebnisse aus einem Schreiben des damaligen Privatdozenten an den Betriebsarzt der Firma. Da die Stelle bei Eingang des Briefes nicht besetzt war, oblag es Eisele, ihn zu öffnen. Darin schilderte Konietzko, daß Spinnen nach Begasen mit Frigen Lähmungen gezeigt hätten. Eine Ablichtung dieses Berichts hat Eisele auch dem Betriebsrat zukommen lassen. Doch sowohl der Betriebsrat als auch der Professor bestreiten die Existenz des Schreibens wie der Versuche. Der Sanitäter hält dagegen: »Ich hab das selber gelesen, bei vollem Bewußtsein.« Brief und Kopie sind verschwunden. So steht Aussage gegen Aussage. Um die Sache aufzuklären, besucht das Ehepaar G. das Arbeitsmedizinische Institut Tübingen. Konietzkos Kollegen lassen sich jedoch verleugnen. Am Telefon erklärt der Leiter, Prof. Friedrich Wilhelm Schmahl, er könne in der Angelegenheit leider nicht weiterhelfen: »Da war ich noch nicht in Tübingen.«

Unterdessen läuft die Berufskrankheitenanzeige. Statt Monate, wie die BG dem Betroffenen in Aussicht gestellt hat, vergehen vier Jahre, bis der Fall G. entschieden wird. Was die Familie besonders verdrießt: Alljährlich, kurz vor Weihnachten, erhält sie einen Vordruck über den Stand des Verfahrens. Um es abzuschließen, fehle noch dieses Gutachten, dann jene Stellungnahme, heißt es da. Daß G.s Leiden schließlich nicht als Berufskrankheit anerkannt wird, versteht sich. Im neurologischen Zusatzgutachten urteilt Prof. Mayer (Uni Tübingen), MS sei »mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen«. Weil aber große epidemiologische Studien fehlen, könne mit letzter Sicherheit nicht ausgeschlossen werden, daß eine »chronische Exposition gegenüber Frigenen und deren Zersetzungsprodukten neurologische Spätschäden hervorrufen könnten«. BG-Berater Prof. Szadkowski interpretiert diesen Satz in seiner Stellungnahme als »salvatorische (hilfsweise) Klausel eines vorsichtigen Wissenschaftlers«. Durch den Nachweis spezifischer Antikörper habe der Neurologe MS als gesicherte Diagnose doch bestätigt. Eine neurotoxische Wirkung werde den FCKW nicht zugeschrieben, fährt er fort. Seine Kollegin Barbara Griefahn hingegen schreibt in dem Buch Arbeitsmedizin unter dem Stichwort »halogenierte Kohlenwasserstoffe« (FCKW): »Bei der chronischen Intoxikation (Vergiftung) ist fast immer mit einer deutlichen Affektion des Zentralnervensystems zu rechnen.« Prof. Konietzko schließt sich in seinem abschließenden Gutachten von 1992 allerdings dem Hamburger Urteil an: »Aufgrund toxikologischer Überlegungen ist es ganz unwahrscheinlich, daß diese Substanzen selbst in hohen Konzentrationen in der Lage sind, chronische neurologische Schäden hervorzurufen.« Er räumt ein: »Eine authentische Besichtigung der Arbeitsabläufe konnte 1981 nicht mehr erfolgen, da die Abteilung aufgelöst und die Räume weitgehend leer waren.«

Auch im Handbuch Gesundheitsschädliche Arbeitsstoffe werden Dichlordifluormethan (R 12) und Monochlordifluormethan (R 22) eine geringe Giftwirkung zugesprochen. Russische Autoren, heißt es in dem Standardwerk mit dem Untertitel Toxikologisch-arbeitsmedizinische Begründung von MAK-Werten (MAK = maximale Arbeitsplatz-Konzentration), berichteten, daß Arbeiter, die in Produktionsanlagen für R 22 beschäftigt waren, den höchsten Krankenstand unter den Mitarbeitern in FCKW-Betrieben aufwiesen. Häufig traten auf: Krankheiten des oberen Atmungsapparates sowie des kardiovaskulären (Herz und Gefäße) und des nervösen Systems. Zu R 12 merkt die Loseblattsammlung an, die Substanz verteile sich rasch ins Blut wie in die Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit. Das Gas werde auch von Körpergewebe aufgenommen. Experimente mit hohen Dosen (1500 Milliliter pro Kubikmeter Luft) hätten aber keine Vergiftungen bei Menschen gezeigt. Diese Versuche dauerten 14 Tage. Läßt dies den Schluß zu, daß jemand, der die leicht süßlich riechenden Chemikalien fast zwei Jahrzehnte lang in unbekannten Menge einatmete, dadurch nicht geschädigt wird? (US-Wissenschaftler berichten übrigens schon 1977 von einer 14jährigen, die nach intensiver Inhalation von Dichlordifluormethan starb.)

Doch zurück zu Herrn G. und seinen Kollegen. Er versichert, daß bislang keiner, der in seiner Abteilung längere Zeit beschäftigt war, das Rentenalter erreicht habe. Vier Kollegen sind mittlerweile gestorben. Außer ihm selbst wiesen mindestens noch zwei Reparateure Lähmungen auf. Ein Zufall? Andere Kollegen leiden an rheumatischen Beschwerden, deren Ursache wohl nicht einwandfrei geklärt ist.

Dennoch: Nach Prof. Konietzko steht bei dem zuerst Verstorbenen der Krankheitsbeginn in keinem zeitlichen Zusammenhang mit seiner Tätigkeit bei Bauknecht. Er starb mit 40 Jahren. Seine Krankheitsunterlagen sind nach Auskunft des Landesgesundheitsamts nicht auffindbar. Der andere Tote hatte laut Konietzko Diabetes, nach Auskunft seines Sohnes starb er an einem schweren Nervenleiden. Die Leiche wurde vom pathologischen Institut der Uni Tübingen obduziert. Einen Bericht darüber habe er nicht erhalten, schreibt der Mainzer Arbeitsmediziner. Dennoch reichte er für die Verstorbenen im November 1990 noch nachträglich Anzeigen über eine Berufskrankheit ein. Warum?

Die ehemaligen behandelnden Arzte der übrigen erkrankten Mitarbeiter der Reparaturwerkstatt leben inzwischen nicht mehr, wie die Gesundheitsbehörde herausfand. Auch hier fehlen die Krankenakten.

Bei einem Kuraufenthalt lernt G. einen Rollstuhlfahrer kennen, dessen Arbeit darin bestand, auf dem Stuttgarter Güterbahnhof Frigen umzufüllen — viele Jahre lang. Die Erkrankung gleicht der seinen. Doch auch dies spielt für die Anerkennung seines Leidens als Berufskrankheit keine Rolle. Der Bauknecht-Sanitäter Walter Eisele meint: »Erst wenn den Arbeitsmedizinern 10000 Fälle mit gleichen Umweltbelastungen präsentiert werden, akzeptieren sie diese als Berufskrankheit. Dabei ist die Berufsgenossenschaft gerade auch für Einzelschicksale da.« Die Sozialminister der Bundesländer sehen das genauso. Sie verabschiedeten am 14. Juli 1995 im Bundesrat einen Gesetzentwurf, nach dem kein eindeutiger Nachweis mehr geführt werden muß, ob Belastungen am Arbeitsplatz zu einer Erkrankung führten. Mit »hinreichender Sicherheit« müsse feststehen, daß »die Krankheit durch die besonderen Bedingungen des Arbeitsplatzes verursacht ist«, um als Berufskrankheit anerkannt zu werden. Das baden-württembergische Arbeitsministerium begründet diese Initiative damit, daß 1993 von 5929 Anträgen nur 10,7 Prozent als entschädi-gungspflichtig anerkannt wurden — so wenig wie nie zuvor. Die Arbeitsmediziner leisten - bei einem satten Zubrot für ihre Gutachtertätigkeit - ganze Arbeit. Der Bundestag hat dem Vorhaben der Länder übrigens noch nicht zugestimmt.

Herrn G. dürfte der Vorstoß ohnehin kaum noch etwas nützen, obwohl er Widerspruch gegen den Bescheid der Berufsgenossenschaft eingelegt hat. Er wird sich mit seiner bescheidenen Erwerbsunfähigkeitsrente und der Gewißheit, von den Ärzten als Versuchsobjekt benutzt und fallengelassen worden zu sein, weiter durchs Leben schleppen.

 

II Wohngifte

Jörg Rheinländer

»Die glauben alle, du gehörst in die Klapse« - Krank durch Insektengift

Wieder einmal hofft Ursula Marquard. Eine Fachklinik in Nordfriesland für Patienten mit Pestizidbelastung und damit einhergehenden psychischen Problemen ist der neue Strohhalm, an den sich die 32jährige Wiesbadenerin klammert. Einer der Umweltmediziner, die sie behandeln, hat ihr den Aufenthalt empfohlen. Die Kasse wird die Kosten tragen - das ist wenigstens etwas. Ein neuer Versuch, mit einer Krankheit fertig zu werden, die jahrelang niemand ernst genommen hat und die heute noch viele für Einbildung halten. »Es ist eine Rennerei für nichts«, sagt Ursula Marquard. »Von Amt zu Amt, von Arzt zu Arzt. Und keiner glaubt es einem. Eigentlich wollte ich alles hinschmeißen.« Daß ihr zum Heulen zumute ist, muß sie nicht sagen: Das sieht man. Längst ist es nicht mehr Wut, sondern das Gefühl der Ohnmacht, das sie so fertigmacht. Ratlosigkeit: Das Wort beschreibt am besten den Zustand, in dem sich die junge Frau befindet. Wenn sie von ihrer Krankheit erzählt, dann muß sie oft nach Worten suchen; nicht selten bleibt sie mitten im Satz hängen, hat Schwierigkeiten, sich zu erinnern, über was sie gerade gesprochen hat. Auch das sind Folgen der Vergiftung, die Ursula Marquards Leben radikal verändert hat. Angefangen hat die Leidensgeschichte 1987, kurz nachdem die Kammerjäger in ihrer damaligen Wohnung in Wiesbaden gewesen waren.

Schon bald danach begannen die Beschwerden. Zuerst waren es Asthmaanfälle und ein extremer Juckreiz, und das, obwohl Ursula Marquard vorher nie unter Erkrankungen der Atemwege oder Allergien gelitten hatte. Dann bekam Ursula Marquard brennende Hautausschläge am gesamten Körper und konnte sich immer schlechter konzentrieren. Ihre Bekannten bemerkten, daß sie plötzlich langsamer sprach und von einer Sekunde auf die andere vergaß, über was sie gerade geredet hatte. Immer wieder hatte die junge Frau Gleichgewichtsstörungen. Die kamen ganz plötzlich, überraschten sie auf der Straße, oft konnte sich die Frau gerade noch so auf den Beinen halten. Weil ihr Immunsystem insgesamt geschwächt war, wurde sie viel anfälliger für Infektionen.

Eine Erklärung für diese Symptome hatte keiner. Der Hausarzt, der Ursula Marquard behandelte, vermutete Hausstaubmilben als Verursacher der Beschwerden. Gegen die war dann auch die Therapie gerichtet. Ein Erfolg stellte sich nicht ein. Die Beschwerden blieben. Zwar fand auch der Arzt es seltsam, daß Besucher der Wiesbadenerin über dieselben Symptome klagten, solange sie in der Wohnung waren, und daß die Probleme wieder verschwanden, sobald sie ihren Besuch beendet hatten. Doch auf die Idee, nach anderen Ursachen für den Zustand von Ursula Marquard zu suchen, kam er nicht.

Schließlich war sie selbst es, die den Verdacht hatte: Irgendwie mußte das Gift für ihre Krankheit verantwortlich sein, das die Kammerjäger in ihrer Wohnung versprüht hatten.

Gegen den Kugelkäfer, den die Schädlingsbekämpfer in dem Wiesbadener Haus gefunden hatten, sprühten sie im regelmäßigen Abstand von drei Monaten ein Insektizid, dessen aktiver Bestandteil Permethrin aus der Gruppe der Pyrethroide ist: ein Stoff, der über die Atemöffnungen von dem Ungeziefer aufgenommen wird und dessen Nervensystem angreift. Bei den Käfern führt die chemische Keule zu einem schnellen Tod.

Pyrethroide sind die chemischen Nachbauten eines Naturstoffs. Pyrethrum wird seit Jahrhunderten aus den Blüten von Chrysanthemen gewonnen. Es ist das älteste vom Menschen eingesetzte Insektengift der Welt. Seit dem Ende der siebziger Jahre ist der Ersatzstoff aus der Industrie im Handel. Die Pyrethroide haben aus Sicht der Hersteller und der professionellen Anwender, also der Kammerjäger, einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Naturpyrethrum: Sie sind nicht empfindlich gegen UV-Strahlen. Das bedeutet nichts anderes, als daß das Retortengift auch dann besonders langlebig ist, wenn Licht einwirkt. Vorteil für die einen, Nachteil für die anderen: Denn wo das Gift erst mal ist, da wird man es so schnell nicht wieder los. Der Stoff bleibt jahrelang da, wo man ihn hingesprüht hat: in Ritzen und Ecken, an schwer zugänglichen Stellen, da eben, wo auch die Schädlinge sich gerne verstecken. Und was lange hält, das kann auch lange wirken.»

Das Gift funktioniert so, daß die Weiterleitung von Impulsen in den Nerven unterbrochen wird«, sagt Doktor Michael Gagelmann vom Institut für Ökotoxikologie in Heidelberg. »Das Schlimme ist: Die Pyrethroide wirken bei Warmblütern genauso wie bei Insekten.« Spätestens seit den Versuchen des Medizinprofessors Helmuth Müller-Mohnssen könnte diese Erkenntnis Gemeingut sein. 1984 hatte der Wissenschaftler am Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit im bayerischen Neuherberg eine Untersuchung im Auftrag des damals noch als Gemeinschaftsinstitut existierenden Bundesgesundheitsamtes durchgeführt. Er isolierte Nervenfasern von Fröschen und setzte sie einer Nährlösung aus, die mit Pyrethroiden angereichert war. Ergebnis: Die Pyrethroide blockierten die Übertragung von Informationen in den Fasern.

Müller-Mohnssen ging noch weiter. Er versuchte, die Nervenstränge wieder von den Giftstoffen zu reinigen. Das gelang ihm aber nicht. Die Folgerung daraus war mindestens ebenso brisant wie das erste Ergebnis seiner Versuche. Denn sie ließ nur einen Schluß zu: Die Pyrethroide reichern sich im Körper an und sorgen so für Langzeitschäden. Trotz dieser Untersuchungen blieben die Pyrethroide weiter im Handel. Das Bundesgesundheitsamt hielt die Schlüsse, die Müller-Mohnssen aus seinen Versuchen zog, wohl nicht für stichhaltig genug. Auch im Bonner Gesundheitsministerium gab es keine Reaktionen.

Ursula Marquard ging zu mehreren Ärzten und teilte ihnen ihren Verdacht mit- ohne Erfolg. »Die hielten das für ausgeschlossen. Die haben mir alle gesagt, das Mittel wirke nicht beim Menschen.« Auch das zuständige Gesundheitsamt untersuchte die Patientin. Die Symptome ließen sich nicht verleugnen. Nur die entsprechenden Schlüsse wollte keiner ziehen. Auch hier setzte man auf Beschwichtigung. Das Mittel sei nicht gefährlich, hieß es. Damit war der Fall für das Gesundheitsamt erledigt. Statt Hilfe zu bekommen mußte Ursula Marquard erfahren, was es heißt, wenn die Ursachen einer Erkrankung nicht auf den ersten Blick zu definieren und herzuleiten sind. »Die glauben alle, du gehörst in die Klapse<, sagt sie heute bitter.

Dabei sprach immer mehr dafür, daß die Vermutung von Ursula Marquard richtig war. Denn irnmer dann, wenn sie sich nicht in ihrer Wohnung aufhielt, ging es ihr zumindest zeitweise besser. Ein Jahr nach der Schädlingsbekämpfung machte sie Urlaub an der Ostsee - die Symptome waren viel weniger heftig. Manchmal, wenn es ihr besonders schlecht ging, wohnte sie bei Bekannten - und fühlte sich ganz gut.

Kaum aber war sie zurück in den eigenen vier Wänden, begannen die Leiden von vorne.

Daß keiner der behandelnden Ärzte von Ursula Marquard auf die Idee kam, das Insektengift mit den Krankheitssymptomen in Verbindung zu bringen, muß einen nicht einmal wundern. Es gibt kein spezifisches Krankheitsbild, das eindeutig auf eine Vergiftung mit Pyrethroiden schließen läßt. Infektanfälligkeit, Schwäche, Lethargie, Erkrankungen der Atemwege und Bronchien, Augenreizungen, Benommenheit, Übelkeit und Erbrechen, Akne, Ekzeme, Hautjucken, Koordinationsschwierigkeiten, Kopfschmerzen, Krämpfe, Muskelschmerzen, Schleimhautreizungen, Schwindel, Unruhe, Erregbarkeit, Zittern: Die Liste der Symptome ist ebenso lang wie unvollständig und läßt auf den ersten Blick kaum Schlüsse darauf zu, was einen Patienten wirklich krank gemacht hat. Da zudem nicht jeder Betroffene die gleiche Kombination von Krankheitssymptomen entwickelt und die Beschwerden sich mit der Zeit ändern, ist es in der Tat schwierig, die wahre Ursache zu erkennen. Wenn man dazu noch in Rechnung stellt, daß viele Kranke nicht wie Ursula Marquard selbst auf die Idee kommen, daß ihre gesundheitlichen Probleme mit dem Versprühen von Gift in ihrer Wohnung zu tun haben könnten, dann ist der Arzt überfordert. Er kann die Ursache der Erkrankung nicht finden.

Doch selbst wenn ein Patient die Vermutung hat, daß er mit den Insekten gleich mitvergiftet worden ist, kann der eindeutige Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung kaum hergestellt werden. Pyrethroide sind nur selten im Blut oder im Urin analytisch nachgewiesen worden.

Das macht die Argumentation für die Verharmloser einfach. Die sitzen vor allem in der chemischen Industrie. Dort will man sich das lukrative Geschäft mit den Insektenkillern nicht verderben lassen: Außerdem könnten Geschädigte ja vor Gericht gehen und Schadenersatz verlangen. Das wird zwar in Deutschland nicht so teuer wie beispielsweise in den USA. Trotzdem soll das vermieden werden. Tenor in der chemischen Industrie also: Es gibt keine Beweise für chronische Erkrankungen nach dem Gifteinsatz - also spielen sich die Beschwerden nur in der Phantasie der Erkrankten ab. Die Muster kommen einem bekannt vor. Wenn die Zahl von Leukämiefällen in der Nähe eines Atomkraftwerkes erhöht ist, behaupten die Betreiber, daß es sich um einen bloßen Zufall handelt. Frauen, die nach der Implantation von Silikon-Brustkissen an Immunschwäche leiden, bekommen von Herstellern und Ärzten immer wieder vorgehalten, daß die Implantate absolut reizlos und infolgedessen nicht der Auslöser ihrer Krankheit seien. Weil auch in diesen Fällen niemand nachweisen kann, daß Ursache und Wirkung eindeutig miteinander verknüpft sind, bleibt der Schwarze Peter bei den Kranken.

Nicht anders ergeht es Ursula Marquard nun seitJahren. Inzwischen ist „ihre Erkrankung so weit fortgeschritten, daß sie keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen kann. Früher arbeitete die Wiesbadenerin als Angestellte bei der Post. Dort mußte sie kündigen, nachdem ihre Erkrankung immer schlimmer geworden war. Heute schlägt sie sich mit Sozialhilfe durchs Leben. Mit der Krankheit kam auch der soziale Abstieg. »Ich will ja gerne wieder richtig arbeiten«, sagt sie. »Aber finden Sie mal einen Arbeitsplatz, wenn Sie so angeschlagen sind wie ich.« Manchmal bekommt sie einen Job. Doch meistens ist sie schon nach kurzer Zeit so gestreßt, daß sie die Arbeit wieder aufgeben muß. Durch die ständigen körperlichen Beschwerden ist sie inzwischen auch psychisch so belastet, daß jeder Versuch, ein ganz normales Leben zu führen, schnell zu Ende ist. Ihre Tochter lebt inzwischen in einem Heim. »Ich war durch meine Krankheit oft so gereizt, das war nur noch Streß für uns beide. Manchmal habe ich einfach rumgebrüllt - obwohl ich das gar nicht wollte. Ich bin überhaupt nicht mehr tolerant, alles nervt mich sofort.« Früher, sagt Ursula Marquard, war das nie so. Die Resignation ist ihr deutlich anzumerken. Daß die Tochter unter den psychischen Problemen der Mutter litt - keine Frage. Dazu kommt noch, daß auch sie deutliche Symptome der Schädigung durch die Pyrethroide zeigt, weil sie natürlich in derselben Wohnung wie ihre Mutter auch derselben Belastung ausgesetzt war. Konzentrationsschwierigkeiten und Müdigkeit in der Schule führten schließlich dazu, daß das Kind immer verhaltensauffälliger wurde. Es versuchte auf diese Weise, die Aufmerksamkeit zu bekommen, die andere Kinder durch gute Leistungen erzielten. So kam es, wie es kommen mußte. Heute geht die Tochter auf eine Sonderschule: Das gesellschaftliche Aus, noch bevor das Kind überhaupt eine Chance gehabt hätte, daran etwas zu ändern.

Professor Helmut Müller-Mohnssen, der in seiner Kartei mehrere hundert Krankengeschichten von Pyrethroid-Opfern gesammelt hat, hat Ursula Marquards Beschwerdeprofil mit seinen Erkenntnissen verglichen. Seine Einschätzung läßt keine Zweifel zu. Die neurologischen Störungen der jungen Frau und ihrer Tochter weisen klar auf eine chronische Vergiftung mit Insektiziden hin. Dafür spricht nach Ansicht des Mediziners auch, daß bei einer Analyse des Staubs aus der früheren Wohnung der Patientin das Pyrethroid Permethrin in einer hohen Dosis gefunden wurde: 27 Milligramm pro Kilo Staub. Eine Größenordnung, die um ein Vielfaches höher liegt als die Empfehlung, die das frühere Bundesgesundheitsamt für Innenräume vorgegeben hat. Die Berliner Behörde sah ein Milligramm pro Kilo Staub als die höchste zulässige Konzentration vor. Daß Ursula Marquard schon vor dem Einsatz der Kammerjäger in ihrer damaligen Wohnung den gefährlichen Pyrethroiden ausgesetzt war, erhöht noch die Plausibilität der Symptome, die die Frau entwickelt hat. Einige Jahre lang hatte sie mit Elektroverdampfern versucht, Mücken aus ihrer Wohnung fernzuhalten. Der Wirkstoff dieser Insektentöter, die man einfach in eine Steckdose steckt: Pyrethroide. Durch Hitzeeinwirkung wird das Gift verdampft. Die Bewohner der Räume sind ständig einer großen Dosis des Gifts ausgesetzt. Da es oft Jahre dauern kann, bis ein Mensch Symptome zeigt, ist es nicht verwunderlich, daß Ursula Marquard erst dann reagierte, als mit dem Kammerjägereinsatz die Giftmenge in ihrer Wohnung drastisch erhöht wurde.

Müller-Mohnssens Fazit: Das Krankheitsbild enthält »objektive Hinweise für das Bestehen eines Kausalzusammenhanges zwischen der Insektizid-Exposition und den geklagten Beschwerden einer chronischen Insektizid-Intoxikation«. Er ist nicht der einzige, der den Fall Marquard so beurteilt. Der Trierer Nervenarzt Peter Binz, ebenfalls ein anerkannter Fachmann, kommt zum selben Ergebnis. Bei ihm ist die Frau aus Wiesbaden seit 1993 in Behandlung. Schon bald stellte er fest, daß Ursula Marquard »schwere Leistungsschäden, (...) vor allem auf sprachlichem Gebiet«, hat. »Es handelt sich nicht um eine angeborene, sondern offensichtlich um eine erworbene Schädigung.« Binz geht noch weiter. Er attestiert der Frau eine »Multiple Chemical Sensibility (MCS), das heißt, die Zahl der Stoffe, auf die sie schwere Reaktionen hat, wird immer größer, und die Auslöseschwelle wird immer geringer«. In den USA wird diese Überempfind-lichkeitsreaktion auf geringste Mengen chemischer Stoffe schon lange beobachtet und ernst genommen. Einer der größten Kritiker des Einsatzes von Pyrethroiden, Professor William Rea vom Environmental Health Center in Dallas, hat seit Jahren Patienten mit diesem Syndrom (vgl. Zeitung für Umweltmedizin, Nr. 8, Heft 1/1995). Seine Therapieempfehlungen reichen von möglichst giftfreien Wohnräumen über pestizidfreie Nahrung, den Verzicht auf gechlortes Wasser auch bei der Körperreinigung bis hin zu erhöhten Gaben von Vitaminen, Mineralien und Aminosäuren.

Vorschläge, die die Ärzte auch Ursula Marquard gemacht haben. Und die sie befolgt hat - soweit ihr das möglich war. Immer wieder ist sie umgezogen, insgesamt dreimal. Raus aus der pyrethroidverseuchten Wohnung: Das war noch relativ einfach. Aber alle Möbel wegwerfen, die gesamte Kleidung austauschen: Das war nicht drin. Eine solche Radikallösung konnte sich die kranke Frau einfach nicht leisten. Stühle und Tische, Sofas und Regale hat sie gründlich gereinigt, das mußte genügen. Erst jetzt, in Wohnung Nummer drei, geht es ihr etwas besser. Vielleicht auch deshalb, weil sie inzwischen viele Möbel verkauft hat. Nicht, weil sie sich neue hätte leisten können. Ganz im Gegenteil: Sie hat sie verkauft, um wieder ein paar Mark flüssig zu haben, damit sie die laufenden Kosten decken kann - einkaufen gehen im Supermarkt oder die Telefonrechnung zahlen, damit ihr der Anschluß nicht wieder gesperrt wird.

Auch die Vitamine sind eigentlich zu teuer, als daß die Sozialhilfeempfängerin sie zahlen könnte. Die Krankenkasse jedenfalls tut es nicht, obwohl die Notwendigkeit von Ärzten bescheinigt ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Vorschlag, auf gesunde, möglichst unbelastete Lebensmittel aus biologisch-dynamischem Anbau umzustellen. »Wie soll ich das denn machen mit den paar Mark, die ich habe«, fragt Ursula Marquard. Eine gute Therapie im Alltag ist auch eine Frage des Geldes. So entsteht ein regelrechter Teufelskreis. Weil die billigen Lebensmittel, weil die Möbel und die Kleidung aus dem Discount mehr Schadstoffe enthalten, reagiert die Patientin mit den bekannten Symptomen. Je schlimmer die Krankheit, desto weniger aber ist die Frau in der Lage, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Also fehlt ihr im Endeffekt das Geld, das nötig wäre, um Schadstoffe in ihrer Umgebung bewußt zu vermeiden. Wer sich Gesundheit nicht leisten kann, der hat eben Pech gehabt.

Das Problem mit den Pyrethroiden hätte längst anders behandelt werden müssen, dann wäre Menschen wie Ursula Marquard ihr Schicksal vielleicht erspart geblieben. So können bis heute Schädlingsbekämpfer das gefährliche Gift sprühen, ohne daß die Anwendung in irgendeiner Weise reglementiert wäre. Viele erzählen den Kunden nach wie vor, daß die Präparate »mindergiftig« seien. In Wiesbaden war das nicht anders. Auf die Frage, ob sie ihrer Pflicht nachgekommen sei, die behandelten Wohnungen nach der Sprühaktion und einer angemessenen Einwirkzeit wieder zu dekontaminieren, also von dem Gift zu befreien, antwortete eine Mitarbeiterin der beauftragten Firma, daß das nicht nötig sei: »Das baut sich innerhalb von ein paar Tagen ab. Außerdem kann es nicht nach außen dringen, das bleibt, wo es ist. Und die saubere Hausfrau putzt da sowieso drüber.« Bis auf letzteres stimmt davon nichts.

Das zeigt, wie schlecht ausgebildet Kammerjäger in Deutschland sind. »Kammerjäger wird man, indem man sich einen Gewerbeschein besorgt«, sagt Michael Gagelmann vom Institut für Ökotoxikologie in Heidelberg. »Dazu muß man keinerlei Qualifikation nachweisen. Der Verband der Kammerjäger macht zwar Fortbildungsveranstaltungen. Teilnehmen muß daran allerdings keiner.« In anderen Ländern ist man da längst weiter. In Ungarn etwa dürfen nur Ärzte, Biologen oder Chemiker Schädlinge mit der chemischen Keule bekämpfen. Es muß ja nicht gleich ein Hochschulstudium sein. Aber eine geregelte Ausbildung für einen so hochsensiblen Job sollte es auch in Deutschland geben.

Unverständlich ist auch, daß sich im Drogerie-Supermarkt jeder mit den verschiedensten Pyrethroid-Präparaten für den privaten Gebrauch eindecken kann, ohne daß das Gefährdungspotential der Sprays oder der bereits erwähnten Elektroverdampfer auch nur annähernd präzise beschrieben wird. Da werben die Hersteller bis heute mit Slogans in großen Lettern wie »einfach und zuverlässig« oder »zeitgemäß - gezielt wirksam« auf den Verpackungen. Erst im Kleingedruckten weisen sie darauf hin, daß die Wirkstoffe von Nahrungsmitteln ferngehalten werden sollen und daß bei Mißbrauch Gesundheitsschäden drohen. Daß der Mißbrauch jedoch bereits beginnt, wenn man die Mittel ganz regulär einsetzt, das steht auf keiner Packung. Bei den Pyrethroiden kommt noch dazu, daß die Industrie bewußt mit dem Prädikat »Bio« hantiert. Schließlich handele es sich bei dem Gift um einen dem »natürlichen« Pyrethrum nachempfundenen »naturnahen« Stoff. So wird der Verbraucher in die Irre geführt. Denn die meisten setzen »naturnah« mit ungefährlich gleich.

Eine Quelle für Pyrethroide, die bis heute den wenigsten bekannt ist, sind Teppiche und Teppichböden. Fast alle, die aus Wolle hergestellt sind, werden in Deutschland mit Permethrin behandelt. Das soll die Motten fernhalten. Mehr als zweieinhalb Tonnen (!) des Giftes werden so jährlich in Deutschlands Wohnstuben und Schlafzimmer transportiert.

Aufgeschreckt von diesen Zahlen hat das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin, das früher ein Teil des Bundesgesundheitsamtes war, die Initiative ergriffen. Anfang 1995 veranstaltete es eine Anhörung zum Thema Pyrethroide. Teppiche, die mit dem Gift behandelt wurden, sollten deutlich gekennzeichnet werden; Bekleidung sollte gar nicht mehr mit dem Stoff besprüht werden; Laien sollten keine Pyrethroide mehr kaufen können, die lange Zeit wirken: Das sind einige der Empfehlungen, die am Ende der Anhörung standen. Eigentlich hätte all das schon längst eine Selbstverständlichkeit sein müssen. Passiert ist allerdings noch immer nichts.

Die meisten Mittel unterliegen nach wie vor keiner Zulassungspflicht. Das heißt aber auch, daß sie nicht von staatlichen Stellen kontrolliert werden, bevor sie auf den Markt kommen. Auch das wird wohl vorerst so bleiben. Für die jetzt schon schwer Geschädigten käme sowieso jede Regelung zu spät.

Damit die Menschen in den Gesundheits- und Sozialämtern begreifen, daß Ursula Marquard keine Simulantin ist und ihre Krankheit nicht vortäuscht, werden sich noch viele Experten lautstark zu Wort melden müssen. Manchmal, wenn die Krankheit ihr sehr zu schaffen macht, wenn sie das Gefühl hat, daß sie eigentlich keinen Raum mehr betreten kann, ohne daß sie auf die eine oder andere chemische Substanz reagiert, dann kann Ursula Marquard nicht einmal mehr an den letzten Strohhalm glauben, die Spezialklinik in Norddeutschland. Eigentlich war die 32jährige keine, die so schnell aufgab. Mit der Vergiftung, dem damit einhergehenden Verlust des Arbeitsplatzes, mit dem sozialen Abstieg und der zunehmenden Isolierung hat sich das gründlich geändert. »Ich weiß nicht, wie das noch weitergehen soll«, sagt sie leise. Eine Antwort, die ihr Hoffnung machte, hat ihr bis jetzt noch niemand gegeben.

 

Volker Zapke

»Und dann bin ich richtig zusammengebrochen. Ich hab also wirklich gedacht, ich muß sterben« - Das schmutzige Geschäft mit Holzschutzmitteln

»Es gibt wohl kein Holzschutzmittel, das die ...
Idealforderung erfüllen kann, als solches un-
schädlich für Warmblüter
zu sein. Das kann
auch gar nicht erwartet werden, da es ja zur
Vernichtung von holzzerstörenden Pilzen und
Insekten bestimmt ist und dadurch meist mit
einem stark wirksamen Stoff versehen sein muß.
Bei der Verarbeitung eines Holzschutzmittels
besteht also stets eine gewisse Gefahr. Deswegen
sollten alle Holzschutzmittel so deklariert werden,
daß der Verarbeiter die Gefahren erkennen und
notwendige Schutzmaßnahmen ergreifen kann.«
Prof. Dr. med. H. Oettel1

Die Geschichte der Holzschutzmittel ist zugleich die Geschichte skrupelloser Geschäftemacher, die giftige Abfälle mit hohen Gewinnen als dekorative Lasuren in öffentlichen Einrichtungen, Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmern entsorgen. Gehilfen bei diesem schmutzigen Geschäft sind Fachleute und Angestellte von Behörden, anhand deren Unbedenklichkeitsgutachten Holzschutzmittelopfern mit jovialem Lächeln nachgewiesen wird, daß als Ursache aufgetretener Erkrankungen alles mögliche in Frage kommen kann, die verwendeten Holzschutzmittel aber sicher nicht.

Seit Holzschutzmittel in industriellem Maßstab produziert und im verbrauchernahen Bereich eingesetzt werden, sind Erkrankungen bei Arbeitern, Handwerkern, Angestellten und privaten Verbrauchern aufgetreten, welche die 1957 getroffene Feststellung von Prof. Dr. Oettel bestätigen.Die Holzschutzchemie wehrt sich mit allen tauglichen und untauglichen Mitteln gegen die Anerkennung dieser schlichten Tatsache, wobei sie es in vielen Fällen mit dem Wahrheitsgehalt der vorgebrachten Argumente nicht zu genau nimmt. Im einzelnen sieht das so aus:

Argument Nr. 1: Die verwendeten Wirkstoffe sind toxikologisch unbedenklich.

Im Herbst 1978 berichtet die ARD in einem Beitrag der Fernsehsendung Plus-Minus über Holzschutzmittel. Daraufhin erreicht die Firma Desowag-Bayer Holzschutz GmbH eine solche Fülle von Anfragen besorgter Holzschutzmittelanwender, daß sie ihren Antwortschreiben zusätzlich eine mit »September 1978« datierte Standardinformation beilegt. Darin heißt es zu Dichlorfluanid: »Das in der Sendung erwähnte XYLADECOR 200 enthält als pilzwidrigen Wirkstoff Dichlorfluanid. Schon Jahre vor seinem Einsatz wurde dieser Wirkstoff umfassend auch auf seine toxikologischen Eigenschaften untersucht. Diese Untersuchungen wurden durchgeführt im Institut für Toxikologie der BAYER AG in Wuppertal-Elberfeld. Die Ergebnisse aus diesem Institut werden, wie auch solche von vergleichbaren Unternehmen, weltweit schon immer staatlich anerkannt.«2

So einfach ist das also: Die Holzschutzchemie stellt sich den Persilschein für einen Wirkstoff, den sie produziert und vermarktet, selbst aus ......

oder, Argument Nr. 2, läßt ihn von offiziellen Stellen ausstellen:

Im September 1984 verschickt Dr. Michael Kunde vom Bundesgesundheitsamt auf Anfrage von Holzschutzmittelgeschädigten eine Standardinformation, die folgenden Passus zu Lindan enthält: »Holzschutzmittel mit dem Wirkstoff Lindan sind nach dem derzeitigen Wissensstand nicht mit besonderen Anwendungsverboten oder -beschränkungen zu belegen. Lindan ist ein seit Jahrzehnten im Pflanzen-, Holz-, Vorrats- und Textilschutz weltweit eingesetztes Insektizid und gilt als eine der am besten untersuchten Substanzen.«3

Der Veterinärmediziner Dr. Kunde hat nie praktiziert, sondern ist nach seiner Ausbildung sofort zum BGA gegangen, wo er sich seine toxikologischen Kenntnisse erarbeitet hat. In diesem Zusammenhang befragt, erklärt Dr. Kunde in der Hauptverhandlung des Strafverfahrens gegen die Geschäftsführer der Desowag am 17.12.1992: »Damals war der Stand aber so, daß man sich damit zufrieden gab, was anerkannte Fachleute zum Problem der Gesundheitsbeeinträchtigungen sagten. Diese gaben uns das Gefühl, daß eine Gesundheitsgefährdung nicht zu erwarten war.«4

Die Unbedenklichkeitsbescheinigung für Lindan beruht also unter anderem auf Untersuchungsergebnissen der Hersteller und ist damit das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben ist. Der Holzschutzmittelhersteller Desowag legt das Kunde-Papier fortan als »Unschuldsbeweis« für Lindan allen Antwortschreiben auf Anfragen zu lindanhaltigen Produkten bei.

Argument 3: Die absolute Reinheit des Wirkstoffes.

Das in Holzschutzmitteln eingesetzte Lindan ist das Gamma-Isomer des technischen Hexachlorcyclohexan, das bis zum Verbot 1971 als Pestizid in der Landwirtschaft eingesetzt wurde. Lindan läßt sich technisch nicht »rein« produzieren. Bei der Herstellung entstehen immer auch giftige Alpha-, Beta- und Delta-Isomere und, produktionsbedingt, hochgiftige Dibenzodioxine und Furane, die im Endprodukt verbleiben. Die 1985 im Auftrag der Hamburger Umweltbehörde durchgeführte Untersuchung einer im Handel erhältlichen Lindanprobe auf ihren Dioxingehalt ergibt einen Anteil von 3,4 mcg Gesamt-TCDF pro kg Lindan.5

Erst Mitte 1983 haben sich Holzschutzmittelhersteller in einer geheimgehaltenen Abmachung dem Gesundheitsministerium und dem Bundesgesundheitsamt gegenüber verpflichtet, künftig nur noch Lindan nach der WHO-Spezifikation zu verwenden, das heißt zu 99,7% reines Lindan. 1984 treten an einer Berliner Schule schwere Vergiftungen bei Lehrern und Schülern auf, nachdem der Boden der Turnhalle von unten mit einem lindan- und dichlorfluanidhaltigen Mittel gespritzt worden war. Bei der Untersuchung des Lindans stellt sich heraus, daß es nur zu 90% rein ist und der Rest ausschließlich aus Beta-HCH besteht.6 Demgegenüber erklärt die Desowag bereits 1982 in einem Schreiben an Herrn B., der nach der Verwendung des lindanhaltigen Xyladecor 200 an Multipler Sklerose leidet: »Zur Ausrüstung von XYLADECOR 200 wird als Insektizid reines Lindan (y-HCH) verwendet. Unsere Produkte enthalten keineswegs (5-HCH- und /?-HCH-Isomeren. ... Die von Ihnen angesprochenen Produkte enthalten 0,4% des reinen Wirkstoffes Lindan. Eine Gefährdung der Gesundheit ist nur bei Mißbrauch von Holzschutzmitteln zu erwarten (daher: Hinweise auf den Merkblättern genau beachten!).«

Das Schreiben gipfelt in dem Schlußsatz:

»Da behandeltes Holz nicht verzehrt wird, läßt sich eine mögliche Vergiftung durch behandeltes Holz von vorneherein ausschließen.«7

Angesichts des nicht zu überbietenden Zynismus dieser Aussage der Desowag-Mitarbeiter und Unterzeichner des Briefes, Spettmann und Wawrina, stellt sich die Frage: Wieviel kann ein Mensch ertragen?

Aus den Tagebuchaufzeichnungen der Helga Zapke, Teil l...

Ich habe es nicht sofort bemerkt; vielleicht haben mir ja meine Vorfahren eine gute Konstitution mitgegeben. Aber es holt dich ein. Nach einem Jahr, nach zwei Jahren - bei mir fing es nach vier Jahren an:

Müdigkeit, die so groß war, daß ich nach dem Mittagessen zu Bett gehen mußte und bis zum nächsten Morgen durchschlief. Herzrhythmusstörungen folgten, und mit ihnen die Angst. Mein Arzt verschrieb mir Lexotanil, ein Psychopharmakum. »Sie gehen jetzt auf die Vierzig zu«, meinte er locker, »da hat man das schon mal.«

Meine Handflächen wurden rot. Hämatome. Irgendwann eine Untersuchung der Leberwerte. Fachbegriffe schwirrten in meinem Kopf: GOT 23, GPT 31, Gamma-GT 30. »Nichts Erschreckendes, liebe Frau. Fachinger statt Wein trinken, Pille absetzen.« Die Leberwerte wurden besser, mir ging es schlechter. Wie in Trance durchlief ich die Jahreszeiten, ohne richtig aus mir herauszuschauen. Ich fühlte mich beengt und nicht mehr zu Hause in meinem Körper:

.... Mir ging es wirklich nicht gut. Wochenlang Durchfall, danach eine langwierige Bindehautentzündung, die sich kaum behandeln ließ und immer wieder auftrat. Dann begann meine Haut zu brennen — Ohren, Kopfhaut, der ganze Körper. Die Haareßelen aus, und innerhalb eines Monats bekam ich mehr graue Haare als zuvor in Jahren. Die Lymphknoten unter den Armen und in der Leiste waren so geschwollen, daß ich vor Schmerzen kaum gehen konnte.

Mein Mund war trocken. Ich verlor vier Liter Wasser am Tag — soviel konnte ich gar nicht trinken. Manchmal überfiel mich dieses Austrocknen wie eine Ohnmacht. Ich mußte mich festhalten, um nicht umzufallen. Hinzu kam ein Heißhunger auf Milch und Traubenzucker. Ich wollte einfach Energie auftanken. Aber das brachte nichts, allenfalls für kurze Zeit.

Mein Körper machte mit mir, was er wollte: Die Haut verfärbte sich, war blau-rot marmoriert. Es sah so aus, als ob mein Blut unter der Haut verrieselte. Die Zunge lag dick und belegt im trockenen, brennenden Mund. Manchmal wurde mir, von innen heraus, plötzlich kalt. Diese Kälte, auch für andere fühlbar, breitete sich über den ganzen Körper aus. Gliedmaßen und Gesicht waren ohne Gefühl, wie gefroren, gelähmt. Fließend verlor mein Körper an Kraft und Leben. Ich habe oft Todesangst gehabt.

Während dieser Zeit wurde ich um 10 Kilo leichter - viel zuviel für ein Fliegengewicht von 58 kg Lebendgewicht. Und dann sah ich eines Abends die Lichter der Autos und Ampeln doppelt. Wie gesagt, kein Wein, Fachinger.

Von da an hatte ich es satt. Ich mochte nicht mehr so weitermachen und zog einen anderen Arzt zu Rate. Zwei Gespräche verliefen ganz normal. Beim dritten Besuch veränderte sich deutlich seine Körpersprache, der Ton wurde aggressiv. Er wollte mir Dogmatil verordnen, damit ich wieder zur Vernunft käme. Ich wollte nicht. Ich wollte wissen, was mit mir vorging, nicht mit Psychopharmaka vernebelt werden. Kurz vor Ende des Gesprächs legte er mir ans Herz, eine Landesheilanstalt aufzusuchen: »Dort sind Sie in den besten Händen und gut aufgehoben«, sagte er. »Ich bin gerne bereit, Ihnen die Anschriften erfahrener Anstalten zu nennen.« Ich verzichtete dankend und kehrte reumütig zu meinem Hausarzt zurück.

Aber auch der meinte, in einem solchen Zustand (jeder Verrückte glaubt schließlich, er sei normal) braucht der Mensch einen Regenschirm. »Wir spritzen Ihnen jetzt erst einmal ein paar Vitamine.« Damit war ich einverstanden. An Vitaminmangel hatte ich auch schon gedacht.

.... Vier Wochen später bekam ich heraus, daß er mir eine chemische Keule verpaßt hatte. Die Spritze enthielt keine Vitamine, sie enthielt Imap, ein Mittel, das psychisch Schwerstkranken zur Dämpfung ihrer Halluzinationen und Wahnvorstellungen verabreicht wird.Ich glaube, da war ich kaputt. Mein Arzt hatte kein Vertrauen zu mir, mein Mann zweifelte an mir, und die Probleme meiner Kinder wurden immer größer — ich war kaum noch vorhanden.

Irgendwann verlor ich für eine Woche meinen Tastsinn. Alles, was ich anfaßte, fühlte sich weich an. Gleichgewichtsstörungen und vermindertes Wahrnehmungsvermögen waren die nächsten Erscheinungen. Gesprochene Worte hörte ich kaum. Ich bekam Kopfschmerzen. Ich habe noch nie in meinem Leben Kopfschmerzen gehabt!

Mein ganzer Körper schmerzte wie ein einziger, riesiger blauer Fleck. Anfassen konnte man mich jahrelang nur an den ungefähr zwei Tagen im Monat, an denen es mir so ging, daß ich sagen konnte: heute ist es gut. Und von diesen guten Tagen habe ich während dieser Zeit gelebt.

... Nachfragen und Bohren führten mich dann zu einem Arzt, der bei mir eine Auto-Immun-Erkrankung feststellte. Woher diese Körperreaktion kam, konnte er mir nicht sagen. Aber er bestätigte mir, daß meine Schmerzen real waren. Ich konnte endlich aufhören zu glauben, daß ich spinne, und mein Unterbewußtsein nach Ungereimtheiten zu durchwühlen.

... Es geht mir einigermaßen gut, nur fehlt immer noch der alte Schwung und die tiefe Freude am Leben. Besonders in den Wintermonaten brennen wieder die Augen, ein wenig auch die Haut. Eigentlich kein Wunder-es geht auf den Winter zu, die Fenster sind meist geschlossen, und ich bin nicht soviel draußen.

»Eine lukrative kommerzielle Unterbringung«

Der genaue Zeitpunkt, an dem Dr. Heiner Ramstetter, Direktor der Consolidierten Alkaliwerke, Westeregeln (bei Magdeburg), später Deutsche Solvay-Werke, von den Röchlingschen Eisen- und Stahlwerken Völklingen die Schutzrechte für die Chlorierung von Naphthalinen erwirbt, ist nicht bekannt und eigentlich auch nicht so wichtig. Aber es ist ein Glückstag für die Firma. Mit diesem Patent hat er den Schlüssel zu einer neuen, kommerziellen Nutzung des bei der Elektrolyse in großen Mengen gewonnenen Chlors in der Hand, das bis dahin hauptsächlich zur Herstellung von Chlorkalk verwendet wurde.

Mit seiner Idee trifft Ramstetter ins Schwarze: Nach vielen Versuchen entsteht ein Präparat, das den Holzschutz revolutioniert. 19238 (nach anderen Quellen 19269) wird das neue Produkt mit dem aus dem Griechischen abgeleiteten Namen »Xylamon« = »Schützt Holz« auf den Markt gebracht.In den Xylamon-Nachrichten, den Hausmitteilungen der Desowag-Chemie GmbH, beschreibt Dr. A. Becker 1965/66 das neue Produkt und seine Wirkung:»

Daß man Monochlornaphthalin, das heißt ein Chlornaphthalin mit niedrig gebundenem Chlorgehalt (ca. 25%) herstellte, hatte den Vorteil, ein flüssiges Produkt mit wesentlichen technischen Vorzügen gegenüber den wachsartigen oder festen hochchlorierten Naphthalinen zu erhalten. ... Gleich zu Beginn der Arbeiten wurde vor allem die Verwendbarkeit der Chlornaphthaline - ungereinigte und raffinierte - als Holzschutzmittel in Betracht gezogen. ... Alle Untersuchungen ergaben im Vergleich zu den damals im Handel befindlichen Holzschutzprodukten eine ausgezeichnete Wirkung. ... Die Chlornaphthaline als sogenannte Atemgifte waren unter dem Namen Xylamon das erste von der damaligen Biologischen Reichsanstalt, Berlin-Dahlem, anerkannte ölartige Bekämpfungsmittel gegen den Hausbock, dessen katastrophale Ausbreitung durch eine von dem Verband der öffentlichen Feuerversicherungsanstalten in Deutschland 1936/37 veröffentlichte Statistik bekannt geworden war.« 10

Nach dem Krieg wird 1949 die Produktion der Xylamon-Präparate von der Desowag-Chemie GmbH, einer Tochtergesellschaft der Deutschen Solvay-Werke, übernommen und nach Rheinberg im Rheinland verlagert. Hier entstehen auch die ersten Laboratorien für weitere Forschungs- und Entwicklungsarbeiten. In der ersten Ausgabe der Desowag-Chemie-Hausmitteilungen vom Oktober 1949 wird in einem Bericht, dessen Autor nicht genannt ist, die Wirksamkeit des Xylamons beschrieben:

»Die hohen pilz- und insektenwidrigen Eigenschaften des Xylamons beruhen auf dem Gehalt an ölartigen, teer- und teerölfreien Atem-, Fraß- und Kontaktgiften. ... Die Fernwirkung der Atemgifte im Xylamon ist ein besonderer Vorzug ... sie erstreckt sich über die benetzte Zone heraus in das Innere des Holzgefüges.

Als Grundstoff der Xylamon-Präparate werden Chlornaphthaline von einem bestimmten Chlorierungsgrad verwendet, die synthetisch aus Naphthalin und Chlor gewonnen werden. Dieser Grundstoff stellt keine streng definierte chemische Verbindung dar, sondern eine Kombination verschiedener Chlorierungsstufen des Naphthalins und gewisser Abkömmlinge.«11

»Zahllose Knötchen und Knoten, Eingenommensein des Kopfes und Schwindel«

1899 stellt Karl Herxheimer, Oberarzt der dermatologischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses Frankfurt am Main, seinen Kollegen im dortigen ärztlichen Verein einen Kranken vor:

»Meine Herren! Der Patient, welchen ich Ihnen vorstelle, ist ein 22jähriger Fabrikarbeiter, der sich behufs Heilung seines Leidens auf der dermatologischen Abteilung aufhält. ... Der Anblick, den Ihnen der Patient darbietet, ist ein etwas ungewöhnlicher. Gesicht, Hals, Brust, Bauch und Rücken sowie die angrenzenden Theile der Extremitäten sind bedeckt mit zahllosen Knötchen und Knoten verschiedenster Größe und Derbheit. ... Die grösseren Knoten erreichen die Grosse von Wallnüssen und lassen theilweise durch Fluctuation einen flüssigen Inhalt vermuten. Tatsächlich enthalten sie Eiter. ... Ausser diesen Erscheinungen von Seiten der Haut leidet der Patient etwa von der Zeit an, da er Hautaffection bekam, an Husten und Auswurf. Auch das Allgemeinbefinden des Patienten hat gelitten. Er hat... viel an Gewicht eingebüsst, sein Appetit ist schlechter geworden, und er leidet an Schlaflosigkeit. Ausserdem gibt er an, fast immer Eingenommensein des Kopfes und manchmal Schwindel zu haben. ... Es hat sich herausgestellt, dass als Ursache der Erscheinung freies Chlor zu betrachten ist. Der Patient arbeitet in einem Raume, in welchem aus Chlorkali durch elektrolytische Dissociation Aetzkali hergestellt wird.«12

Herxheimer gibt der Krankheit den Namen Chlorakne. Die »Arbeiterpocken« grassierten in allen Betrieben, in denen Chlorkalk hergestellt wird. Nach einer technischen Änderung der Produktion 1905 verschwinden sie schlagartig, um zehn Jahre später wieder bei der Verarbeitung von sogenanntem »Perchloriertem Naphthalin« als Imprägniermittel für Gasmaskenfilter, Isolationsmaterial und bei der Herstellung von Schuhsohlen aufzutauchen. Man nennt die Krankheit jetzt Pernakrankheit.13

Obwohl die wirkliche Ursache der neuen Krankheit lange Zeit im dunkeln bleibt, ist die Holzschutzchemie also bereits frühzeitig über die gesundheitlichen Auswirkungen der verwendeten Substanzen gewarnt und setzt sie trotzdem ein.

In den Nachkriegsjahren wird ständig an der Zusammensetzung des Xylamons gearbeitet, um neue Anwendungsbereiche und damit einen größeren Absatz der Holzschutzmittel der Desowag-Chemie zu erreichen. Wird Xylamon zunächst nur im Außenbereich für die Holzkonstruktionen von Kühltürmen usw. eingesetzt,14 erobert es sich in den fünfziger Jahren einen weiteren Anwendungsbereich in der Landwirtschaft: Zäune, Holzschuppen, Siloanlagen und Melkschuppen werden mit Xylamon behandelt. Die Verwendung in Schweine-, Kuh-, Pferde- und Hühnerställen ist besonders beliebt, weil als erwünschte Nebenwirkung sämtliche Fliegen, Ameisen, Milben, Motten, Schaben, Läuse, Flöhe, Kornkäfer, Ratten und Mäuse restlos vernichtet werden. In den bäuerlichen Betrieben wird nun alles, was aus Holz ist, mit Xylamon getränkt: Trennwände, Türen, Futterklappen, Böden aus Holzkopfpflaster, Wandverkleidungen, Schwellen und Abdeckhölzer an Freßgittern und Trögen bis hin zu den Sitzstangen und Nestern in Hühnerställen.

»>Nur das Gute bricht sich Bahn< lautet ein altes Sprichwort«, formuliert im Dezember 1951 voller Stolz der Diplomlandwirt A. Oostendorp in den Xylamon-Nachrichten, den Hausmitteilungen der Desowag. »Die Xylamon-Präparate haben jedenfalls nach vieljähriger praktischer Erprobung bewiesen, daß sie als wirksame Holzschutzmittel und als ebenso wirksame Bekämpfungsmittel von Holzschädlingen und Ungeziefer berufen sind, in der Hand des tüchtigen, rechnenden und fortschrittlichen Landwirts zu einer merklichen Senkung der Betriebsunkosten beizutragen.« 15

»... eine Allgemeinerkrankung unter Beteiligung fast aller Organsysteme«

Die prognostizierte Betriebskostensenkung erweist sich als gewaltiger Irrtum. Durch den Einsatz von Xylamon bricht eine Erkrankung unter Rindern aus, der ganze Bestände zum Opfer fallen. In Deutschland erhält sie den Namen Hyperkeratose, in den USA wird sie »X-Disease« genannt, weil die Ursache der Rinderseuche anfänglich noch nicht grundlegend aufgeklärt ist.

In der internationalen Literatur ist die in den USA, Neuseeland, Marokko, Australien, England und Deutschland seuchenartig auftretende Massenerkrankung beim Rind schon seit etwa 1940 bekannt und hochchlorierte Naphthaline und Pentachlorphenole als hyperkeratogene Stoffe ermittelt.16 So berichtet Prof. Dr. K. Wagener von der Tierärztlichen Hochschule, Hannover, bereits 1953:

»Der Krankheitsprozeß der Hyperkeratose ist der allgemeinen und vergleichenden Pathologie schon lange bekannt. Es wird darunter eine über das Normale hinaus gesteigerte Keratinisierung von Geweben verstanden. Die klinischen Erscheinungen beginnen (beim Rind) meistens mit Tränenfluß, Nasenausfluß und warzenartigen Wucherungen, die zuweilen in Geschwüre übergehen. Unter zunehmender Störung des Allgemeinbefindens - verminderter Appetit, Durchfall - entwickelt sich ... die Hyperkeratose der Haut: Unter Haarausfall und Schuppenbildung verdickt sich die Haut ... und legt sich in große, parallel verlaufende Falten. Ausfallerscheinungen an den Geschlechtsfunktionen (Abortus, Sterilität) deuten daraufhin, daß es sich ... keineswegs nur um eine Erkrankung der Haut- und Kopfschleimhäute, sondern um eine Allgemeinerkrankung unter Beteiligung fast aller Organsysteme handelt.«17

»Aus der Störung des intermediären Stoffwechsels ergeben sich Erkrankungen der inneren Organe, insbesondere der Leber und des Genitalapparates.«18

Die Hyperkeratose endet stets tödlich und rafft auch in Deutschland ganze Rinderbestände hinweg. Ursache der Krankheit sind eben die von der Desowag-Chemie hochgelobten »pilz- und insektenwidrigen Fraß- und Kontaktgifte« sowie »die Fernwirkung der Atemgifte« im Xylamon. Durch Scheuern an behandeltem Holz werden die Giftstoffe direkt in die Haut der Rinder einmassiert und gelangen durch Holzanknabbern in den Magen.

»Weiter kann die Aufnahme von Dämpfen der hyperkeratogenen Substanzen per inhalationem ohne direkten Kontakt zu Erkrankungen führen. Die folgenschwerste Schadmöglichkeit besteht in der Verunreinigung des Futters mit diesen Stoffen. Einwirkungen der gasförmigen Phase der Schadstoffe auf Futtermittel, hier insbesondere Rauhfutter, lösen das Krankheitsgeschehen aus. Auf diese Weise wurden Heuvorräte in Scheunen, deren Holz mit hyperkeratogenen Substanzen gestrichen worden war, zu Trägern des Schadstoffes und lösten ausgedehnte Hyperkeratosen ganzer Herden dieser Gehöfte aus.«19

In den Nachkriegsjahren ist auch die Gefährlichkeit der chlornaphthalinhaltigen Holzschutzmittel für den Menschen bereits detailliert beschrieben. In Ullmanns Encyklopädie der technischen Chemie, die zur Standardliteratur jedes Chemiebetriebes gehörte, warnt Prof. H. Oettel eindringlich vor der Verwendung dieser Mittel:

»Ganz besondere Vorsicht ist notwendig, falls als Holzschutzmittel perchlorierte Kohlenwasserstoffe vom Typ des Perchlornaphthalins benutzt werden. Ähnliche Produkte aus Holzschutzmitteln waren die Ursache der Erkrankung und des Todes von Tausenden von Rindern und anderen Nutztieren. ... Beim Menschen tritt in schweren Fällen eine tiefgehende Zerstörung der Haut und Narbenbildung auf (Perna = Chlorakne), die erst in Jahrzehnten ganz allmählich ausheilt. Nach amerikanischen Untersuchungen wurden solche Erkrankungen durch hochchlorierte Naphthaline verursacht, nach deutschen Untersuchungen sind andere Bestandteile der Holzschutzmittel für die Erkrankung verantwortlich ... die mindestens hundertmal stärker wirken als die chlorierten Naphthaline selbst. ... Das als Holzschutzmittel häufig benutzte Pentachlorphenol selbst besitzt die gefährliche hautdegenerierende Wirkung der polycycli-schen Chlorderivate nicht, dagegen wirkt es stark schleimhautreizend.«20

Die von Oettel erwähnten »anderen, für die Erkrankungen verantwortlichen Bestandteile« werden in den gleichen Jahren in den Berichten der Staatlichen Gewerbeärzte der Bundesrepublik Deutschland beim Namen genannt: Dibenzodioxane, heute allgemein als Dioxine bezeichnet:

»Zum Erkrankungsbild einer Chlorakne kam es auch bei Arbeiten mit Trichlorphenol, Pentachlorphenol-Natrium und Tetrachlordibenzidioxan. Beim letztgenannten Stoff wurde sowohl von Oettel und Hoffmann als auch von Kimming und Schulz eine sehr starke Wirkung auf Haut, Leber und Nieren nachgewiesen. Auf Grund dieser Erkenntnisse muß die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß solche Oxidations- und Zersetzungsprodukte die eigentlichen >Perna-Noxen< darstellen; denn die technischen Chlornaphthaline enthalten wahrscheinlich mehr oder weniger große Anteile solcher Verunreinigungen.«21

Damit nicht genug, werden auch gleich einige Fälle schwerer Erkrankungen bei Arbeitern beschrieben, die zur Schädlingsbekämpfung das bewährte Xylamon verspritzten und dadurch an Übelkeit, Brechreiz, Magenschmerzen, Schweißausbrüchen und Herzrasen litten.

Man sollte glauben, daß die Holzchemie spätestens jetzt ausreichend gewarnt gewesen sei. Nicht so die Desowag-Chemie. Mit einer kaum zu glaubenden Ignoranz werden die Giftmischungen nun im verbrauchernahen Bereich vermarktet. Da Menschen, im Gegensatz zu Tieren, der penetrante Mottengeruch der Naphthaline im Holzschutzmittel nicht zuzumuten ist, werden »geruchsschwache« ölartige Mittel entwickelt, denen man neben weniger riechenden Chlornaphthalin-Fraktionen den Pilztöter Pentachlorphenol beimischt, um die Wirksamkeit zu erhöhen.

In den Hausmitteilungen der Desowag-Chemie werden bis Mitte der sechziger Jahre nun voller Stolz Referenzobjekte vorgeführt, die mit den neuen Mitteln behandelt wurden.

Die Palette reicht von öffentlichen Gebäuden wie zum Beispiel der Bayerischen Landeszentralbank Fürth, Müttergenesungsheimen, Berufsbildungszentren, Schulen, Jugendherbergen, über Lebensmittellagerhäuser, Gasthäuser, Hotels usw. bis hin zu Neubausiedlungen und Privathäusern.

Ein besonderer Schwerpunkt der vorgeführten Objekte liegt bei Fertighäusern, die in den sechziger Jahren einen Verkaufsboom erleben. Die Xylamon-Nachrichten von 1965/6622 nennen beispielhaft so bekannte Fertighaushersteller wie die Streif Eigenheimbau GmbH, die Walter Zenker KG und die Okal-Werke.

Die gesundheitlichen Folgen der chlornaphthalinhalti-gen Holzschutzmittel lassen nicht lange auf sich warten: Am 18. November 1952 berichtet die Tageszeitung Die Welt unter dem Titel »Gefährliche Wohnungen« über Neubauwohnungen in Hamm und Soest, die durch den Einsatz von Holzschutzmitteln für mehrere Familien unbewohnbar geworden sind und bis auf die Grundmauern abgerissen werden müssen.23 In der Zeitschrift des Deutschen SchädlingsbekämpferverbandesDer praktische Schädlingsbekämpfer beschreibt Fritz Steininger 1953 weitere Vorfälle dieser Art aus Hannover, wo 220 Vertriebene aus dem gleichen Grunde in ein Ausweichquartier flüchten müssen, und aus Hamburg, wo 50 Bewohner wegen Vergiftungserscheinungen durch Holzschutzmittelausgasungen in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Der Autor beklagt darüber hinaus in seinem Artikel, daß das Vertrauen zum Baustoff Holz durch die »vielleicht etwas übertriebene Propaganda« für den Holzschutz schon stark erschüttert wurde.24 Damit hat er den Nagel auf den Kopf getroffen: Die Desowag-Chemie bewirbt ihre Produkte unter anderem mit dem Slogan »Xylamon hält Holz gesund«.25

Das Holz ist seit der Behandlung mit Xylamon im Jahre 1956 bis heute gesund, doch Frau F., ihre Tochter und ihr Sohn wurden krank und mußten ihr wunderschönes, inmitten eines großen, parkähnlichen Gartens gelegenes Wohnhaus verlassen. Es steht heute noch an seinem Platz, inmitten des inzwischen wildromantisch überwachsenen Grundstückes. Frau F. ist überzeugt, daß an den Erkrankungen das verwendete Mittel schuld ist und verklagt 1965 die Desowag-Chemie auf Schadenersatz. Sieben Jahre vergehen, bis ihr das Oberlandesgericht Koblenz recht gibt und die Firma Desowag, vertreten durch den Geschäftsführer Dr. rer. pol. Rudolf Oetker, zur Zahlung von ca. 30 000 DM verurteilt. In der Urteilsbegründung erkennt das Gericht auf eine rechtswidrig und fahrlässig begangene Gesundheitsgefährdüng und weist der Desowag Verstöße gegen die Sorgfalts-, Aufklärungs- und Warnpflicht nach: »Die Beklagte hat nach all dem nicht nur gegen ihre >Instruktionspflichten< verstoßen, sondern auch durch ihre Werbung von der Gefährlichkeit ihres Produktes, die sie kannte, abgelenkt«. 26

Das Urteil von 1972 ist rechtskräftig. Die Desowag aber hat die Zusammensetzung ihrer Holzschutzmittel bereits geändert und setzt ihre verhängnisvolle Verkaufsstrategie mit nicht zu überbietender Energie im gleichen Stil fort.

Aus den Tagebuchaufzeichnungen der Helga Zapke, Teil 2...

Seitdem ich wieder etwas um mich schauen kann, sehe auch meine Kinder — ihre bleichen Gesichter, ihre roten Hände. Sie sind viel zu müde und schlapp für junge Menschen, haben Kopfschmerzen, keinen Appetit und klagen über Übelkeit. Oliver hat seit zwei Jahren ständig die Lymphknoten in der Leiste geschwollen und plagt sich andauernd mit großen Furunkeln an den unmöglichsten Stellen herum. Jini hat fast immer Bauchschmerzen. Der Hausarzt tippte auf Blinddarm. Der ist nun raus, die Bauchschmerzen sind geblieben. Im Krankenhaus sagte man mir, ihr Lymphsystem sei nicht in Ordnung. Immer wenn ich das Wort höre, schrillt in mir eine Alarmglocke. Aber wie soll ich das den Ärzten erklären?

Ich bin in den Keller heruntergestiegen und habe mir das schwierige Wort »Pentachlorphenol« von einem Kanister Holzschutzmittel abgeschrieben. Ich habe mich sogar getraut, meinen Arzt darauf hinzuweisen. Er und seine Weiße-Kittel-Kolkgen wissen aber nichts damit anzufangen. ... Ich weiß es jetzt! Mein Mann weiß es, die Kinder wissen es, Tausende wissen es jetzt: Holzschutzmittel machen Menschen krank!

Ich weiß auch, daß ich nicht alle aufgetretenen Krankheitserscheinungen nur darauf zurückführen kann. Aber ich kann jetzt sondieren: dieses Symptom ja, jenes nein. Es ist nicht mehr so unheimlich, was in den letzten Jahren vorgegangen ist. Trotzdem ist es unfaßbar - laut und im Innern sage ich mir immer wieder: Das gibt es doch gar nicht. Was soll jetzt geschehen? Wie werden wir wieder gesund? Meinem Mann Volker ist morgens übel bis zum Erbrechen; Olivers Furunkel haben einer üblen Gehörganguereiterung Platz gemacht; Peer kommt immer öfter mit heftigen Kopfschmerzen und einer bleiernen Müdigkeit aus der Schule zurück, schläft mit Kopfschmerzen ein und wacht mit Kopfschmerzen auf. Yvette schmerzt der ganze Körper, sie hat — ohne ersichtlichen Grund — Fieberanfälle bis zu 40 °C;Jini hat immer noch Bauchschmerzen und klagt über Schmerzen in den Gelenken, ist manchmal müde bis apathisch und leidet unter Depressionen.

Daß Kinder so etwas ertragen müssen, ist nicht normal. Ich empfinde das als Kindesmißhandlung. Das darf nicht unbestraft bleiben. Und da gibt es noch unser Haus. Ein Fachwerkhaus, idyllisch im Bergischen Land gelegen, das wir zusammen mit meinen Eltern in jahrelanger Arbeit renoviert haben. Außen und innen Holz: Balken, Fußböden, Wandverkleidungen. Allein im Innenbereich wurden etwa 150 Liter Holzschutzmittel verstrichen. Ich hatte mich darauf spezialisiert, die angebotenen Farbtöne so zu mischen, daß die vorhandenen Balken aus Eiche, Buche oder Fichte die gleiche Tönung bekamen.

Es war unheimlich gemütlich in unserem Haus. Jetzt ist es nur noch unheimlich. Seit vier Monaten steht es leer; wir haben uns ein Notquartier besorgt und leben zu sechst auf 50 Quadratmetern.

»Amtlich geprüft, anerkannt und überwacht«

In den siebziger Jahren erreicht die Do-it-yourself-Welle im Heimwerkerbereich ihren Höhepunkt. Das Naturprodukt Holz ist Inbegriff der Gemütlichkeit und Geborgenheit und wird im großen Stil zur Verwandlung bisher ungenutzter Dachböden in Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer oder zur Verschönerung der tristen weißen Wände und Decken in Betonbauten verwendet.

Die Holzschutzchemie nutzt den neuen Absatzmarkt und wirbt für ihre Produkte mit großformatigen Anzeigen in Wohn- und Bauzeitschriften. Allen Mitbewerbern voran die Firma Desowag, die ihr Heimwerkerprodukt Xyladecor den Verbrauchern als unverzichtbaren »Naturschutz und Schönheit für Holz« anpreist und dem Produkt eine »nach DIN 68800 amtlich geprüfte, anerkannte und überwachte« Qualität garantiert. Xyladecor ist natürlich nicht mehr auf der Basis von Chlor-naphthalinen konzipiert; dafür wirken darin - ebenso gefährlich und dioxinverseucht - das Pilzgift Pentachlorphenol und das Insektengift Lindan. Aber das steht nicht in der Anzeige.

Die Werbung hat Erfolg: Tausende verstreichen Xyladecor in ihren Wohnungen und Häusern, und Tausende leiden unter schleichenden Holzschutzmittelvergiftungen. Erstmals berichten auch Tageszeitungen und Fernsehen über die neuen Krankheiten. Die Betroffenen erkennen sich in den veröffentlichten Erkrankungsfällen wieder und stellen an Holzschutzmittelhersteller und Bundesgesundheitsamt (BGA) die ungläubige Frage, ob es denn möglich sein kann, daß Holzschutzmittel die Ursache ihrer Gesundheitsschädigungen sind.

Bis Ende 1978 erreichen allein die Desowag viertausend Anfragen mit detaillierten Schilderungen von Erkrankungen, die nach der Verwendung von Xylamon- und Xyladecor-Holzschutzmitteln aufgetreten sind.27

»... konnte der Beweis, daß PCP-haltige Holzschutzmittel Gesundheitsschäden verursachen, nicht erbracht werden«

Dem Marktführer unter den Holzschutzmittelherstellern, der Desowag, bleibt es vorbehalten, in ihrem Sinne Einfluß auf die Bundesregierung und das Bundesgesundheitsamt (BGA) zu nehmen, weil man einen Umsatzrückgang des profitbringenden Holzschutzmittelgeschäftes befürchtet. Mit Schreiben vom 12. und 31. Oktober 1977 wendet sich der neue Geschäftsführer Dr. Kurt Steinberg an den Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit und bittet um Aussprache zum Thema Holzschutzmittel und PCP.28 Die Experten, die an einem Folgegespräch teilnehmen sollen, werden sogleich mit benannt: Dr. Willeitner, u. a. Mitarbeiter beim Institut für Bautechnik Berlin; Dr. Kunde vom BGA; Prof. Dr. Henschler, Vorsitzender der MAK-Werte-Kommission; Prof. Dr. Einbrodt, Institut für Chemie und Arbeitsmedizin der Hochschule Aachen; Dr. Kramer von der Dynamit-Nobel, einziger deutscher Hersteller von PCP, sowie Dr. Löhnert, Chemische Fabrik Weyl, Dr. Metzner, Desowag Düsseldorf, und Dr. Krekeler, Werksarzt der Deutschen Solvay-Werke als Vertreter der Holzschutzmittelindustrie.

Die Desowag interpretiert ihren Vorstoß beim Gesundheitsministerium zwar damit, »... daß sie von sich aus daran interessiert war, die aufgeworfenen Fragen zu PCP auf breitester wissenschaftlicher Ebene mit dem Ziel einer abschließenden Klärung zu diskutieren«, in Wirklichkeit ist aber bereits die Zusammensetzung dieser Expertenrunde schon eine Vorentscheidung in Sachen »Unbedenklichkeitserklärung« für Holzschutzmittelgifte im allgemeinen und für PCP im besonderen. 1977 beauftragt das Gesundheitsministerium das »Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene« (WaBoLu) des BGA, in enger Zusammenarbeit mit dem Institut für Bautechnik, Länderbehörden und wissenschaftlichen Einrichtungen, Untersuchungen zur Problematik der Anwendung PCP-haltiger Holzschutzmittel durchzuführen. Daraufhin wird im BGA eine Ad-hoc-Sachverständigenkommission »Holzschutzmittel (PCP) in Innenräumen« gegründet. Aufgabe der Kommission ist, auf der Grundlage von Fachliteratur und den erhobenen Befunden des WaBoLu bei ca. 1000 exponierten Personen zu klären, ob die vorgetragenen Gesundheitsbeschwerden mit der Verwendung PCP-haltiger Holzschutzmittel im Innenbereich in Verbindung gebracht werden können. Ein Blick auf das Verzeichnis der Kommissionsmitglieder zeigt neben den oben genannten Vertretern der Holzschutzmittelindustrie sowie Mitarbeitern des BGA u. a. auch die als industriefreundlich bekannten Sachverständigen Prof. Dr. Greim von der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung, Prof. Dr. Koransky von der Universität Marburg und Prof. Dr. Valentin vom Institut für Arbeits- und Sozialmedizin der Universität Erlangen.29

Trotz des Widerstandes einiger engagierter Sachverständiger wie zum Beispiel Prof. Dr. Körte und Dr. Harun Parlar, endet der Schlußbericht der Ad-hoc-Kommission - wie nicht anders zu erwarten - mit einem Freispruch für PCP und damit für die weitere Anwendung von Holzschutzmitteln im Innenbereich

»Die ärztlichen Untersuchungen und die überprüften klinisch-chemischen und hämatologischen Funktionsparameter ergaben keine Hinweise auf ein signifikant häufigeres Auftreten abnormer bzw. krankhafter Befunde bei Personen mit nachgewiesener erhöhter PCP-Exposition.«30

Damit scheint die Desowag ihr Ziel einer amtlichen und damit offiziellen Unbedenklichkeitserklärung für Holzschutzmittel erreicht zu haben.»Alte Kunden«, die über Gesundheitsstörungen klagen, werden mit einem Zitat aus dem Abschlußbericht der Ad-hoc-Kommission abgefertigt und damit auf eine Stufe mit eingebildeten Kranken und Spinnern gestellt:

»... Bei Beachtung aller Umstände und Sachverhalte konnte der Beweis, daß PCP-haltige Holzschutzmittel Gesundheitsschäden verursachen könnten, nicht erbracht werden.«31


Ein kurzer Triumph, wie sich herausstellt, denn bei der Erfolgsberechnung wird der Faktor Mensch vergessen. Menschen und menschliche Schicksale haben aber für die Geschäftsführung der Desowag noch nie einen Stellenwert besessen. Zur Erinnerung: »Da behandeltes Holz nicht verzehrt wird ...«

»Die Stärke der Geschädigten ist ihre Kreativität«

Es ist Samstag, der 27. Februar 1983. Die Sonne scheint, und es ist fast sommerlich warm an diesem Tag. Aus verschlafenen Seitengäßchen strömen Menschen in den Saal der Evangelischen Studentengemeinde in Bonn und suchen sich einen Sitzplatz vor dem aus Tischen zusammengestellten Podium. Als das Stühlerücken verebbt, ist es sehr ruhig im Raum, die Gesichter der Frauen und Männer sind bleich, wirken angespannt, und ihre Augen blicken erwartungsvoll nach vorne.

»Mein Name ist Monika Zimmermann, ich bin Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz und heiße Sie herzlich willkommen«, sagt eine junge Frau hinter dem improvisierten Podium freundlich. »Ich freue mich, daß so viele von Ihnen die Kraft gefunden haben, hierher zu kommen.«

Sie haben alle viel Kraft aufbringen müssen, die Menschen, die sich hier versammelt haben. Sie haben miterleben müssen, wie ihre Gesundheit, die Gesundheit ihrer Männer, ihrer Frauen, ihrer Kinder immer mehr vor die Hunde geht, wie verdammt allein man bei der ergebnislosen Suche nach der Ursache ist, wie Ratlosigkeit in Resignation und Depression umschlägt, weil niemand helfen kann.

Aber an diesem Tag wissen sie. Sie wissen, daß sich das Leben der hier Versammelten durch Holzschutzgifte drastisch geändert hat. In diesem Kreis wird keiner maliziös lächeln, sie verständnislos ansehen. Der jahrelange psychische Druck löst sich. Sie stehen auf, einer nach dem anderen, und schildern ihren Leidensweg. Sie berichten ruhig, um Sachlichkeit bemüht. Wenn die Erinnerung sie einholt, gerät die Stimme ins Stocken, wird von Tränen erstickt.

»Ich habe das Gefühl, drei- bis viermal in der Woche zu sterben. Deshalb stehe ich oft mitten in der Nacht auf, um meinem Mann die Hemden für meine Beerdigung zu bügeln.«32

Minutiös beschreiben sie die Symptome der chronischen Holzschutzmittelvergiftung: Starkes Schwitzen, Abmagerung, stechende Bauchschmerzen, Herzrhythmusstörungen, Sehstörungen, Juckreiz, Muskel- und Knochenschmerzen, Haarausfall, Bindehautentzündungen, Kopfschmerzen, Rachen- und Mandelentzündungen, geschwollene Lymphknoten, Bronchitis, Müdigkeit, Schwindelanfälle, Taubheitsgefühle, Antriebslosig-keit, Leistungsminderung, Aggressionen, Depressionen und so weiter und so weiter.

Die jahrelange Verseuchung mit Holzschutzgiften hat Spuren hinterlassen: Krankhaft veränderte Leber- und Immunsystemwerte, immer wiederkehrende Ekzeme, vorher nie dagewesene rheumatische Beschwerden, schwerste Schädigungen wie Leukämie, Aplastische Anämie, Multiple Sklerose, Morbus Hodgkin. Ein 13 Monate altes Kind wird von seinen Eltern morgens schweißnaß und verkrampft in seinem Bettchen aufgefunden. Das Kind ist tot. Zimmerdecke und Wände des liebevoll hergerichteten Kinderzimmers wurden mit Holzschutzmitteln gestrichen.

Eine Zeitlang herrscht bedrücktes Schweigen. Dann ergreifen die geladenen Referenten das Wort. Sie erklären, wie die Holzschutzgifte PCP und Lindan in den Körper gelangen und was sie dort anrichten, wie die Gifte die gesamte Wohnung verseuchen, wie und wo sie analytisch aufgespürt werden können und wie es mit dem Recht auf Schadenersatz steht.

In der anschließenden Diskussion ergeben sich viele Fragen: Wie soll es weitergehen? Wer bemüht sich um sachkundige Ärzte? Wer beantwortet die Briefe Betroffener? Wer erstellt eine Dokumentation der Gesundheitsschädigungen durch Holzschutzmittel? Wer bereitet ein weiteres Treffen vor?

Spontan wird von sieben Teilnehmern eine Arbeitsgruppe gebildet, die unmittelbar nach der Tagung ihre Arbeit aufnimmt. In kürzester Zeit werden grundlegende wissenschaftliche Arbeiten über die Toxikologie von Holzschutzgiften beschafft und erste Informationen für Betroffene erarbeitet.

Am 4. Mai 1983 wird in Hamburg die Interessengemeinschaft der Holzschutzmittel-Geschädigten (IHG) gegründet. Ziele und Arbeitsschwerpunkte der IHG e. V. sind allen Gründungsmitgliedern schon sehr früh klar: Wehklagen und Lamentieren sind nicht gefragt. Im Vordergrund der Arbeit steht

  • die Hilfe für Holzschutzmittelgeschädigte,
  • die Sammlung wissenschaftlicher Arbeiten über Holzschutzmittelgifte als Basis einer fundierten Argumentation,
  • und die über öffentliche Medien breit gestreute Aufklärung über die Gefährdung durch Holzschutzmittel.

Um die große Bedeutung der Berichterstattung in Tageszeitungen, Illustrierten und im Fernsehen wissen Holzschutzmittelgeschädigte nur zu gut. Den Teilnehmern der Zusammenkunft in Bonn sind erst durch den Bericht »Gefahr im Gebälk«, geschrieben von der Wissenschaftsjournalistin Elvira Spill und veröffentlicht im stern, Ausgabe Dezember 1982, die Augen geöffnet worden. In den präzise aufgeführten Krankheitssymptomen und Schicksalen, die andere Menschen durch Holzschutzmittel erleiden mußten, erkennen sie ihren eigenen Leidensweg wieder, ziehen sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf und setzen ihre Kraft dafür ein, die bestehenden Verhältnisse zu ändern.

»Holzschutzmittel? Das Thema ist doch innerhalb eines Jahres abgelutscht, erledigt«, prognostiziert Mitte der achtziger Jahre ein Vertreter der Holzschutzindustrie am Rande einer IHG-Veranstaltung. »Das vergessen Sie besser, davon haben Sie nur Scherereien.« Die Prognose erweist sich wieder einmal als falsch. »Scherereien« kommen jetzt auf die Industrie zu: David ist gegen Goliath angetreten.

Nachtrag zu den Tagebuchaufzeichnungen der Helga Zapke

... Dezember 1992. Den stern-Bericht über Holzschutzmittel haben wir nur kurz überflogen. Wir ahnten eigentlich, daß Holzschutzmittel uns ebenso heimtückisch vergiftet hatten wie die Menschen in diesem Artikel, aber das wollten wir eine Zeit lang einfach noch nicht wissen. In einer der folgenden stern-Ausgaben war ein Leserbrief von einer Frau Zimmermann vom Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz veröffentlicht, in dem Betroffene zu einem Treffen eingeladen wurden. Wir meldeten uns an und fuhren hin. Wir waren ergriffen von den Schilderungen der Teilnehmer, begriffen, was die Gifte in uns angerichtet hatten, spürten die Notwendigkeit, etwas zu tun, und wollten mitarbeiten. Wir engagierten uns in der Arbeitsgruppe, begannen Fachliteratur zu lesen, telefonierten mit Toxikologen, Medizinern, Chemikern, Analytikern, machten uns ein wenig klüger.

Das neue Wissen kursierte innerhalb der Arbeitsgruppe, wurde ständig ergänzt und an Betroffene weitergegeben.

... Frühjahr/Sommer 1983. Die Berichte der analytischen Untersuchungen mehrerer Holz-, Hausstaub-, Wandputz- und Textilproben aus unserem Haus liegen vor. Ergebnis: Hohe Belastungen mit PCP und Lindau. Hohe Konzentrationen der Gifte auch in Urinproben der Eltern und Kinder.
Als im Spätsommer eine Blutuntersuchung den Verdacht bestätigt, daß wir auch mit Dioxinen vergiftet sind, verlassen wir unser Haus.Der Umzug ist leicht. Außer den Kleidern, die wir anhaben, wird nur das Nötigste mitgenommen: Die Kinder tragen ihre Schulsachen und jeder ein Lieblingsspielzeug, wir selbst ein Köfferchen mit den nötigsten Papieren.

.... Es ist eng in den kleinen Dachzimmern unseres Ausweichquartiers. Die Jungen sind im ehemaligen Schlafzimmer der vorherigen Bewohner untergebracht. Das große Ehebett, der Kkiderschrank und die Frisierkommode mit dreiteiligem Spiegel stammen aus den fünfziger Jahren und lassen nicht viel Platz zum Spielen. Die Mädchen richten sich im ehemaligen Eßzimmer ein. Um Platz für die Betten zu schaffen, müssen Tisch und Stühle in den Keller geschafft werden. Die Küche ist winzig. Zum gemeinsamen Essen drängeln sich alle eng um ein kleines Tischchen. Wir selbst schlängeln uns im Wohnzimmer um eine Anrichte mit Glastüren, Sofa, Couchtisch, zwei rote und einen blauen Cocktailsessel, das Radio mit magischem Auge auf einem Nierentischchen und ein Sideboard, das mit kreuzweise abgestepptem, goldfarbenem Kunststoff ausgeschlagen ist. Zum Schlafen wird das Sofa aufgeklappt und eine Campingliege aufgeschlagen.

... Mit der manchmal bedrängenden Enge werden alle gut fertig, und mit der Gesundheit geht es, von allen spürbar, langsam, aber sicher bergauf. Keine Bauchschmerzen mehr, keine Furunkel, keine Kopfschmerzen. Nach drei, vier Monaten hören wir wieder Kinderlachen — wir wußten gar nicht mehr, wie schön das klingt. Das Lachen beflügelt uns bei der Arbeit für die IHG, und wir sind unseren Freunden dankbar, daß wir hier wohnen können. Die Tage sind mit Vorbereitungen für Veranstaltungen, Gesprächen mit Journalisten, Interviews, Briefe schreiben und telefonieren so ausgefüllt, daß oft die Zeit zum Kochen fehlt.

... An unserem verlassenen Haus gehen wir oft vorbei und schauen über den Zaun wie in Nachbars Garten. Alles zusammengerechnet, der Wert des Hauses, Kosten für Abriß und Wiederaufbau, das vollständig darin verbliebene Inventar, Bücher, Sammlungen und ein kleines Schmerzensgeld für die Familienmitglieder ergibt eine Summe von über einer Million DM. Die wollen wir von den Verursachern zurückfordern und bereiten zusammen mit unserem Rechtsanwalt die Klageschrift vor. Die Risiken und Unwägbarkeiten einer Schadenersatzklage sind uns bekannt. Gestützt auf einschlägige Urteile und wissenschaftliche Arbeiten über die Toxikologie von PCP, Lindan, Dioxinen und Furanen, sind wir sicher, auch den schwierigen juristischen Beweis dafür antreten zu können, daß die Erkrankungen der Familie ausschließlich auf die verwendeten Holzschutzmittel zurückzuführen sind. Vor Ablauf der dreijährigen Verjährungsfrist reichen wir bei dem Landgericht Köln Klage gegen die Holzschutzmittelhersteller Desowag und Weyl-Chemie ein.

»... äußerst geschickt inszenierte, einseitige und demagogische Indoktrination der Bevölkerung von der Nordsee bis zu den Alpen«

Die Pressearbeit der IHG e. V. zeigt Erfolg. Erscheinen im Gründungsjahr 1983 gerade einmal fünf Berichte über die wirklichen Gefahren von Holzschutzmitteln, sind es 1984 schon 150 und in den darauf folgenden Jahren weit über tausend. Die Resonanz der Menschen, insbesondere nach Fernsehbeiträgen zum Thema Holzschutzmittel, ist überwältigend. In Spitzenzeiten erreichen die IHG innerhalb weniger Tage bis zu 3000 Anfragen.

Das Wort »Holzschutzmittel« ist von nun an für alle Zeiten untrennbar verbunden mit dem Begriff »Gesundheitsgefährdung«. Immer mehr Betroffene finden den Mut, öffentlich aufzutreten und zu sagen: Ich gehöre zu den Holzschutzmittelgeschädigten. Der Desowag-Geschäftsführung werden die Aktivitäten der IHG unheimlich, ihre Produkte geraten in Verruf, der Umsatz geht zurück. An die sich bietende Möglichkeit, jetzt Fehler einzugestehen und dadurch verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen, verschwendet man in der Führungsetage keinen Gedanken. Nein, da hat man bessere Ideen.

Nach jedem größeren Bericht über Holzschutzmittelschädigungen erscheinen nun Leserbriefe der Desowag in den Tageszeitungen. Wie gehabt, ist man in der Wortwahl nicht zimperlich: »Was die IHG da wieder einmal vom Stapel gelassen hat, ist ein weiteres beklemmendes Beispiel für ihre äußerst geschickt inszenierte, einseitige und demagogische Indoktrination der Bevölkerung von der Nordsee bis zu den Alpen.«

1987 informiert die Desowag in einer bundesweit gestreuten Tageszeitungsanzeige zum »Thema Holzschutz«: »Immer mehr Leser, aber auch Rundfunkhörer und Fernsehzuschauer fragen uns: Was stimmt denn nun?« will der Desowag-Sprecher Hans-Jürgen Hennecke wissen und hat auch gleich den Schuldigen dafür gefunden, warum die Medien berichten, daß geschütztes Holz im Haus krank macht, alles herausgerissen und auf der Sondermülldeponie entsorgt werden muß. »Informant der Medien für derartige Berichte ist in der Regel eine Bürgerinitiative (IHG), deren Mitglieder und Anhänger überzeugt sind, >holzschutzmittelgeschädigt< zu sein. Ein grausamer Irrtum, der schon zu kostspieligen >Haussanierungen< geführt hat und die ernsthafte Suche nach den wirklichen Krankheitsursachen verhindert.« Nach der unverfrorenen Lüge, daß sich bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts an der Erkenntnis geändert habe, daß es keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Holzschutzmittelverwendung und den »behaupteten« Erkrankungen gäbe, wird Herr Hennecke persönlich: »Ich habe schließlich selber eine Familie und würde doch in meinem Haus auch alles rausreißen, wenn diese schlimmen Behauptungen zutreffend wären.« Zum krönenden Abschluß dieser Aufklärung wirbt er schließlich dreist mit dem Argument der gesundheitlichen Unbedenklichkeit für die »bekanntesten und meistgekauften Markenprodukte dieser Art: Xyladecor und Xylamon.«33

Da Holzschutzmittelhersteller als Beweis für die Unschädlichkeit ihrer Produkte ausschließlich die Ergebnisse der BGA-Untersuchungen anführen und die Ausführungen ihrer »Experten« zitieren, müssen sie entweder ein riesiges Informationsdefizit haben oder anderslautende, nicht genehme Ergebnisse von Untersuchungen bewußt unterdrücken. Die Auswertung wissenschaftlicher Literatur zur Toxikologie von Holzschutzmitteln bestätigt der IHG mit jeder neu aufgeschlagenen Seite die Gewißheit, daß die aufgetretenen Erkrankungen eben doch durch Holzschutzmittel hervorgerufen werden. Untersuchungen großer Patientenkollektive durch niedergelassene Ärzte kommen zum gleichen Ergebnis. Von der IHG e. V. ausgerichtete Fachtagungen bewirken die Vereinheitlichung analytischer Untersuchungsmethoden und Ergebnisbewertungen sowie die Koordination von Vorgehensweisen in Schadenersatzverfahren.

Die Erkenntnisse werden in Gesprächen mit Abgeordneten und Ministerien auf Landes- und Bundesebene politisiert. In der Folge werden in Ausschüssen des Bundesumwelt- und Bundesgesundheitsministeriums die Themenbereiche »Hilfe für Chemikaliengeschädig-te«, »Maßnahmen gegen Gesundheitsgefährdung und Umweltbelastung durch Dioxine« und weitere erörtert. Die IHG entsendet Vertreter in Fachausschüsse zur Vorbereitung des PCP-Verbots, der Teerölverbotsverordnung, der Arbeitsgruppe für Ersatzstoffe anstelle von Chromaten in Holzschutzmitteln und weitere.

Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, bekräftigt in einem außerordentlich konstruktiven Gespräch unter anderem, daß die tatsächlichen Anhaltspunkte für Schädigungen durch Holzschutzmittel für das Bundesumweltministerium (BMU) eindeutig feststehen. Darüber hinaus wird das BMU die IHG e.V. bei ihren Bemühungen um eine Zusammenarbeit mit dem Bundesgesundheitsamt und in anderen Bereichen unterstützen.34

Fast dreieinhalb Stunden dauert die Gesprächsrunde, zu der die IHG e. V. die Geschäftsführung des Holzschutzmittelherstellers Desowag ins Kölner Dom-Hotel eingeladen hat. Ziel des Treffens ist eine Annäherung der konträren Standpunkte und die Versachlichung der verwendeten Argumente.

Fritz Hagedorn, Desowag-Geschäftsführer, beklagt sich über die persönlich verletzende Weise, mit der Mitarbeiter in Schreiben Betroffener angegriffen werden, lamentiert über die nun Jahre andauernde Medienkampagne, die den Produktnamen Xyla... ruiniert und zu einschneidenden Umsatzeinbußen geführt habe. Seine Begleiter, Herr Carl und Herr Hennecke, nicken zustimmend und tragen zum wiederholten Mal die Überzeugung der Desowag vor, daß ihre Markenprodukte als Ursache für die Erkrankungen der Betroffenen nicht in Frage kommen.35 Unter dem Strich bleibt als Ergebnis des Gesprächs außer dem Abbau von Feindbildern lediglich eine gemäßigtere Wortwahl in der Öffentlichkeit und in Schreiben der Desowag zu vermelden. Die andiskutierte Fortsetzung der Gesprächsrunde ist nie zustande gekommen.

Im Februar 1984 stellt die IHG e. V. Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt gegen Unbekannt »wegen Verdacht eines Vergehens §§ 223 ff. StGB im Zusammenhang mit der Produktion, dem Vertrieb und der Anwendung von mit chlorierten Kohlenwasserstoffen belasteten Holzschutzmitteln«. Etwa 3000 Holzschutzmittelgeschädigte schließen sich der Anzeige an. Bis zur Eröffnung des Verfahrens vergehen acht Jahre, bis zur Verurteilung der Desowag-Geschäftsführer durch das Landgericht Frankfurt ein weiteres Jahr.36

An einem der Verhandlungstage treffen IHG-Vertreter Herrn Hagedorn auf dem Gang des Landgerichts. Das Verfahren ist nicht spurlos an ihm vorbeigegangen - er sieht blaß und gealtert aus, geht gebückt. Während der gesamten Dauer des Verfahrens hat er, ebenso wie der mitangeklagte ehemalige Geschäftsführer Steinberg, bis zur eigenen Einlassung kurz vor Ende des Verfahrens stumm auf der Anklagebank gesessen. Jetzt sucht er das Gespräch, erzählt mit leiser Stimme von einer Erkrankung, die er durchgemacht hat, spricht von seiner Hoffnung auf ein faires Verfahren und auf einen guten Ausgang.

Fritz Hagedorn hat an allen 67 Sitzungstagen ein faires Verfahren bekommen.
33 Holzschutzmittelgeschädigte sind als Zeugen von der Strafkammer geladen worden. Alle haben ihre tragischen Schicksale weitgehend emotionslos und sehr sachlich geschildert. Niemand hat einen Vorwurf gegen Herrn Hagedorn oder die Firma Desowag erhoben. Bei der Strafzumessung hat die Umweltstrafkammer unter Vorsitz von Dr. Seibert äußerste Milde walten lassen: ein Jahr Freiheitsstrafe, auf Bewährung ausgesetzt, und eine kleine Geldbuße von 120 000 DM.

Was Fritz Hagedorn übelzunehmen ist, sind die Stasi-Methoden, mit denen Informanten, getarnt als Mitglieder, in die IHG geschleust werden, um an sonst für die Firma nicht zugängliche Unterlagen zu kommen. Dieses Vorgehen hat er als Geschäftsführer zumindest billigend in Kauf genommen. Zu verantworten hat er auch die Skrupellosigkeit, welche die Untergrundtätigkeit bei diesen »U-Booten« auslöst. Im März 1984 schreibt zum Beispiel eine Frau Kampmann

»Mit Interesse habe ich über Ihre Interessengemeinschaft gelesen. Ich möchte daher Mitglied werden und bitte um entsprechende Unterlagen.«37 Fünf Jahre lang arbeitet das IHG-Mitglied Kampmann für die Desowag, besucht IHG-Veranstaltungen, sammelt Unterlagen und fertigt detaillierte Wortprotokolle der Mitgliederversammlungen an, die sie umgehend an die Herren Hagedorn, Steinberg und Carl weiterleitet.

Die Berichte gehen im Umlaufverfahren zur Begutachtung an den Solvay-Werksarzt Dr. Krekeler und zur Kenntnisnahme an die Rechtsanwälte Kicker und Klappich weiter, welche die Desowag in Schadenersatzverfahren vertreten. So zum Beispiel auch das Wortprotokoll der Mitgliederversammlung 2S./29. 6. 1986

»Von Herrn Carl war meine Teilnahme an sich nur am 2. Tag gewünscht, wir (mein Mann hat mich begleitet) sind jedoch an beiden Tagen dagewesen, was sich auch als sinnvoll erwies.
... Ich hatte nicht den Eindruck, daß ich als DBH-(Desowag-Bayer Holzschutz) oder Solvay-Mitarbeiterin erkannt worden bin. ... es handelte sich bei fast allen Anwesenden um nette, aufgeschlossene >Durchschnittsbürger <, die in keiner Weise Auffälligkeiten aufwiesen, jedoch aufgrund ihrer Aussagen stark betroffen sind, teilweise ganze Familien.«

Die Kampmanns sind keine Profis. Vom Podium des IHG-Vorstandes ist das genau zu sehen. Sie schreiben emsig. Geht einer von ihnen zur Toilette, schreibt der andere weiter. Niemand der Anwesenden schreibt so viel. Das ist besonders auffällig, wenn sie Notizen von solchen Fakten machen, die den übrigen Teilnehmern längst bekannt sind. Sie notieren alles: Daß der Versammlungsbeginn sich um eine halbe Stunde verzögert hat, den Tätigkeitsbericht des Vorstandes, die Wortmeldungen der Mitglieder, den aktuellen Kassenstand usw. Am Ende des zweiten Tages kommen bei Frau Kampmann Bedenken an der Rechtmäßigkeit ihres Tuns auf. Sie schließt den Bericht an die Desowag-Geschäftsführung mit den Worten:

»Auch ich wurde wieder gefragt, ob ich bereit wäre, mich mehr zu engagieren. Habe dies abgelehnt. Wäre auch wohl nicht schwierig gewesen, mich in den erweiterten Vorstand, natürlich mit Übernahme irgendwelcher Arbeiten, zu schleusen. Dies möchte ich aber nicht.«38

1989 kündigt Frau Kampmann ihre Mitgliedschaft in der IHG.

Auch einige der Desowag-Konkurrenten auf dem eng gewordenen Holzschutzmittelmarkt leisten bereitwillig Spitzeldienste und informieren Herrn Hagedorn umgehend schriftlich oder telefonisch über jedes, ihnen im Zusammenhang mit der IHG wichtig erscheinende Ereignis. Andere Informanten werden zur Ausforschung des privaten Bereiches von IHG-Vorstandsmitgliedern angesetzt.

Im Mittelpunkt des Desowag-Interesses steht dabei auch die Familie Zapke, die als Initiator der sogenannten Medienkampagne und als Krebsgeschwür angesehen wird, dessen »Metastasen« die Geschäftsführung in mehr und mehr Berichten zu sehen glaubt. Man überlegt, wie man diese Quelle verstopfen kann, und will dafür auf eine noch zu erstellende Sammlung direkter und indirekter Äußerungen zurückgreifen.39

Am 19. Juli 1984 notiert sich Herr Hagedorn: »Herr Zapke in Berlin. Veranstaltung Stiftung Warentest (richtig: Stiftung Verbraucherinstitut), im Juli 84 mit Herrn Marx: - Kettenraucher! - Trinker!«40 Herbert Marx ist Mitarbeiter des Holzschutzmittelherstellers Wolmann. Am Abend nach der Veranstaltung sitzt Herr Marx mit Familie Zapke und anderen Teilnehmern in einem nahegelegenen Biergarten. Man redet zwanglos miteinander, raucht, ißt und trinkt. Das reicht für die Abstempelung als Kettenraucher und Trinker aus, ist unter Umständen als Diffamierung der bespitzelten Person verwendbar und wird Herrn Hagedorn daher umgehend telefonisch mitgeteilt.

Dann möchte die Desowag wissen, ob das Haus der Zapkes noch bewohnt ist oder wieder bewohnt wird, und schickt einen Herrn von Spee, um Erkundigungen einzuholen.

Unglücklicherweise wird der Herr direkt mit Zapkes konfrontiert. So reicht es nur zu einer kurzen Aktennotiz, daß die Familie im Nachbarhaus wohnt und »daß an das Fachwerkhaus ein Stück angebaut wird«.41 Immerhin gelingt es Herrn von Spee, unbemerkt einige Bildchen vom Haus zu knipsen.

Die bemerkenswerteste der vielen Spitzeleien ist allerdings der Besuch eines Herrn Rolf Oehme am 3. Juni 1985 im Hause der Zapkes.42 Herr Oehme stellt sich als vereidigter Sachverständiger für Lacke und Farben sowie als freier Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Pigmente und Lacke in Stuttgart vor und hat gleich den Kollegen Hans Lowey von der Beratungsstelle des Maler- und Lackierer-Innungsverbandes Nordrhein in Köln mitgebracht. Er sagt, daß er die Medienberichte über Holzschutzmittel gelesen habe und den Betroffenen gerne helfen möchte. Wie er das machen will, führt er nicht weiter aus.

Nach einem längeren Gespräch gehen die Herren durch das Haus, ziehen eine Luftprobe, nehmen ein paar Holzspäne von behandelten Balken und ein Stück alter Zeitung mit. Bei der Verabschiedung versprechen sie, Zapkes die Ergebnisse der Untersuchungen so bald wie möglich mitzuteilen. Auf welche Stoffe die Proben untersucht werden sollen, bleibt im dunkeln.

Einen Monat später erscheint Rolf Oehme zur Berichterstattung über diesen Besuch bei der Desowag. Er bezeichnet das stattliche Fachwerkhaus als Armebauernhaus, beschreibt Zapkes als Ostvertriebene und ihren Zustand als depressiv. Als Hysteriker habe man ihnen bereits die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt nahegelegt. Zapkes hätten, verstört durch Publikationen in den Massenmedien, ihre Beschwerden eindeutig den verwendeten Holzschutzmitteln zugewiesen und seien, nach erfolglosen Konsultationen verschiedener Ärzte, aus Enttäuschung über die Schulmedizin an die Öffentlichkeit getreten. Herr Oehme vermutet als Ursache der Beschwerden eine Allergie auf Pilzsporen und Milbenkot, da die durchgeführten Messungen mit Gasmaus und Aktivkohlefilter keinen Hinweis auf chlorierte Kohlenwasserstoffe erbracht hätten. Die sind mit einer kleinen Gasspürpumpe und einfachster Analyse auch nicht zu ermitteln - aber das liegt außerhalb des Erfahrungshorizonts von Oehme.

Zur Besprechung hat Oehme einen Gast mitgebracht. Dr. Ricklefs ist Arzt für Allgemeinmedizin, der sich mit Schwermetallen und Pilzen befaßt. Er berichtet, daß er Verbindungen zur Deutschen Gesellschaft für Wohnmedizin hat und den Kontakt mit dem Bremer Umweltinstitut sowie der Arbeitsgruppe um Dr. Butte an der Universität Oldenburg pflegt. Er erwähnt, daß die Letztgenannten inzwischen an der Gesundheitsgefährdung durch Holzschutzmittel zu zweifeln begännen. Ricklefs möchte sich als Wohnmediziner mit dem Fall Zapke befassen, wobei sein Hauptaugenmerk der Untersuchung von Hausstaub auf Sporen und Milbenexkremente gilt. Darüber hinaus will er auch die psychisch vorbelasteten Holzschutzmittelanwender untersuchen.43 Einen Vorschlag zur Sanierung des »pilz- und milbenkot-verseuchten« Fachwerkhauses hat Ricklefs auch schon parat: »Wenn man das ganze Haus innen mit PCP-haltigen Holzschutzmitteln streichen würde, spritzen würde, und die Ritzen alle tränken würde, dann wäre es vielleicht ein gesundes Haus.«44

An dem Vorhaben sollen sich auch das Hygiene-Institut Bremen, die schon genannte Arbeitsgruppe Butte und die Universität Bremen beteiligen. Als Tarnadresse und offiziellen Auftraggeber denkt Ricklefs an die Deutsche Gesellschaft für Wohnmedizin, der er als Vorstandsmitglied angehört.45

Ein wahrhaft teuflischer Plan, bei dessen Realisierung die Desowag in die Lage versetzt worden wäre, die von den eigenen Produkten Geschädigten durch gekaufte Experten selbst zu begutachten.

Nachtrag zu den Tagebuchaufaeichnungen der Helga Zapke.

...Drei Jahre hat es gedauert, bis der Umbau des ehemaligen Kuhstalles an unserem verseuchten Haus fertig geworden ist. Im Frühsommer 1986 ziehen wir in die lichtdurchfluteten neuen Räume, sind endlich wieder zu Hause und genießen den schönen Sommer.

Kurz vor Weihnachten halten wir das Urteil des Landgerichts Köln in Händen: Wir haben den Prozeß verloren und müssen für Kosten in Höhe von 113 000DM aufkommen.

Der größte Teil des Betrages kann durch einen bundesweiten Spendenaufruf bezahlt werden, und es bleibt noch Geld für einen Holzschutzmittelfonds übrig.

Wir halten Familienrat und entschließen uns, vor der nächsthöheren Instanz, dem Oberlandesgericht (OLG) Köln, Berufung gegen das Urteil einzulegen. Im darauf folgenden Jahr ist der Weihnachtsbaum auf ganz besondere Art geschmückt:
Inmitten der Kerzen und Kugeln hängt an einem roten Band ein zusammengerolltes Blatt Papier - der Beschluß des OLG. Die Berufung ist angenommen. In der Begründung führt das Gericht aus, daß die großflächige Verwendung von Holzschutzmitteln zu Körperschäden führen kann, das Haus daher nicht mehr bewohnbar ist und daß den Beklagten, also den Firmen Desowag und Weyl, die Gefährlichkeit der von ihnen in Verkehr gebrachten Stoffe bereits Anfang der siebziger Jahre hätte bekannt sein müssen.

Alle diese Punkte hatte das LG Köln als erste Instanz verneint und die Klage abgewiesen.
... Der auf unseren Antrag hin ruhende Prozeß wird nach Abschluß der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen im Strafverfahren gegen die Desowag-Geschäftsführer wieder aufgenommen. Das OLG Köln geht in die Beweisaufnahme und läßt das verseuchte Haus auf Schadstoffe untersuchen. Der mit den Messungen beauftragte Technische Überwachungsverein (TÜV) Rheinland führt die Untersuchungen mehr schlecht als recht aus. Trotzdem sind die in behandelten Hölzern und in der Raumluft nachgewiesenen PCP- und Lindan-Konzentrationen noch so hoch, daß uns die Anwälte der Desowag unterstellen, wir hätten vor der Messung mit Pentachlorphenol gefüllte Kübel aufgestellt. Über diese Art der Prozeßführung regen wir uns gar nicht mehr auf. Ahnliche Unterstellungen sind fester Bestandteil der gegnerischen Schriftsätze seit Beginn des Verfahrens.

Nächster Schritt der Beweisaufnahme ist ein medizinisches Gutachten über mögliche Gesundheitsschäden durch die nachgewiesenen PCP- und Lindan-Konzentrationen. Auf Anfrage des Gerichts benennt die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Bonn, als geeigneten Sachverständigen Dr. Thomas Wolff, Institutfür Toxikologie des Forschungszentrums für Umwelt und Gesundheit (GSF) in Oberschleißheim. Gegen Herrn Wolff erheben die Anwälte der Holzschutzmittelhersteller keine Einwände. Wir aber doch, denn bei uns schrillt wieder die Alarmglocke: Ist das nicht der Wolff? Aber der ist doch kein Mediziner, der ist Chemiker! Ja, es ist der Wolff, der uns aus einer Publikation der GSF46 seit 1989 bestens bekannt ist, und er ist Chemiker. Holzschutzmittelinhaltsstoffe, wie z. B. Pentachlorphenol, kommen für Herrn Thomas Wolff als Ursache von Gesundheitsschäden überhaupt nicht in Frage. Dafür sind die in der Raumluft nach einer Holzschutzmittelanwendung nachweisbaren PCP-Konzentrationen nach seinem Verständnis viel zu gering. Bis heute hat er nichts dazugelernt und vertritt die gleiche These noch 1994 auf einem vom Bayerischen Staatsministerium finanzierten Holzschutzmittelkongreß.47 Uns wundert's nicht. Wolffs geistiger Ziehvater ist der Direktor des GSF-Instituts für Toxikologie, Professor Helmut Greim. Bei diesem Stichwort fällt uns ein Beitrag des Fernsehmagazins Monitor ein: Als »von den Auftraggebern geschätzter Sachverständiger«, wird die Koryphäe Greim dort charakterisiert. »Das ist kein Zufall, kommt er doch regelmäßig zu den von Politik und Industrie gewünschten Ergebnissen.« 48

Wir lehnen den »Sachverständigen« Thomas Wolff ab — wegen mangelnder Qualifikation und wegen Befangenheit. Dem OLG wird ein weiterer Sachverständiger genannt. Mit dem sind wir einverstanden, nicht aber die Gegenseite. Die endgültige Entscheidung des Gerichts steht noch aus.

Seit Kauf und Beginn der Renovierung des Fachwerkhauses mit Holzschutzmitteln sind nun über 20 Jahre vergangen. Das verseuchte Haus steht noch genauso da, wie wir es verlassen haben. Wieviel jahre noch vergehen müssen, bis wir wieder so leben können, wie wir es uns damals vorgestellt haben, ist nicht abzusehen. Eine endlose Geschichte?

»... von der Ursächlichkeit der bioziden Inhaltsstoffe der Holzschutzmittel für die geschilderten Krankheiten überzeugt«

»Das Gericht weiß aus eigener Kenntnis in der Beweisaufnahme - indem es die Zeugen gehört hat -, daß die Entfernung der Giftquelle therapeutischen Erfolg hatte, also pragmatisch auf einer richtigen Symptomdeutung beruhte. Insofern haben die klinischen Sachverständigen nur als die ärztlich erfahrenen Sachverständigen anhand von Einzelsymptomen bestätigt, was das Gericht selbständig überprüfen konnte. ... Die weiteren Transformationsschritte von der Diagnose über die Zellfunktion zur Schadstoffquelle kann das Gericht selbst nachvollziehen. Es ist deshalb von der Ursächlichkeit der bioziden Inhaltsstoffe der Holzschutzmittel für die geschilderten Krankheiten überzeugt.« 49

Zur gleichen Überzeugung wie das Landgericht Frankfurt im Holzschutzmittelstrafverfahren kommen in der Folge auch die Gerichte in weiteren Verfahren.

Im Juni 1993 weist der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs die Revision des Fertighausherstellers Hosby gegen ein Urteil des Oberlandesgerichtes (OLG) Nürnberg zurück, in dem das Gericht dem Käufer des Hauses Schadenersatz in Höhe von 403 853,05 DM zubilligt.50 In der Urteilsbegründung stellt das OLG unter anderem fest, daß die in der Raumluft des Hosby-Fertighauses nachgewiesenen Formaldehyd- und Lindankonzentrationen beträchtliche Gesundheitsrisiken darstellen, die das Haus unbewohnbar, unbrauchbar und völlig wertlos machen.51

Das Bayerische Verwaltungsgericht Würzburg verurteilt am 1. August 1994 die Oberforstdirektion Würzburg zur Zahlung von 240000 DM Schadenersatz an den Forstamtmann Lorenz Ringel und seine Familie, die schwere Gesundheitsschädigungen durch die Anwendung von Holzschutzmitteln in dem von ihm bewohnten Forsthaus erlitten haben. In seinem Urteil verpflichtet das Gericht die Oberforstdirektion darüber hinaus zum Ersatz aller Schäden, die der Familie an Körper, Gesundheit, beruflichem Fortkommen und Sachvermögen zukünftig noch entstehen werden. Der Behörde wirft das Verwaltungsgericht Verletzung der Fürsorge- und Schutzpflicht vor.52

Das Urteil wird zum Politikum und beginnt Kreise zu ziehen. Skandalöse Zustände kommen ans Licht: Landwirtschaftsministerien und Oberforstdirektionen sind schon 1977 durch Hinweise der Bundesforschungs-anstalt für Forstwirtschaft über Gesundheitsgefahren durch Holzschutzgifte gewarnt, haben in einigen Fällen sogar Messungen durchführen lassen, die Bewohner der verseuchten Häuser aber weder auf die Gefahren hingewiesen noch ihnen Meßergebnisse mitgeteilt. Wegen der großen Anzahl holzschutzmittelbehandelter Dienstwohnungen wird aus wirtschaftlichen Gründen kein großes Aufsehen gemacht, sondern die Vergiftung Hunderter Beamter stillschweigend hingenommen.

Der zuständige bayerische Minister für Landwirtschaft Reinhold Bocklet legt Berufung gegen das Verwaltungsgerichtsurteil ein. Mit seiner Begründung: »Wie kommen wir denn dazu, hier etwas zu bezahlen, was wir eventuell gar nicht bezahlen müssen«, entfesselt er unter den betroffenen Forstbeamten und Abgeordneten der Landtagsfraktionen einen Sturm der Entrüstung.53

Trotz des Vorwurfs der SPD-Fraktion, daß der Insektenkiller Lindan und das Pilzgift PCP bereits seit Jahren für ihre enorme Giftigkeit bekannt seien, beharrt Bocklet darauf, daß immer noch keine gefestigte wissenschaftliche Erkenntnis über den Kausalzusammenhang zwischen der Anwendung dieser Gifte in Holzschutzmitteln und Gesundheitsschäden besteht. Er beruft sich dabei auf die Aussagen von Experten auf einem Holzschutzmittelkongreß im April 1994. Initiator des Kongresses ist die vom Bayerischen Umweltministerium mit 825000 DM geförderte Projektgruppe »Umwelt und Gesundheit«. Leiter der Projektgruppe ist Professor Helmut Greim, Direktor des Instituts für Toxikologie des GSF-Forschungszentrums in München-Neuherberg.

Der Professor ist als Befürworter von Müllverbrennungsanlagen und als PCP-Gesundbeter bekannt. Auf dem Kongreß läßt er durch seinen getreuen Schüler und Mitarbeiter, den Diplomchemiker Thomas Wolff, die wahre Lehre über PCP und Lindan verbreiten: »Ausgasungen der Gifte« sind als Ursache akuter Vergiftungen oder chronischer Erkrankungen »unwahrscheinlich«, in PCP-behandelten Innenräumen ist »kein kanzerogenes Risiko für den Menschen erkennbar«.

»His Masters Voice«, Thomas Wolff, folgert daraus, daß »der Verdacht, daß PCP-Emissionen aus Holzschutzmitteln Krankheiten verursachen, wissenschaftlich nicht begründbar ist«.54

Nach diesen und ähnlichen Äußerungen des Ministers schaltet sich nun Regierungschef Edmund Stoiber ein und erteilt dem Innen- und Bauminister Günther Beck-stein die Federführung zur Aufklärung des Skandals. Erstes Ergebnis: Bei 4756 Häusern des Freistaates Bayern liegen Hinweise auf Belastungen mit Holzschutzmitteln vor, bei weiteren 8244 staatlichen Gebäuden laufen umfassende Untersuchungen an. Die Sanierung der Objekte wird den Freistaat möglicherweise einen dreistelligen Millionenbetrag kosten.

Der Bayerische Landtag und Abgeordnete der Oppositionsparteien von den Grünen und der SPD fordern daraufhin die Staatsregierung auf, Regreßansprüche gegen Holzschutzmittelhersteller als die eigentlichen Verursacher des Desasters zu stellen.

Auch die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherungsträger kommen einer in § 116 Sozialgesetzbuch (SGB) festgelegten Verpflichtung nach, die ihnen entstandenen Kosten für Heilbehandlungen Holzschutzmittelgeschädigter von den Verursachern zurückzufordern. Die Prüfung der Ansprüche ist noch nicht abgeschlossen.

Für die Holzschutzindustrie türmen sich dunkle Wolken am Horizont auf. Nachdem bereits das Landgericht Frankfurt und wenig später das Landgericht Mönchen-gladbach55 Stellungnahmen und Gutachten des Experten Greim als nicht ausreichend fallbezogen, wissenschaftlich nicht differenziert und nicht überzeugend abgelehnt haben, disqualifiziert das Sozialgericht Reut-lingen einen weiteren, der chemischen Industrie sehr genehmen Experten.

In der Berufsunfähigkeitsklage eines Zimmermannes gegen die Bauberufsgenossenschaft mißt das Gericht dem Gutachten des als Sachverständigen benannten Professors Triebig, Direktor des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin an der Universität Heidelberg, keinen Beweiswert zu. Während Triebig dem Zimmermann Alkoholmißbrauch als Ursache der aufgetretenen Polyneuropathie und weiterer Erkrankungen attestiert, entscheidet das Gericht am 7. Dezember 1994 auf Vorliegen einer Berufserkrankung durch den jahrelangen Umgang mit Holzschutzmitteln.56

 

Eine endlose Geschichte

Gegen die Verurteilung der Desowag-Geschäftsführer durch das Landgericht Frankfurt am 25. Mai 1993 wegen fahrlässiger Körperverletzung haben sowohl die Verteidiger der Angeklagten, die Staatsanwaltschaft Frankfurt als auch die Vertreter der Nebenkläger Revision vor dem Bundesgerichtshof eingelegt.

Am 2. August 1995 hebt der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe auf die Revision der angeklagten Desowag-Geschäftsführer das Urteil des Landgerichts Frankfurt auf und verweist das Verfahren zur erneuten Verhandlung an eine andere Kammer des Landgerichtes. Die Bundesrichter begründen die Zurückverweisung mit der Befangenheit eines Zeugen und bemängeln, daß das Urteil des Landgerichts nicht genügend auf die naturwissenschaftliche Diskussion über Vergiftungen im Niedrigdosisbereich eingeht.57 Allerdings haben die Richter in Karlsruhe ein deutliches Wort zugunsten der Geschädigten gesprochen: das Fehlen einer Dosis-Wirkung-Beziehung, das Unwissen über die genauen Wirkmechanismen von PCP im Organismus bedeute nicht, daß kein schuldhaftes Verhalten der Angeklagten vorliegt und daß die Beschwerden der Geschädigten nicht von Holzschutzmitteln hervorgerufen werden. Die Angeklagten seien demnach nicht freigesprochen, da sich für den Tatrichter die Kausalität erkennen lasse.

Wenn das Verfahren 1996 erneut aufgerollt wird, geht das größte Umweltverfahren in sein 13. Gerichtsjahr -ein gutes Omen für die Geschädigten, da neue sachkundige Gutachter über die Folgen langjähriger Vergiftungen durch die stetige Aufnahme kleinster Giftmengen gehört werden können.

Mit Pentachlorphenol (PCP) und Lindan ist nur ein kleiner Bruchteil giftiger Altlasten erfaßt, unter deren Ausgasungen Menschen seit Jahren leiden müssen. Die große Gefährlichkeit weiterer Stoffe wie zum Beispiel der Phthalsäureester - Weichmacher, die aus Farben, Lacken, Klebern, Kunststoffen ausgasen - und Nitro-moschusverbindungen, die für frühlingsfrischen Duft in Waschmitteln und Kosmetika sorgen, wird weiterhin unter dem Tisch gehalten.

Das immer noch praktizierte Kosten-Nutzen-Denken hat zur Entwicklung einer neuen Gruppe von Insektengiften geführt, die seit Mitte der achtziger Jahre in einem weiteren, großangelegten Menschenversuch getestet wird. Pyrethroide sind die neue Wunderwaffe der chemischen Industrie, die in Flugzeugen, öffentlichen Einrichtungen, Lebensmittel-, Obst- und Gemüseabteilungen von Kaufhäusern, Großküchen, Krankenhäusern, Altenheimen, Kindergärten, Asylantenwohnungen, in Wohnungen und Häusern gegen Fliegen, Mücken, Motten, Flöhe, Wanzen, Schaben usw. usw. verdampft, versprüht und ausgestreut wird. Unzählige Menschen sind dadurch bereits erkrankt, leiden unter vielfältigen Formen von Leukämien oder sind berufsunfähig geworden ... aber das ist ein neues Kapitel in einer unendlichen Geschichte.

Anmerkungen

1) Oettel, Prof. Dr. med. H.: »Holz«. In: Ullmanns Encyklopädie der technischen Chemie, Hrsg. Dr. W. Foerst. 3., völlig neu gestaltete Auflage, S. 557, 1957

2) Desowag-Bayer: Anlage zum Schreiben vom 5.12.1978, Az. TB-Wa/Nie

3.) Kunde, M., BGA: Schreiben mit Az. C 1-2020-5172/84. Weitere Informationen über Holzschutzmittel. Standardinformation vom September 1984 auf Verbraucheranfragen

4.) Kunde, M.: Aussage vor dem Landgericht Frankfurt im Strafverfahren gegen Desowag. Protokoll der Hauptverhandlung am 17. 12. 1992

5.) Stadt Hamburg, Umweltbehörde: Meßergebnisse und Sanierungsvorbereitungen bei Fa. Boehringer. Pressemitteilung vom 12. 7. 1985

6.) Spill, Elvira: Wortbeitrag auf dem 2. Treffen Holzschutzmittelgeschädigter am 24. 6.1984 in Bonn. IHG-Eigenver-lag, Engelskirchen, 9/1984

7) Desowag-Bayer, Schreiben vom 21. 12. 1982, Az. TB-Wa/Nie

8.) Oettel, Prof. Dr. med. H.: »Holz«. In: Ullmanns Encyklopädie der technischen Chemie, Hrsg. Dr. W. Foerst. 3., völlig neu gestaltete Auflage, S. 553, 1957

9.) Becker, A.: »40 Jahre Xylamon-Forschung.« Xylamon-Nachrichten. Hausmitteilungen der Desowag-Chemie GmbH Düsseldorf, 23. und 24. Jahrgang, Doppelheft 1965/66

10.) Ebenda

11.) Xylamon-Nachrichten, Autor ungenannt: »Die Xylamon Technik beim Wiederaufbau«. Hausmitteilungen der
Desowag-Chemie GmbH, Nummer l, Oktober 1949

12.) Herxheimer, K., aus der dermatologischen Abtheilung des städtischen Krankenhauses zu Frankfurt a. M.: »Ueber Chlorakne«. Münchener Mediänische Wochenschrift 46, No. 9, S. 278, 1899

13.) Dohmeier, H.-J.: Zum Töten von Fliegen und Menschen. Dioxin - das Gift von Seveso und Vietnam und wie wir täglich damit in Berührung kommen, rororo aktuell, Nr. 5132, 1983

14.) Vgl.Anm. 11

15.) Oostendorp, A.: »Die Bedeutung eines sachgemäßen Holzschutzes für den landwirtschaftlichen Betrieb«. Xylamon-Nachrichten. Hausmitteilungen der Desowag-Chemie GmbH Düsseldorf, 10. Jahrgang, Nr. 3, S. 2-7, Dezember 1951

16) Knocke, K.-W.: »Hyperkeratose in einem Rinderbestand, 13 Jahre nach Anwendung eines Holzschutzmittels«. Deutsche Tierärztliche Wochenschrift, 68. Jahrg., Nr. 24, S. 701-703,15.12.1961; Wagener, K.: »Die Hyperkeratose des Rindes (X-Disease), eine Vergiftung durch Industrie-Produkte«. Proceedings of the 15th. International Veterinäry Congress, Stockholm. S. 512-517, 1953

17) Wagener, K.: »Die Hyperkeratose des Rindes«, a. a. O. (s. Anm. 16)

18.) Knocke, K.-W.: »Hyperkeratose in einem Rinderbestand«, a. a. O. (s. Anm. 16)

19.) Ebenda

20.) Oettel, Prof. Dr. med. H.: »Holz«, a. a. O., S. 558 (s. Anm. 8)

21.) Wende, E.: Arbeitsmedizinische und klinische Erfahrungen über Berufskrankheiten nach den Berichten der Staatlichen Gewerbeärzte der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 1955-1962. Hrsg.: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung

22.) Vgl.Anm. 9

23.)Die Welt, Korrespondentenbericht: »Abbruch - einzige Lösung. Gefährliche Wohnungen«. Dienstag, 18.11.1952

24.) Steininger, F.: »Zu den Zeitungsnotizen über die Schädigung von Personen durch Holzschutzmittel.« Der praktische Schädlingsbekämpfer, S.Jahrgang, Nr. l, Januar 1953

25.) Desowag-Chemie: »Denn Xylamon hält Holz gesund«. Schreiben mit Gesch.-Nr. IX-Ey/T, August 1957

26.) OLG Koblenz: Az. l U 323/65, 3.0.298/60 LG Bad Kreuz-nach, Teilurteil vom 14. 7. 1969 und Urteil vom 6. 9. 1972

27.) Staatsanwaltschaft Frankfurt: Anklageschrift gegen die Geschäftsführer Steinberg, Hagedorn (Desowag) und Engel (Sadolin). 28. 6. 1989

28.) Desowag-Bayer: Schreiben Dr. Steinberg, Az. DrStb/Og 12. 10.1977; Desowag-Bayer: Schreiben Dr. Steinberg, Az. DrStb/Og, 31. 10. 1977

29.) LG Köln: Anlage zum Schriftsatz der Verteidigung vom 11.4. 1986 im Holzschutzmittelverfahren Zapke ./. Desowag und Weyl, Az. 14 O 48/86

30.) Forschungsbericht T 972: Holzschutzmittel in Wohnräumen und ihre Auswirkungen auf die Bewohner. IRB Verlag 1982

31.) Desowag-Bayer: Az. DrStb/ul, Schreiben vom 20. 2. 1978

32.) Zapke: Zweiter Brief an Holzschutzmittelgeschädigte. IHG-Eigenverlag, Engelskirchen 6/1984

33.) Desowag-Bayer: »Was stimmt denn nun?« Anzeige in Tageszeitungen und u. a. in der Zeitschrift natur, 1987

34.) Protokoll des IHG-Gesprächs mit dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit am 29. 4. 1988

35.) Notizen zum Gespräch von Vertretern der IHG mit der Geschäftsleitung der Desowag-Materialschutz GmbH am 16. 4. 1988

36.) Siehe hierzu: Stelz, H.: »>Wer uns sehr genehm, wer uns genehm und wer uns unangenehm wäre< - Gutachter zu Holzschutzmitteln«. In: Bultmann, A., Schmithals, F., Hrsg.: Käufliche Wissenschaft. Knaur, Nr. 77115, 1994

37.) Kampmann, L.: Schreiben an die IHG vom 12. 3. 1984

38.) Kampmann, L.: Wortprotokoll der IHG-Mitgliederversammlung 2S./29. 6. 1986 in Altena

39.) Desowag-Bayer: Vertrauliche Information einer Besprechung mit Ra Kicker am 3. 8. 1984 in FfM. Geschäftsführung, 6. 8. 1984

40.) Hagedorn, F.: Persönliche Notiz vom 19. 7. 1984

41.) Desowag-Bayer: Aktennotiz. Az. TB-s.S./ul vom 17. 4. 1986

42.) Oehme, R.: Schreiben an Familie Zapke vom 25. 6. 1985

43.) Desowag-Bayer: Besuch am 12. 7. 1985 im F+E-Zentrum. Az. F+E TP-1 Dr. We/G. Protokoll mit Datum 16. 7. 1985

44.) Desowag-Bayer: Telefonnotiz über ein Gespräch am S.Juni 1985

45.) Vgl.Anm.43

46.) Wolff, Th.: »Lösemittel in Holzschutzmitteln: Ursache für Gesundheitsschäden?« In: GSF (Hrsg.): Dicke Luft in Innenräumen, S. 34-40, Februar 1989

47.) Wolff, Th.: »Toxikologie der Holzschutzmittel: Kenntnisstand und ungelöste Probleme«. In: Mücke (Hrsg.):Holzschutzmittel - Toxikologie und Technik, Kongreß 20. 4. 1994. Inst. f. Toxikologie u. Umwelthyg. der Techn. Universität München 1994

48.) WDR Köln: »Gefälligkeitsgutachter - der Fall Greim«. Monitor, 20.1.1994

49.) LG Frankfurt: Urteilsbegründung im Strafverfahren gegen die Geschäftsführer der Firma Desowag, Az. 5/26 Kls 65 Js 8793/84, S. 335-336, 25. Mai 1993

50.) BGH: Az. VII ZR 74/92,17. Juni 1993

51.) OLG Nürnberg: Az. 9 U 3700/89, 15. Januar 1992

52.) Bayerisches Verwaltungsgericht Würzburg: Az. W l K 93.1595, I.August 1994

53.) Gorkow, A.: »Debatte um Forsthäuser wird immer giftiger«. Süddeutsche Zeitung, Ausg. 258 vom 9. 11. 1994

54.) Krill, H.: »Eiertanz um hochgiftige Krankmacher«. Süddeutsche Zeitung, 19. 11. 1994; Vgl. Anm. 44 und 46

55.) LG Mönchengladbach: Az. l O 210/89 und l O 328/90

56.) Sozialgericht Reutlingen: Az. S 2 U 1112/91, 7. 12. 1994

57.) BGH: Az. StR 221/94, 2. August 1995

III In ärztlicher Behandlung

Marc Rufer

Zu Tode »behandelt« — Der Fall Franz Schnyder und die Psychiatrie

Franz Schnyder war prominent, er war der erfolgreichste Filmregisseur, den die Schweiz je hatte. Seine Filme waren große Erfolge und spielten viel Geld ein. Noch immer werden sie regelmäßig auf der ganzen Welt im Fernsehen gezeigt, als Videokassetten verkauft und sind als Reprisen im Kino zu sehen. Bis heute ist der Name Franz Schnyder den meisten Schweizern wohlbekannt. Der bekannte Filmregisseur starb 1993 mit großer Wahrscheinlichkeit an den Folgen der Psychopharmaka, die er gegen seinen Willen in der psychiatrischen Anstalt einnehmen mußte.1

17. Dezember 1992:
Gestern habe ich erfahren, daß Franz Schnyder seit einem halben Jahr gegen seinen Willen in der psychiatrischen Anstalt Münsingen in der Nähe von Bern hospitalisiert ist. Kurz entschlossen fuhr ich nach Münsingen, um mir ein Bild von der Situation zu machen. Ich wußte nicht einmal, ob man mich überhaupt hineinlassen würde.

Die Station 27 ist ein älteres niedriges, längliches Gebäude am Rande des Anstaltskomplexes. Ich läute bei der Station 27 und werde sofort durch den langen Gang zu Schnyder geführt. Schnyder befindet sich in seinem kleinen Zweierzimmer. Das zweite Bett benützt er als Ablage für seine Schreibarbeiten. Auf dem kleinen Tisch steht eine Schreibmaschine. Wie die meisten psychiatrischen Anstalten der Schweiz ist auch diejenige von Münsingen schön gelegen. Durch eine Gruppe von Tannen hindurch sieht Schnyder von seinem Arbeitsplatz aufs freie Feld. Dahinter befindet sich die Bahnlinie Thun-Bern. Offensichtlich hatte »Patient« Schnyder die Möglichkeit gehabt, sich sein Zimmer mit den spärlichen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, nach eigenem Geschmack einzurichten: Ein Hauch Privatsphäre mitten in der Anstalt! Der große und wache alte Mann empfängt mich freudig und verwickelt mich sofort in ein langes Gespräch. Auf seine mißliche Situation als unfreiwilliger Insasse der Anstalt geht er kaum ein. Es geht ihm um mehr - es geht ihm um viele Millionen. Er weiß, daß seine Filme nach wie vor in den Kinos der ganzen Welt gespielt und im Fernsehen gezeigt werden. Er weiß auch, daß sogar in Japan in vielen Läden Videokassetten seiner Werke zu kaufen sind. Dennoch hat er seit Jahrzehnten keinen Rappen mehr kassiert. Er ist überzeugt, das Opfer eines Komplotts zu sein. Sogar Regierungsmitglieder würden in der Schweiz zu seinen Gegnern zählen. Seine Einschließung in der Anstalt ist für ihn nur ein kleiner Teil des großen Unrechts, das ihm seit vielen Jahren angetan wird. Selbstverständlich ist seiner Meinung nach auch sein Beistand, der seit einiger Zeit für seine Finanzen verantwortlich ist, in das Komplott verwickelt. Da spielen seine Filme noch täglich auf der ganzen Welt viel Geld ein, und es wird behauptet, daß er, Franz Schnyder, verschuldet sei. Sein Arger ist groß.

Schnyder erzählt mir auch von seinem Zwillingsbruder Felix - ab 1947 Schweizer Botschafter in Moskau, 1961 bis 1965 UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, 1966 bis 1975 Schweizer Botschafter in Washington -, der im vergangenen November gestorben ist. Er findet es unerhört, daß man ihn nicht rechtzeitig über dessen Krankheit informiert hat. Einen letzten Brief von Felix hat man ihm erst mit großer Verspätung ausgehändigt. Daß er deshalb nicht mehr in der Lage war, seinen Bruder vor dessen Ableben zu besuchen, belastet ihn sehr.

Nach zwei Stunden muß ich gehen. Schnyder ist betrübt, gerne hätte er weiterdiskutiert. Dennoch läßt er es sich nicht nehmen, mich durch den Gang bis zur Tür der Station zu begleiten. Der Schwester, die mich herauslassen muß, erklärt er, ich sei ein Freund.

Die Diskussion mit Schnyder verlief angeregt. Verständlich sein Ärger darüber, daß andere mit seinem Lebenswerk das große Geld machen. Es war schwierig für mich, seine Geschichte zu beurteilen. Gut möglich, daß er völlig legal von gerissenen Geschäftemachern übervorteilt worden war. Genausogut möglich, daß man ihn auf verbrecherische Weise um sein Geld gebracht hatte. Doch auch in diesem Fall wäre es für Schnyder wohl schwierig gewesen, mit Unterstützung der Gerichte sich das entgangene Einkommen zurückzuholen. Schließlich handelte es sich um Filme, die zwischen 1940 und 1968 entstanden waren. Dennoch versuchte ich ihm mit Hilfe eines Anwalts in dieser Sache behilflich zu sein; doch leider konnte bis zu Schnyders Tod am 8. Februar 1993 nichts Wesentliches erreicht werden.

Schnyder war eine widersprüchliche Person. Gleich sein erster Spielfilm über Gilberte de Courgenay, 1940/41 gedreht, wird zum durchschlagenden Publikumserfolg. Gilberte ist die legendäre »Soldatenmutter« im Ersten Weltkrieg, der Film Schnyders Beitrag zur »geistigen Landesverteidigung« gegen Faschismus und Nationalismus. Doch Schnyder war kein Angepaßter, immer wieder eckte er an, brach Tabus und erntete dementsprechend auch Mißerfolg: Typisch dafür ist bereits sein zweiter Film Wilder Urlaub (1943), der am Beispiel eines klassenbewußten Proletariers mitten im Zweiten Weltkrieg einfühlsam die Geschichte eines Fahnenflüchtigen schildert. Diesen Fehltritt mußte Schnyder teuer bezahlen: Erst elf Jahre später konnte er seinen nächsten Spielfilm drehen. Seine Filme zu Büchern von Jeremias Gotthelf trafen erneut den Geschmack des großen Publikums: Kaum ein Schweizer, der Uli der Knecht und Uli der Pächter nicht gesehen hat. Auch Heidi und Peter nach Johanna Spyri wird ein Großerfolg. Doch bereits 1956 macht Schnyder einen zweiten Fehler. Sein Film Der zehnte Mai zeigt wiederum ein Geschehen, das ein Großteil der Schweizerinnen nicht wahrhaben will. Schnyder wird erneut zum Nestbeschmutzer. Es wird einerseits die prekäre Situation eines deutschen Flüchtlings 1940 in der Schweiz gezeigt, andererseits viele vollbeladene Autos, in denen sich wohlhabende Schweizer nachts - aus Angst vor einem Einmarsch Hitlers — in die Berge in Sicherheit zu bringen versuchen.

So pendelt Schnyders Leben zwischen Erfolg und Mißerfolg hin und her. Mit zunehmendem Alter wird seine Position immer ungemütlicher. 1968 war für ihn ein unglückliches Jahr. Groß wird sein neuer Film Die sechs Kummerbuben lanciert, sogar der schweizerische Bundespräsident erscheint zur Premiere in einem Berner Nobelhotel. Doch die Zeiten haben sich geändert. Während des Kriegs eckte er mit seiner Gesellschaftskritik an, nun wird sein »Heimatkino« zum Stein des Anstoßes. In der Zwischenzeit hatten, unterstützt von der Presse, junge Filmemacher Ansehen gewonnen. Schnyder wird zum »goldenen Kalb« des alten Schweizer Films und ohne viel Aufhebens vom Sockel gestoßen. Sein Film sei kitschiges Antikino, war beispielsweise im Berner Bund zu lesen. Schnyder versteht die Welt nicht mehr. Daß sein letzter Film über 475000 Franken einspielt und die l Steilige Fernsehfassung hohe Einschaltquoten erzielt, vermag den in seiner Ehre verletzten Schnyder nicht zu trösten.

Dennoch gibt er noch nicht auf. Er plant einen großen Film über den Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi. 1974 hat er das Drehbuch beendet. Es ist bis ins kleinste Detail ausgearbeitet: 190 Sequenzen, gegliedert in 906 Einstellungen, sind darin ausführlich beschrieben. Doch obwohl er verschiedene Anläufe unternimmt, gelingt es Schnyder nicht, den Film zu realisieren.

Der alternde Schnyder wird zunehmend verbittert. Er ist davon überzeugt, daß er hintergangen worden ist. Er sieht, daß seine Filme in der ganzen Welt gespielt werden. Es ist ihm unverständlich, wieso andere als er selbst damit das große Geld machen können. Er lebt, unterstützt von einer Mitarbeiterin der Betagtenhilfe, allein im Haus in Burgdorf, das er von seinen Eltern geerbt hat. Im Mai 1992 kann sich der inzwischen 82jährige Schnyder nicht mehr zurückhalten. Er fühlt sich von der ganzen Welt, insbesondere auch von seiner Heimatgemeinde, finanziell ausgenützt. Mit einer Pistole bewaffnet fordert er in einem Ladenlokal einen größeren Geldbetrag. Kurze Zeit später erscheint die Polizei. Klar, daß es sich nicht um einen ernsthaften Raubüberfall handeln konnte. Aber um was denn sonst? Als »altersparanoid« werden solche Menschen von den Psychiatern bezeichnet. Schnyder war, so sahen es die Experten, offensichtlich unzurechnungsfähig und gefährlich. So wurde er zwangsweise in die psychiatrische Anstalt in Münsin-gen in der Nähe von Bern gebracht. Zwangseinweisungen werden in der Schweiz »fürsorgerische Freiheitsentziehung« genannt. Das Geschehen erhält so einen wohlklingenderen Namen, am üblen Sachverhalt jedoch ändert sich dadurch nicht das geringste.

Schnyder ist ein »schwieriger Patient«. Er weiß, daß die »Irren« nach Münsingen gebracht werden. Groß ist sein Zorn. Er wehrt sich, so gut er kann. Er, der erfolgreichste Filmregisseur, den die Schweiz je hatte, in der »Spinnwinde«. Das ist doch wirklich eine Unverschämtheit. Vom »Medikamentenplunder« will er von Anfang an nichts wissen. Er bezeichnet die Assistenzärzte als Lehrlinge und schickt sie einfach weg. FRS, wie sich Schnyder in den letzten Jahren nannte, will auch vom medizinischen Leiter der Anstalt nichts wissen. Was wollen die denn von ihm? Von diesen läppischen Ärztlein läßt sich FRS überhaupt nichts sagen. Schließlich ist er ja gesund.

Mit »Patientinnen«, die sich verhalten wie Schnyder, geht die Psychiatrie üblicherweise nicht zimperlich um. Unruhige, Widerstand leistende »Patientinnen« werden praktisch immer mit Neuroleptika »behandelt«. Neuroleptika sind das Allheilmittel in der heutigen Psychiatrie. Wer als »schizophren« oder »manisch« gilt oder sonstwie erregt ist, erhält routinemäßig Neuroleptika.2 Wenn ein »Patient« die verschriebenen »Medikamente« nicht brav und freiwillig zu sich nimmt, werden sie ihm mit Gewalt injiziert. Danach ist seine Widerstandskraft gebrochen. Mit Recht werden diese Psychopharmaka als chemischer Knebel oder chemische Keule bezeichnet. Wer Neuroleptika zu sich nimmt, ist nicht mehr der, der er zuvor war. Seine gefühlsmäßige Wahrnehmung seiner selbst und anderer ist gedämpft, seine intellektuelle Leistungsfähigkeit, sein Gedächtnis, seine Kreativität gestört. Resigniert und apathisch, ohne Lust und Potenz, lebt er dahin. Verbunden mit diesen psychischen Wirkungen sind zum Teil irreversible, das heißt bleibende Bewegungsstörungen, die diese Menschen als behindert und »irr« erscheinen lassen. Typisch sind, wie jeder Anstaltsbesucher bestätigen kann: Zittern, der kurz-schrittige, trippelnde Gang ohne Mitbewegungen der Arme, das starre Gesicht. Zu den »Nebenwirkungen« der Neuroleptika gehören auch gefährliche körperliche Komplikationen, die tödlich enden können.

Die psychiatrische Zwangsmedikation spielt sich in der Schweiz in einer juristischen Grauzone ab. Dazu kommt, daß die rechtliche Situation nicht in allen Kantonen dieselbe ist.3 So schreibt die Justizdirektion des Kantons Bern4 - und Münsingen liegt im Kanton Bern -, daß für Zwangs-»Behandlungen«, wie sie in psychiatrischen Anstalten durchgeführt werden, die rechtliche Grundlage fehle. Doch diese Feststellung bleibt leider praktisch ohne jede Folge, müßten doch sonst täglich Anstaltspsychiater vor Gericht erscheinen und bestraft werden. Von FRS ließen sich die Anstaltspsychiater erstaunlicherweise einschüchtern. Ganz offensichtlich war Schnyders Auftreten für die Ärzte ungewohnt. Seine Selbstsicherheit, sein Ton, der keinen Zweifel daran ließ, wie sehr er diese »Lehrlinge« und »Arztlein« verachtete, zeigten Wirkung. Üblicherweise ist jemand, der frisch in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde, ängstlich, verunsichert. Er hat eine Niederlage erlitten, seine engsten Kontaktpersonen haben sich von ihm abgewandt und die Hospitalisierung eingeleitet. Er fühlt sich erniedrigt, ist isoliert. Kaum einer, der in dieser Situation die Kraft hat, der Meinung der Experten seine eigene Sicht der Dinge entgegenzuhalten. Die allermeisten lassen sich vom Wissen der Psychiater beeindrucken und akzeptieren ihre »Diagnose« und die angeordnete »Behandlung«, auch wenn sie damit in keiner Weise einverstanden sind. Es ist eine oft zu beobachtende Tatsache, daß Menschen, die im Besitz von viel Macht sind, sich durch selbstsicheres und autoritäres Auftreten sehr schnell beeindrucken lassen. Sie, die üblicherweise ausschließlich mit freiwilliger Unterwerfung konfrontiert sind, sind leicht zu verunsichern. Offensichtlich traf dies auf Schnyders Ärzte in Münsingen zu. Doch diese Erklärung allein reicht noch nicht aus. Zu leicht ist es für Psychiater, den Widerstand von schwierigen »Patientinnen« zu brechen. Es kommt nicht nur darauf an, wie sich ein Insasse benimmt, sondern auch darauf, wer er ist. Ein Unterschichts-»Patient«, der sich wehrt, wirkt anders, als ein Mann aus besseren Kreisen, der sich auszudrücken weiß. Und FRS war nicht nur ein Oberschichts-»Patient«, sondern er war auch prominent. Kein Schweizer, der nicht seinen Namen kennt und der nicht einige seiner Filme gesehen hat. Ein prominenter Schweizer also, der Widerstand gegen die »Behandlung« leistete: Da wußten die Anstaltspsychiater nicht mehr weiter. Und der prominente »Patient« war einerseits groß und schwer und andererseits 82 Jahre alt. Die Anordnung, daß die Zwangs-»Behandlung« durchgeführt werden soll, floß ihnen in dieser Situation nicht spontan und problemlos über die Lippen. FRS, die Ikone des Schweizer Films, mit brachialer Gewalt zu Boden zu drücken, ihm den Hintern zu entblößen und ein stark wirkendes Neuroleptikum reinzujagen, war für sie ganz offensichtlich ein zu starkes Stück. So schlugen sie den vorsichtigeren Weg ein. Der Kantonsarzt wird hinzugezogen. Er soll in dieser heiklen Situation entscheiden.

Der Kantonsarzt erscheint und unterhält sich angeregt und interessiert mit Schnyder. Doch es wird gar kein diagnostisches Gespräch. Die beiden vergessen, daß sie sich in einer psychiatrischen Anstalt befinden. Der Arzt ist glücklich, sich mit dem berühmten Schnyder unterhalten zu können, und FRS ist glücklich, daß er endlich wieder einmal einem vernünftigen Menschen gegenübersitzt, der sich für seine Filme und seine Pläne interessiert. Einem gebildeten Bewunderer gegenüber zeigt sich Schnyder selbstverständlich von seiner besten Seite. Das Resultat der Unterredung war für die Anstaltsärzte ernüchternd. Der Kantonsarzt kam zum Schluß, daß eine Zwangs-»Behandlung« nicht angezeigt sei. Damit waren den Psychiatern die Hände gebunden.

Diese Situation gibt es kaum einmal in einer psychiatrischen Anstalt. Das Wissen, daß jederzeit einem widerspenstigen »Patienten« zwangsweise ein Neuroleptikum injiziert werden kann, ist Teil der Identität der Psychiaterinnen. Ohne diese Möglichkeit sind sie in einer Situation, die sie nicht kennen; da können sie sich nicht mehr auf gewohnte und verinnerlichte Verhaltensmuster stützen. Erst eine deutliche Änderung des Befindens von FRS hätte jetzt noch eine Zwangs-»Medikation« rechtfertigen können.

Eines hingegen ist klar. Schnyder muß in der Anstalt bleiben. So weit, daß Schnyder entlassen würde, geht das Entgegenkommen des Kantonsarztes denn doch nicht. So nimmt der rüstige Schnyder die Sache selbst in die Hand und kehrt von einem Spaziergang nicht mehr zurück. Er nahm den Zug und fuhr nach Burgdorf.

Doch kurz darauf wurde er von Polizisten wieder auf der Akutstation der Anstalt in Münsingen abgeliefert. In der Anstalt kann Schnyder schalten und walten, wie er will. Er richtet sich in der Station 27 ein. Daß man in seinem Zimmer das zweite Bett belegen will, ist für ihn inakzeptabel. Wer in seinem Zimmer auch immer plaziert wird, wird alsbald hinauskomplimentiert. FRS führt eine weltumspannende Korrespondenz. Das Pflegepersonal bringt seine Briefe brav zur Post.

Im November 1992 erfährt Schnyder vom Tod seines Zwillingsbruders. Schnyder verliert langsam seinen Biß, seine Widerstandskraft erlahmt. Auch wenn er in der Anstalt einen Sonderstatus hat, ist doch sehr klar, in was für einer Umgebung er sich befindet. Er, der erfolgreichste Filmregisseur der Schweiz, in der »Klapsmühle«, und er hat keine Möglichkeit, diesen Ort des Schreckens zu verlassen. Und nun ist auch noch sein Bruder gestorben, der engste Angehörige des unverheirateten FRS. Auch sein wichtigstes Anliegen - an das viele Geld heranzukommen, das ihm seiner Meinung nach vorenthalten wurde - scheint zu mißlingen. Schnyder wähnt sich als Opfer eines Komplotts, fühlt sich von allen Seiten verraten. Ein letztes Aufflackern seines Widerstands: Er schreibt einem Bekannten einen Brief mit der Bitte, an den eben abgewählten amerikanischen Präsidenten George Bush ein Telegramm zu schicken. Bush solle doch bitte die Militärpolizei nach Münsingen schicken, denn er - Schnyder - befinde sich in Todesgefahr.

Am 31. Januar 1993 ritzt sich Schnyder mit einer Schere die Haut am rechten Unterarm: nicht gefährlich, genäht werden muß nicht, nur einige oberflächliche Kratzer sind zu sehen. Doch damit hat sich für die Psychiater die Situation sehr deutlich verändert. Für sie handelt es sich nicht um harmlose Kratzer, sondern um einen ernst zu nehmenden Suizidversuch. Diese Kratzer zeigten sicher an, daß Schnyder mit seiner Situation nicht zufrieden war. Doch um einen ernsthaften Selbstmordversuch handelte es sich keinesfalls. Schnyder war noch rüstig. Mit sicherem, schnellem Schritt durchquerte der große, kräftige und wache Mann täglich den Anstaltsgang. Er wäre zweifellos in der Lage gewesen, sich weitaus schwerwiegendere Verletzungen zuzufügen. Es bleibt auch unklar, ob Schnyders Kratzer am Unterarm als harmloser Suizidversuch oder eher als Protest gegen die monatelange Zwangshospitalisation zu verstehen ist.

Nun gab es für die Anstaltspsychiater kein Halten mehr. Jetzt war eine Indikation für die »Behandlung« mit Neuroleptika gefunden. Der Abteilungsarzt verordnet einen »Cocktail«: Haldol und Nozinan (Neurocil). Zwei der wirksamsten Neuroleptika überhaupt, in der Kombination besonders effektvoll. Schnyders Widerstand ist gebrochen, er mag nicht mehr kämpfen. Die Drohung, daß nötigenfalls die Neuroleptika auch zwangsweise gespritzt werden könnten, wirkt sofort. So trinkt FRS, der sich von Anfang an gegen eine »medikamentöse Behandlung« gewehrt hatte, »freiwillig« den bitteren Saft.

Dies ist ein Geschehen, wie es sich in der Anstalt regelmäßig abspielt. Als Insasse einer geschlossenen Station mußte Schnyder viele unschöne Szenen miterleben. Immer wieder nahm er den Aufruhr, der mit einer Zwangs-»Behandlung« verbunden ist, wahr: Bis zu acht Pfleger stürzen sich jeweils auf unbotmäßige Insassen, die die »Medikation« verweigern. Für die Mit-»PatientIn-nen« bedeutet dies immer eine schwere Belastung. Derartige Szenen sind laut, es wird geschrien und geflucht, Schläge sind zu hören. So wissen alle Anstaltsinsassen, daß sie keine Chance haben. Sobald einmal die Zwangs-»Behandlung« angeordnet ist, ist der Ausgang des Geschehens klar. Einer derartigen Übermacht gegenüber ist auch der stärkste Mann machtlos.

Es war also sicher vernünftig, daß sich Schnyder dem Druck beugte. Er hätte den Gang der Dinge nicht mehr aufhalten können. Doch Schnyder konnte natürlich nicht wissen, was sein Nachgeben für Folgen haben würde. Sein Widerstand gegen Psychopharmaka war rein instinktiv. Er war davon überzeugt, daß er gesund war; also brauchte er auch keine Medikamente. Selbstverständlich hatte er sich nicht mit den Wirkungen der Neuroleptika und der anderen Psychopharmaka auseinandergesetzt. Wer macht das denn schon, ohne einen ganz bestimmten Anlaß dafür zu haben?

Die chemische Keule wirkt. Der rüstige, wache und lebhafte Schnyder wird in kurzer Zeit zum bettlägrigen und inkontinenten Pflegefall. Wie üblich in solchen Fällen, wird FRS in Windeln gelegt. Seit dem 1. Februar 1993 erhält Schnyder täglich dreimal seinen Neurolepti-ka-Cocktail. Am 3. Februar schreibt er auf ein Blatt Papier: »Bringt mich sofort nach Hause. FRS.« Am 8. Februar findet man ihn leblos in seinem Bett. Der zuständige Arzt ordnet die Verlegung ins Bezirksspital Münsingen an. Doch dort kann nur noch Schnyders Tod festgestellt werden. Bei der Autopsie wird ein Blutgerinnsel in den Lungen entdeckt: Todesursache also Lungenembolie.

Bis zum 31. Januar 1993 war Schnyder gesund und rüstig. Was war der Grund für sein schnelles Ableben? Ohne die Verabreichung der beiden Neuroleptika Haldol und Nozinan wäre Schnyder am 8. Februar mit größter Wahrscheinlichkeit nicht gestorben. Verschiedene Gründe sprechen dafür: Sowohl die psychische wie auch die körperliche Wirkung der Neuroleptika bedeuten für »Patienten« wie Schnyder eine große Gefahr. Neuroleptika brechen die Widerstandskraft, machen müde, dösig, apathisch, resigniert und depressiv. Sie beeinträchtigen die intellektuelle Leistungsfähigkeit und das Gedächtnis und führen - besonders bei älteren Menschen - zu Desorientiertheit und Verwirrung. So verlor Schnyder durch die psychischen Effekte von Haldol und Nozinan endgültig seinen Lebenswillen. Und der Lebenswille ist bei einem bald 83jährigen Mann ein Faktor, der sein Überleben wesentlich mitbestimmt. Die psychischen Auswirkungen der »Medikation« verhindern, daß sich der Betroffene mit seiner Situation auseinandersetzt und auf diese Weise aus eigener Kraft einen Ausweg aus seiner mißlichen Situation suchen könnte. Durch die »Medikation« wird er zum hilflosen »Patienten«, der dem Druck des Personals, das ihn als »krank« einstuft, mit Sicherheit keine eigene Sicht der Dinge entgegenzustellen vermag.

Doch eine Wirkung der Neuroleptika ist hier besonders bedeutungsvoll: Neuroleptika vergrößern die Selbstmordgefahr. An anderer Stelle zeige ich ausführlich,5 wie schwer sich die Psychiatrie mit dem Selbstmordproblem tut. Seit den fünfziger Jahren steigt die Zahl der »Patienten-Suizide, das heißt die Zahl der Insassen, die sich in der Anstalt oder kurz nach der Entlassung umbringen, stärker an als die Zahl der Selbstmorde in der Gesamtbevölkerung. Dies hängt zweifellos damit zusammen, daß seit Beginn der fünfziger Jahre Neuroleptika und seit Ende der fünfziger Jahre Antidepressiva bei immer mehr »Patientinnen« und in zunehmender Dosierung eingesetzt wurden. Denn sowohl Neuroleptika wie auch Antidepressiva sind bekannt dafür, daß sie die Selbstmordtendenz vergrößern. Völlig absurd: Da wurde Schnyder, der als suizidal galt, genötigt, »Medikamente« zu sich zu nehmen, die die Selbstmordgefahr vergrößern.

Selbstverständlich war Schnyders plötzliche Bettlägrigkeit eine direkte Folge der Wirkung der beiden »Medikamente«: Als erstes ist hier die Dämpfung zu nennen; das Neuroleptikum Nozinan (Neurocil) ist ein »Medikament«, das in der Psychiatrie oft als äußerst starkes Schlafmittel eingesetzt wird. Hinzu kommt, daß ein depressiver, resignierter und apathischer alter Mann kaum mehr aufstehen wird, auch wenn er körperlich dazu noch in der Lage wäre. Sehr oft führen Neuroleptika zu einer Senkung des Blutdrucks, die verbunden ist mit Schwindel und Ohnmacht beim Aufstehen. Schon dies allein kann Bettlägrigkeit eines alten Menschen bedingen. Diese Kreislauf Schwierigkeiten können zu einer Mangeldurchblutung des Herzens und des Gehirns führen. Es kommt auch zu Herzarrhythmien. Weiter sind auch die durch Neuroleptika ausgelösten Bewegungsstörungen sehr unangenehm. Die Koordination, die Beweglichkeit, das Gleichgewicht sind gestört, was um so schwerwiegendere Folgen hat, je älter der »Patient« ist. Dabei darf nicht vergessen werden, daß der Betroffene selbst natürlich nicht wissen kann, daß die Verschlechterung seines Zustands durch die »Medikation« ausgelöst ist. Er fühlt sich »krank« und behindert und ergibt sich in sein Schicksal.

Weitere mögliche »Nebenwirkungen« bedeuten für alte Menschen eine besondere Belastung und eine großeGefahr, da die körperliche Widerstandskraft bei ihnen geringer ist, wodurch sich das Risiko einer fatalen Entwicklung erhöht. Dazu gehört unter anderem: Erschwerung des Wasserlassens (problematisch vor allem bei älteren Männern, die oft eine Vergrößerung der Prostata aufweisen), Störungen der Leberfunktion, Entzündungen der Schleimhaut von Magen und Darm wie auch die Agranulozytose (bei der Agranulozytose fehlt eine Form der weißen Blutkörperchen; in 30 bis 40 Prozent der Fälle kommt es zu tödlichen Infektionen).

Im Falle Schnyder muß eine weitere »Nebenwirkung« der Neuroleptika ganz speziell beachtet werden: Neuroleptika können Thrombosen (Blutgerinnsel) und Embolien (Verschleppung eines Blutgerinnsels verbunden mit der Verstopfung von Blutgefäßen, die zum Tode führen kann) bewirken. Es ist erwiesen, daß der Konsum von Neuroleptika - unabhängig vom Alter und auch bei nichtbettlägrigen Menschen - die Thrombose- und Embolieneigung erhöht. Und Schnyder ist an einer Lungenembolie gestorben.

Hinzu kommt, daß auch Bettlägrigkeit immer mit Thrombose- und Emboliegefahr verbunden ist. Das ist der Grund, wieso frisch Operierte wann immer möglich noch arn Tage des Eingriffs auf die Beine gestellt werden. Auch der durch die Neuroleptika ausgelöste Blutdruckabfall und allfällige Herzarrhythmien steigern die Thrombose- und Emboliegefahr.

Daß Neuroleptika Thrombosen und Embolien bewirken können und daß Bettlägrigkeit diese Gefahr massiv vergrößert, wissen die Psychiater genau. Sie kennen auch die mit Suizidalität verbundene »pharmakogene Depression« als Komplikation dieser »Behandlung«. Und dennoch nötigten sie FRS zur »Behandlung« seiner Suizidalität gegen seinen erklärten Willen Neuroleptika auf. Es hätte wahrlich bessere Möglichkeiten gegeben, um weitere Suizidversuche zu verhindern. Schnyder war Insasse einer geschlossenen Abteilung in der psychiatrischen Anstalt. Man hätte ihm Messer, Scheren und weitere gefährliche Instrumente abnehmen können. Auf diese Weise wäre die Wiederholung des »Suizidversuchs« ganz einfach zu verhindern gewesen. Doch derart einfache Eingriffe genügen den Psychiatern offensichtlich nicht. Sie wollen »behandeln«. Und im Zentrum der psychiatrischen »Therapie« stehen seit längerer Zeit die Psychopharmaka, insbesondere die Neuroleptika. Das Selbstverständnis der Psychiaterinnen sieht vor, wann immer möglich, aktiv einzugreifen, zu »behandeln«. An anderem Ort6 stelle ich eine richtiggehende »Behand-lungs«-Wut oder »Behandlungs«-Sucht der Psychiaterinnen fest. Dabei berücksichtigen sie die Gefahren, die mit ihren Eingriffen verbunden sind, viel zuwenig. Alle Insassen psychiatrischer Anstalten laufen Gefahr, schwerwiegende Komplikationen zu erleiden. Am größten ist diese Gefahr für ältere Menschen. Bei ihnen können »Behandlungen« mit Psychopharmaka leicht fatal enden. Üblicherweise werden in der Medizin Behandlungen mit großen Risiken nur bei schwersten Krankheiten, die tödlich enden können, durchgeführt. Viele Psychopharmaka - Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium und Carbamazepin (Tegretol, Tegretal) - sind nachgewiesenermaßen gefährliche »Medikamente«. Und in der Psychiatrie werden regelmäßig körperlich gesunde Menschen gezwungen, sie einzunehmen.

Der Blick der PsychiaterInnen ist dermaßen auf »Krankheitssymptome« ausgerichtet, und sie sind dermaßen von der Notwendigkeit und Nützlichkeit ihrer Psychopharmaka-»Behandlungen« überzeugt, daß sie die durch diese »Medikamente« ausgelösten Schädigungen meist übersehen. Man findet nur, wonach man sucht. So ist denn klar, daß bezüglich der psychopharmakabedingten Todesfälle eine große Dunkelziffer bestehen muß. Daß Schnyder autopsiert wurde, muß als große Ausnahme bezeichnet werden. Wen interessiert normalerweise schon die genaue Todesursache bei einem über achtzigjährigen Psychiatrie-»Patienten«? Daß überhaupt eine Autopsie durchgeführt wurde, hängt sehr wahrscheinlich damit zusammen, daß es sich da um einen prominenten Toten handelte. Und nur aufgrund dieser Autopsie wurde der Zusammenhang von Schnyders Tod mit der »Behandlung« so klar.

Es wäre an der Zeit, daß regelmäßig und systematisch abgeklärt wird, ob Todesfälle von Psychiatrie-»PatientIn-nen« eine Folge der »Behandlung« dieser Menschen mit Psychopharmaka sind.

Anmerkungen

1) Ich hatte Schnyder am 17. Dezember 1992 in der psychiatrischen Anstalt Münsingen besucht. Weitere Informationen beziehe ich aus dem Artikel von Fredi Lerch: »Ich bin einsam der erfolgreichste Filmproduzent unseres Landes« in: Die Wochenzeitung, 8/1993, S. 28 f. Im übrigen habe ich selbst bereits einen kurzen Artikel zu diesem Fall geschrieben: »Neuroleptika gegen den eigenen Willen« in: Die Wochenzeitung, 12/1993, S. 24

2.) Mehr über Neuroleptika und die weiteren Psychopharmaka findet sich in: Marc Rufer: Irrsinn Psychiatrie, Zytglogge Verlag, Bern 1988, und ganz ausführlich in Marc Rufer: Psychiatrie — Täter, Opfer, Methoden, Zytglogge Verlag, Bern 1996. Sehr informativ ist auch Peter Lehmann: Der chemische Knebel, Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, Berlin, 1990

3.) In meinem Buch Psychiatrie - Täter, Opfer, Methoden (Zytglogge Verlag, 1996) gehe ich ausführlich auf diese Frage ein.

4.) Diese Meinung vertritt die Justizdirektion des Kantons Bern in ihrem Brief vom 26. 9. 1989.

5.) Marc Rufer: Glückspillen — Ecstasy, Prozac und das Comeback der Psychopharmaka, Knaur-Taschenbuch, München 1995, S. 129 f, und Marc Rufer: Psychiatrie — Täter, Opfer, Methoden, Zytglogge, 1996

6.) Psychiatrie - Täter, Opfer, Methoden, a. a. O.

 

Martin Hofmann

»Von Monat zu Monat habe ich körperlich mehr abgebaut« - Amalgam: Gift in aller Munde

Die Wahl fiel auf den römischen Götterboten Merkur. Sein ruheloser Charakter glich den Eigenschaften des Metalls. Nicht festzuhalten, ständig auf der Flucht, beschrieben die Alchimisten das silbern schimmernde Material. Allgemein bekannte Merkmale des Quecksilbers (früher Merkurius) - und doch hat die Wissenschaft sie ausgeblendet, beiseite geschoben. Das Amalgam war gefunden: ein fast ideales Mittel, um Löcher in den Zähnen der Menschen zu stopfen - preiswert, einfach zu verarbeiten, rasch aushärtend. Daß die halbe Portion Quecksilber im Gemisch mit den anderen Metallen (Silber, Zinn, Kupfer, Zink) vollständig eingebunden sei und bleibe, davon sind heute noch die meisten Zahnärzte felsenfest überzeugt. Ein verhängnisvoller Trugschluß? Zumindest für Reinhard Neubauer. Ihn hat der zahnmedizinische Botenstoff nicht nur erreicht, aus der Bahn geworfen, sondern hält ihn gnadenlos im Würgegriff. Ein besonderer, ein Einzelfall? Zuvorkommend ist das Schicksal mit dem 44jährigen nicht umgesprungen. Das hat die Vergiftung seines Organismus jedoch nicht ausgelöst, allenfalls erheblich beschleunigt. Andere Amalgamträger - pro Jahr legen die Zahnärzte in Deutschland 38 bis 40 Millionen solcher Plomben - werden gewiß längere Zeit von massiven Wirkungen des Quecksilbers verschont.

Vielen bleiben sie dennoch nicht erspart. »Unfug. Der Mann simuliert, eine schlicht eingebildete Krankheit. Den Menschen wird wieder etwas eingeredet, bis sie selber daran glauben. Dabei fehlt ihnen körperlich, organisch überhaupt nichts!« Der Ingenieur kennt auch diese Töne aus meist berufenem Medizinermunde. Doch der Reihe nach.

Vor zwölf Jahren, 1984, gelang Reinhard Neubauer die Ausreise aus der DDR. Rasch fand der junge Mann einen Arbeitsplatz in seinem erlernten Beruf als Kraftwerkstechniker. Die Papierwerke Waldhof-Aschaffenburg (PWA) hatten ihm bei Rosenheim (Oberbayern) ein passendes Angebot unterbreitet.

Noch im selben Jahr erklärte ihm sein Zahnarzt bei einem Routinebesuch, seine maroden Füllungen müßten dringend erneuert werden. Ob dies notwendig war, konnte der Patient nicht beurteilen. Die Unterlagen über seine bisherige Behandlung waren in der DDR geblieben. Ohne lange zu zögern, setzte der Arzt den Bohrer an und entfernte alle zehn Amalgamplomben, um sie durch neue zu ersetzen. »Einen Haufen Geld hat er damals jedenfalls an mir verdient«, sagt Neubauer im Rückblick.

Unmittelbar ausgewirkt hat sich der zahnmedizinische Kraftakt nicht. Erst ein halbes Jahr später spürt der leichtathletisch trainierte 33jährige - den 100-Meter-Sprint legt er in 10,87 Sekunden zurück - erstmals deutlich seine Kräfte schwinden. Bei einem Laufwettkampf gehorchen ihm die Beine nicht, bleiern hängen sie an den Gelenken. »Obwohl ich ausgeschlafen war und am Vortag keinen Alkohol genossen hatte, fühlte ich mich wie nach einer durchzechten Nacht«, erinnert er sich an die Anfänge seiner Krankengeschichte. Größere gesundheitliche Bedeutung mißt er dem Ereignis jedoch damals nicht bei. Die Gründe für seinen läuferischen Einbruch sucht er bei sich, trainiert härter als zuvor. Um die Weihnachtszeit 1984 stellen sich anhaltende Bauchschmerzen ein. Der Blinddarm wird entfernt. Die Operation beseitigt aber nicht die Ursachen des Unwohlseins. Im Gegenteil: »Von Monat zu Monat habe ich körperlich mehr abgebaut«, sagt der Ingenieur. Um die Ursachen dafür zu ergründen, nimmt er seine Lebenssituation unter die Lupe. Hat er die Umstellung von Ost nach West noch nicht verkraftet? Ernährt er sich falsch? Überfordert ihn sein neuer Arbeitsplatz?

Reinhard Neubauer nimmt den Kampf mit seinem Körper auf. Er treibt mehr Sport, testet diverse Diäten, gibt sich am Arbeitsplatz noch mehr Mühe, alles fehlerfrei zu erledigen, um nicht nervös zu werden. Im Urlaub fährt er fast regelmäßig zur Kur, denn seine Selbsttherapie liefert nicht die gewünschten Erfolge. Nach den Aufenthalten samt Anwendungen - er finanziert sie meist selbst - fühlt er sich jeweils besser. Natürlich verläßt er sich nicht ausschließlich auf das eigene Gespür, hört nicht nur in sich hinein. Mehrfach nehmen sich Fachärzte für innere Krankheiten seiner Magen-Darm-Beschwerden an. Organisch entdecken sie jedoch keinen Defekt. Schon 1986/87 hört er von einem Internisten: »Dann werden es wohl die Nerven sein.«

Ein Jahr später - die Fahrt ins Tal der Leiden setzt sich unaufhaltsam fort - entscheidet sich das kinderlose Ehepaar dafür, die Lebensumstände ganz neu zu organisieren. Um Ordnung und Ruhe in ihr Privatleben zu bringen, hört Frau Neubauer auf zu arbeiten. Sie kümmert sich nur noch um den Haushalt und ihren Mann. Doch beim Sport kehrt die Kraft in die Beine nicht zurück. Jetzt wird die Ernährung auf Vollwertkost umgestellt. Das Ehepaar rückt sein Bett an einen anderen Platz. Die Schlafsituation soll verbessert werden. Neubauer beginnt mit autogenem Training. Daß ihm die sogenannten Schulmediziner helfen könnten, bezweifelt er mittlerweile. Anfang 1991 setzen die Bauchschmerzen wieder massiv ein, der Stuhlgang funktioniert nur noch unregelmäßig. Eine vierwöchige Kur in Scheidegg (Allgäu) sorgt für Linderung. Dort weist erstmals ein Arzt Neubauer auf seine Amalgamfüllungen hin. Nach Hause zurückgekehrt, fühlt er sich topfit, wechselt die Stellung. Die silbergrauen Plomben läßt er sich entfernen.

Doch als Kassenpatient verpaßt ihm der Zahnmediziner Füllungen aus einer Palladium-Kupfer-Legierung. Bun-desarbeitsminister Norbert Blüm hat sie im Zuge seiner Gesundheitsreform eingeführt, um den Kassen die Aufwendungen für kostspieliges Material zu ersparen. Zuschüsse für Zahnersatz, Brücken, Kronen aus hochwertigen Goldlegierungen wurden gestrichen. Wer auf solcher Qualität bestand, mußte nicht nur die Mehrkosten tragen, sondern die Behandlung komplett selbst bezahlen. Der zuständige Bundesausschuß »Zahnärzte und Krankenkassen« einigte sich 1986 auf sogenannte Palladium-Basis-Legierungen als Regelversorgung für die Beitragszahler (rund 90 Prozent der Bevölkerung). Auf ihre gesundheitliche Verträglichkeit sind diese Metallgemische aber zuvor niemals untersucht worden. Die Experten verließen sich auf wenige Tests in Zell- und Gewebekulturen wie auf einzelne Erfahrungen mit den Stoffen. Schlicht ausgedrückt: Die Kassenpatienten mußten als Versuchsobjekte herhalten.

Die Folgen dieser unverzeihlichen Nachlässigkeit lassen sich heute noch nicht abschätzen. Das »Spargold« erlebte jedenfalls einen Boom. Erst im November 1992 knöpft sich das Bundesgesundheitsamt die Materialien vor. Die zuständige Zahnmedizinerin Dr. Tamara Zinke bestätigt, daß bei der Entscheidung für den größten Teil der mehr als 100 diversen Palladium-Legierungen »weder biologische Prüfungen noch klinische Erfahrungen« vorlagen. Palladium gehört zur Gruppe der Platinmetalle. Gelangt es in den menschlichen Organismus, hemmt es zahlreiche Enzymsysteme in Niere und Leber, etwa die Aldolase, die giftige Substanzen (Aldehyde) abbaut. Außerdem, so führt auch Frau Zinke aus, greift es den Träger der genetischen Information, die Desoxyribonukleinsäure (DNS) von zwei Seiten an. Es schaltet nach Eindringen in die Zellen auch die Energieproduktion ab. Palladiumsalze führen überdies zu Herzrhythmusstörungen. Nach Tierexperimenten setzen kupferhaltige Palladium-Legierungen auch dem Dünn- und Dickdarm zu, beeinträchtigen Stuhl- und Urinausscheidung. Im Tierversuch war Palladium obendrein krebserregend. Als derzeit einzige wesentliche Aufnahmequelle dieses Stoffes kommt für den Menschen nur Zahnersatz aller Art in Frage. Die Schlußfolgerung der Gesundheitsbehörde: »Keine Verwendung palladium-kupfer-haltiger Dentallegierungen ohne Nachweis der Bioverträglichkeit.« Allerdings verwendet das Amt den Konjunktiv: Die Zahnärzte sollten die Empfehlung berücksichtigen, heißt es vorsichtig. Gut ein Jahr später, am I.Januar 1994, wird das Gemisch dann doch aus dem Verkehr gezogen.

Für Reinhard Neubauer — und gewiß nicht nur für ihn — kommt diese zögerliche Vorsichtsmaßnahme viel zu spät. Die Schulung seiner Verdauung durch eine Mayer-Kur im Allgäu stabilisiert sein Immunsystem nur vorübergehend. Im Sommer 1991 stellen sich die Magen-Darm-Beschwerden wieder ein, bald gepaart mit Kopfschmerzen, Nervosität, Konzentrations- und Leistungsschwäche, Schlafstörungen. »Was sollen wir denn nun noch machen?« klagt seine Frau hilflos. »Bist du wahnsinnig! Kasteist dich immer mehr«, hält sie ihrem Mann vor. Seinen ersten gesundheitlichen Tiefpunkt durchlebt der Ingenieur im Dezember 1991. Er schleppt sich von einem Tag zum nächsten. Wieder entdecken die konsultierten Ärzte keine organischen Schäden; keine Diagnose - keine Therapie. Ein vierwöchiger Aufenthalt am Toten Meer mit seiner mineralstoffreichen Luft (30 Prozent 02) bringt Linderung. Sie reicht für ein halbes Jahr. »Dann hab ich wieder ausgesehen wie der Tod auf Latschen«, beschreibt der inzwischen im Ulmer Kraftwerk der Energieversorgung Schwaben arbeitende Techniker seinen damaligen Zustand. Eine heftige Grippe packt ihn. Massiv befallen Pilze seinen Magen-Darm-Trakt. Die Zahl der Erreger liegt etwa um fünf Potenzen über den üblichen Werten. Intensiv wird er im Sommer 1993 internistisch durchgecheckt. »Die Ursache der Darmbeschwerden und der Gewichtsabnahme ist unklar«, schreibt Dr. Henning Nissen nach erfolgten Untersuchungen samt Gewebeentnahme. Letztere ergibt nur eine »leichte chronisch-unspezifische Entzündung der Dünndarmschleimhaut«. Der Einsatz von Medikamenten gegen den Pilzbefall bringt keine Besserung. Auch nach einer Kontrolle der Laborwerte im November 1993 tappt der Ulmer Internist im dunkeln: »Nach wie vor ist die Beschwerdesymptomatik und die Gewichtsabnahme unklar«, teilt er dem Hausarzt mit. Ein HIV-Test fällt negativ aus. Sein Vorschlag: Den Patienten wegen der atypischen Infektion bei den Tropenmedizinern vorzustellen. Anhaltspunkt: ein Türkeiaufenthalt. Neubauers Zustand verschlechtert sich zusehends. Anfang 1994 brechen alle Lebensfunktionen zusammen: Er kann weder essen noch trinken noch schlafen. Was in ihm vorgeht? Er versteht es selbst nicht mehr. Soll er eine noch diszipliniertere Lebensweise wählen? Wie sollte, wie könnte sie aussehen? Daß die Schulmedizin bei ihm mit ihrem Latein am Ende war, dazu bedurfte es keines weiteren Beweises. Per Zufall entdeckt Neubauer in der Hausarztpraxis die Anschrift der »Spezialklinik für Naturheilverfahren« Höhenkirchen. »Wenn, dann gehe ich nur noch dahin«, schießt es ihm durch den Kopf. Stationär aufgenommen verbringt er dort zehn Wochen. Immerhin diagnostizieren die Mediziner nach Laboruntersuchungen einen »dringenden Verdacht auf chronische Amalgamintoxikation« - die Blutbildänderungen sprechen dafür - sowie starken Pilzbefall im Darm. Dieser wird auf eine Salmonelleninfektion von 1989 zurückgeführt. Die Tragweite seiner Vergiftung wird aber auch dort nur unzulänglich erkannt. Die Ärzte raten Neubauer jedoch, die begonnene Quecksilberausleitung aus seinem Körper fortzusetzen. Sein Zustand verbessert sich dennoch nicht gleich. Zu den bisherigen Symptomen wie Konzentrationsschwäche, Bauchschmerzen, Schlaflosigkeit, Kopfweh, Appetitlosigkeit gesellt sich bald ein pelziges Gefühl von der linken Kopfseite über die linken Finger bis hinab zur linken Fußspitze.

Da er seit Beginn des Klinikaufenthaltes als arbeitsunfähig eingestuft wird, greifen die Schulmediziner wieder in das Geschehen ein. Der Betriebsarzt nimmt Neubauer seine Schwermetallbelastungen durch Quecksilber, Kupfer und Palladium nicht ab. Auch die Arbeitskollegen bezweifeln, daß jemand durch Zahnfüllungen so schwer erkranken und seine Beschäftigung nicht wieder aufnehmen kann. Sie begegnen ihm mit Unverständnis und Mißtrauen.

Der klinische Toxikologe Dr. Max Daunderer führt Neubauer im August 1994 in seiner Münchner Praxis dagegen vor, wie stark sein bereits seit drei Jahren amalgamfreies Gebiß mit Quecksilber belastet ist. Gleich einer Perlenschnur reihen sich die Metallablagerungen auf dem Röntgenpanoramabild aneinander. Der Giftexperte habe belächelt, was bis dahin an Neubauer therapeutisch versucht wurde. In seiner ironisch-sarkastischen Art erklärt er dem Patienten, er könne mit einschneidenden Maßnahmen noch zuwarten. Letztlich werde er sich aber doch dafür entscheiden, was er ihm vorschlage. Er müsse seinen Kiefer öffnen lassen, um an die Giftdepots heranzukommen. Die gesamte Knochenpartie müsse gereinigt werden.

Diesen Rat erwähnt sogar das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (Ulm), obwohl Daunderer als Außenseiter gilt. Die begutachtende Ärztin Dr. Becker will die geplanten Eingriffe sogar abwarten und verlängert im September die Bescheinigung zur Arbeitsunfähigkeit. Den Zustand des Patienten schildert sie: »Der Versicherte wirkt schwunglos. Der Gang ist müde und etwas schleppend. Er scheint auf die Amalgamvergiftung fixiert zu sein.« Diagnostisch schließt die Medizinerin eine chronische Amalgamvergiftung aus. Sie hegt hingegen den »Verdacht auf reaktive Depression«. Zu deutsch: Der Mann sei schwer niedergeschlagen, psychisch krank. In der abschließenden Beurteilung scheinen ihr dann doch Zweifel zu kommen. Oder läßt sie sich nur ein Hintertürchen offen? Jedenfalls ist dort plötzlich von einem »insgesamt« bestehenden Verdacht auf chronische Amalgamintoxikation die Rede.

Ende Oktober 1994 spult die Deutsche Klinik für Diagnostik in Wiesbaden ihr Programm ab. Im Auftrag der Krankenkasse werden erneut Blut, Stuhl, Urin untersucht, der Darm sonographiert, ein Neurologe und ein Psychiater schalten sich ein. Ergebnis: Speichel und Urin enthalten nicht mehr Quecksilber als bei Menschen ohne Amalgamplomben. Der Magen-Darm-Spezialist erkennt auf unbestimmte Bauchbeschwerden bei »depressiv-neurotischem Patienten«. Der Neurologe macht gar »hypochondrische« (eingebildete) Mechanismen bei dem Ingenieur aus, da er die Taubheitsgefühle auf der linken Seite durch Reaktionstests nicht bestätigt findet. Der Psychiater sieht eine »depressive Entwicklung seit 1988«. Professor Peter Lorbacher faßt zusammen: »Für eine Amalgamintoxikation besteht aufgrund der vorliegenden Befunde kein ausreichender Anlaß.« Im Vordergrund stehe bei Herrn N. »ein psychosomatisches Krankheitsbild bei depressiver Entwicklung«. Als Therapie wird die vierwöchige Gabe eines Antidepressivums (Aurorix) vorgeschlagen, das den Antriebsmangel des Kranken beheben soll - unter psychiatrischer Kontrolle; alternativ dazu eine Psychotherapie.

Reinhard Neubauer ist von dem Resultat nicht überrascht. »Der Mann ist nicht ganz hier oben«, hätten ihm die Gutachter bescheinigt. »Ach, da kommt einer mit Amalgamvergiftung«, begrüßten sie ihn bereits vor-urteilsbeladen. Statt dem Vorschlag der Wiesbadener zu folgen, begibt sich der seiner fünf Sinne völlig mächtige Mann für sechs Wochen in die Spezialklinik für allergische und degenerative Erkrankungen Neukirchen im niederbayerischen Rotz. Dort fällt die Diagnose gegenteilig aus. Festgestellt werden: Quecksilber- und Palladiumbelastung, stark gestörte Bakterienflora im Darm samt Pilzbefall. Schwermetallausleitungen wie eine wiederholte Stuhluntersuchung bestätigten diese Erkenntnisse. Selbst Fäulniserreger tummeln sich zuhauf in seinen Exkrementen. Die ersten Urinproben zeigen Quecksilberanteile von 100 Mikrogramm pro Liter. Als Richtwert gelten fünf Mikrogramm (Millionstel Gramm). Wird das eingelagerte Metall mit dem Komplexbildner Dimaval (Dimercaptopropen-1-Sulfonsäure/DPS) mobilisiert -es wird aus den belasteten Organen vor allem über die Niere ausgeschieden -, klettern die Werte in stattliche Höhen: Kupfer liegt um das 70fache über dem Richtwert (1308 Mikrogramm/Liter), Quecksilber um das GOfache (298 Mikrogramm) darüber; Zinn übertrifft den Grenzwert noch um 100 Prozent. In Amalgamfüllungen ist dieses Metall nur zu 16 Prozent enthalten. Es stellt aber ein etwa hundertmal wirksameres Nervengift dar als Quecksilber. Fazit der Neukirchner Arzte: »Die nachgewiesene Palladium- und Quecksilberbelastung spielt mit großer Wahrscheinlichkeit die Rolle eines übergeordneten Störfaktors für das Regulationssystem des Patienten.« Sie könne für die Entstehung und Unterhaltung des Krankheitsbildes mitverantwortlich sein. Neurologisch und internistisch stellen die Ärzte nichts Auffälliges fest. Neubauer - mittlerweile profunder Kenner der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema - formuliert nicht so vorsichtig. Mit diesen Laborwerten kann er zweifelsfrei belegen, daß seine inneren Organe mit Quecksilber, Kupfer, Zinn, Palladium vergiftet sind. Selbst die Urinprobe der inzwischen achten Schwermetallausleitung zeigt dies eindeutig: Noch immer übertreffen die Werte die Richtgrößen bei weitem. Bei Quecksilber verdoppeln sie sich nach der DMPS-Gabe regelmäßig. Aus anderen Quellen als den Zähnen kann diese Metallmenge gar nicht stammen. Die tägliche Aufnahme über Nahrungsmittel beträgt ein bis 30 Mikrogramm, aus Amalgamfüllungen drei bis 27 Mikrogramm.

Aber mit diesem Beweis gibt sich der Techniker nicht zufrieden. Auf eigene Kosten läßt er einen gezogenen Zahn untersuchen, in dem keine Plombe saß. Statt der Norm von 200 Mikrogramm pro Kilogramm Material enthält er 26100 Mikrogramm/Kilogramm Quecksilber. Dies dokumentiert, daß das giftige Metall sowohl über den Speichel wie die Pulpa (das Zahnmark) in den Organismus gelangt. Auch eine Haaranalyse zeigt einen erhöhten Quecksilberwert an, der laut Deutschem Mineralanalytischem Laboratorium (Bruckmühl/Oberbayern) verringert werden sollte.

Die Mehrzahl der Zahnmediziner, vor allem ihre Funktionäre sowie die amalgamproduzierende Industrie bestreiten diese Tatsachen nach wie vor entschieden. Toxikologen wie Max Daunderer werden seit gut einem Jahrzehnt als den Menschen Angst einflößende Scharlatane diffamiert. Dabei ist Neubauer kein Einzelfall. Der Münchner Giftwissenschaftler hat schon vor fünf Jahren rund tausend Quecksilbervergiftungen dargestellt. Die Palette der Krankheiten und Symptome ist vielfältig: Sie reicht von chronischer Nasennebenhöhlenentzündung über Migräne bis zu Gedächtnisstörungen, Allergieanfälligkeit, Neurodermitis oder multiple Sklerose. Panikmache, Übertreibung? In seiner Strafanzeige gegen die Firma Degussa als damaliger deutscher Hauptproduzent von Zahnamalgam — eingereicht am 20. Dezember 1990 - schreibt Daunderer, daß nur »zwei Prozent der von uns untersuchten Amalgamträger keine erhöhten Schwermetallwerte zeigten und keinerlei Beschwerden angaben«. Der Anzeige haben sich inzwischen 700 Geschädigte angeschlossen.

Professor Volker Zahn (Straubing) geht davon aus, daß rund 20 Prozent ihre Plomben beschwerdefrei tragen. Müssen demnach 80 bis 98 Prozent der Amalgam-Verplombten mit gesundheitlichen Schäden rechnen? Gewiß, wie bei anderen Giften reagieren die Menschen auch auf diese unterschiedlich. Da spielt die Zahl der Füllungen, wie lange sie getragen werden, ob jemand ständig kaut, aber auch berufliche Umstände, etwa elektromagnetische Felder eine Rolle. Empfindlichere Personen werden von den Metalleinlagerungen früher gebeutelt. Ihr Immunsystem kann die Schädigung schlechter abwehren und wird geschwächt. Reinhard Neubauers Immunabwehr gelingt zunächst die Bekämpfung des Pilzbefalls im Darmbereich nicht mehr.

Mediziner und Gesundheitsbehörden hätten gewarnt sein können, bevor sie das Massenexperiment mit dem giftigen Metall in den Mündern von Millionen Menschen antraten. Der Berliner Chemiker Professor Dr. Stock schrieb bereits 1926: »Die Zahnmedizin sollte die Verwendung von Amalgam als Zahnfüllung völlig vermeiden oder es zumindest nicht verwenden, wenn es eine andere Möglichkeit gibt. Es herrscht kein Zweifel darüber, daß viele Symptome, darunter Ermüdung, Depression, Reizbarkeit, Schwindelgefühl, Gedächtnisschwäche, Mundentzündung, Diarrhö (Durchfall), Appetitlosigkeit und chronische Katarrhe oft durch Quecksilber hervorgerufen werden, dem der Körper durch Amalgamfüllungen ausgesetzt ist, in kleinen, aber kontinuierlichen Mengen. Arzte sollten dieser Tatsache ihre ernsthafte Aufmerksamkeit schenken. Es wird dann wahrscheinlich festgestellt werden, daß das gedankenlose Einführen von Amalgam als Füllstoff für Zähne ein schweres Vergehen an der Menschheit gewesen ist.« Ein einsamer Warner? Beileibe nicht. Louis Löwin erklärt in seinem Lehrbuch der Toxikologie Gifte und Vergiftungen aus dem Jahre 1928: »Aus Amalgamplomben kann sich das Metall in die Mundhöhle hinein verflüchtigen bzw. von irgendeiner Umwandlungsform von der Zahnhöhle aus in die Saftbahnen aufgenommen werden und eine chronische Vergiftung erzeugen, die sich abgesehen von örtlichen Veränderungen im Munde durch die verschiedensten Organstörungen, besonders durch Ausfallsymptome von normalen Gehirn- und Nierenfunktionen darstellt.« Schon damals wandten sich Menschen »wegen dunkler, nervöser Krankheitssymptome« an Löwin. »Ich ließ stets solche Plomben entfernen und erzielte dadurch Heilungen«, berichtet er.

Treffender läßt sich das Problem kaum in Worte fassen. Doch die Ratschläge werden ignoriert. Amalgam wird in der Bundesrepublik als Arzneimittel zugelassen. Auch die Kritik, die diese Entscheidung begleitete, wirdjahrzehnte-lang beiseite geschoben. Konventionelles Amalgam — bestehend aus 50 Prozent Quecksilber und 50 Prozent Pulver mit mindestens 65 Prozent Silber, höchstens 29 Prozent Zinn und maximal sechs Prozent Kupfer - wird erst seit 1993 nicht mehr verwendet. Mit sogenanntem gamma-2-freiem Pulver (zur Hälfte Quecksilber, der Rest mit mindestens 40 Prozent Silber, maximal 32 Prozent Zinn, höchstens 30 Prozent Kupfer und drei Prozent Quecksilber) dürfen Zahnlöcher auch danach gefüllt werden. Noch im Frühjahr 1990 stellt die Beratungskommission Toxikologie der Deutschen Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie dem zahnärztlichen Wirkstoff das Zertifikat unbedenklich aus: Es bestehe keine Notwendigkeit, daß auf Amalgame verzichtet wird. Das Bundesgesundheitsamt erklärt zwei Jahre später: »Nach derzeitigem wissenschaftlichem Erkenntnisstand gibt es keinen begründeten Verdacht für ein gesundheitliches Risiko durch Amalgamfüllungen.« Vorbeugend empfiehlt die Berliner Behörde jedoch: bei Patienten mit schweren Nierenfunktionsstörungen keine neuen Füllungen zu legen; sorgfältiges Abwägen, ob Amalgameinsatz bei Kleinkindern in den ersten drei Lebensjahren notwendig sei; keine umfangreiche Amalgamtherapie während der Schwangerschaft - gegen einzelne Füllungen sei nichts einzuwenden. (Diese Vorschrift gilt bereits seit Oktober 1987.) Die geänderte Gebrauchsinformation beschränkt das Verwenden von Amalgam - »für Füllungen in Zähnen« war es bis dahin zugelassen - »auf kautragende Flächen im Seitenzahn-bereich, wenn andere Füllungswerkstoffe nicht indiziert sind und andere Restaurationstechniken nicht in Frage kommen«. Zu deutlicheren Einschränkungen, gar einem Verbot, kann sich das Amt nicht durchringen, obwohl die zuständige Beamtin Dr. Tamara Zinke im Bundesgesundheitsblatt (12/92) die Bedenken gegen den Füllstoff ausführlich darlegt. Daß die Quecksilberkonzentration im Urin von der Zahl der vorhandenen Amalgamplomben abhängt, wird nicht mehr bestritten. Fischreiche Nahrung spiele bei diesen Belastungen eine geringfügige Rolle, heißt es. Das aus dieser Quelle stammende giftigere Methylquecksilber wird vorwiegend über den Stuhl ausgeschieden. Seit zwei Jahren sei auch wissenschaftlich belegt, daß das aus Füllungen abgegebene Schwermetall in Organen gespeichert wird. Aus der 1992 veröffentlichten Studie des Rechtsmediziners und Toxikologen Gustav Drasch folgert Frau Zinke, daß »bei Personen mit einer höheren Zahl an Amalgamfüllungen im Mittel der größte Teil der Quecksilberbelastung der Organe aus diesen Füllungen stammt«. An 168 Leichen weist der Münchner Professor Drasch nach, daß ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Quecksilberkonzentrationen in ihren Organen und den Füllungen in ihrem Mund besteht. Sie liegen bei Personen mit mehr als zehn silbern schimmernden Zähnen im Durchschnitt in der Nierenrinde um das Elffache, in der Leber um das Vierfache und im Gehirn um das Zweifache höher als bei der Kontrollgruppe mit null bis zwei Plomben. Ähnliche Ergebnisse konnte bereits vier Jahre zuvor Professor Roland Schiele präsentieren. Der Erlanger Arbeitsmediziner zog jedoch andere Schlüsse, sprach von Einzelfällen. Zur Freude der Hersteller hielt er das Risiko eines Einsatzes der Metallegierungen für absolut vertretbar. Die Industrie wird es ihm gedankt haben; die Behörde pflichtete Schiele bei.

Aus der Drasch-Studie folgert das Bundesgesundheitsamt hingegen, »daß die Zahl der im Munde des Patienten befindlichen Amalgamfüllungen und damit die hiervon abhängige Quecksilberbelastung reduziert werden muß«. Da die Krankenkassen jedoch nur Plomben aus dem Billigmetall voll finanzieren, verwenden es die Zahnärzte fast uneingeschränkt weiter. Daß der Einsatz alternativer Füllstoffe im Gespräch mit den Patienten geklärt werden muß, wie Dr. Zinke verlangt, bleibt in der Praxis wohl die Ausnahme. Vom Ersetzen des Werkstoffs rät sie ab, »wenn dies nicht im Einzelfall, etwa bei allergischen Reaktionen, geboten ist«.

Dennoch zeitigen die wissenschaftlichen Studien Folgen. Ende 1993 steigt der Metall- und Chemiekonzern Degussa, Marktführer bei Amalgamfüllungen, aus der Produktion in Deutschland aus. In Österreich, Spanien, Frankreich wird allerdings weiter produziert. Die Firma befürchtet, doch zur Rechenschaft gezogen zu werden. Kurze Zeit später sorgt eine neue Untersuchung Draschs für Aufsehen. Im Gehirn und den Nieren von Embryonen - die Schwangerschaften wurden aus medizinischen Gründen abgebrochen - und toten Säuglingen findet er erhöhte Quecksilber werte, wenn die Mütter mehr als neun Amalgamplomben tragen. Bei Kindern von Müttern mit weniger als drei Füllungen nehmen die Konzentrationen im ersten Lebensjahr nicht mehr zu. Weist ihr Gebiß mehr als drei mit dem Arzneimittel bearbeitete Zähne auf, steigt sie auf das Zehnfache der vorgeburtlichen Konzentration der Kinderniere an. Der Rechtsmediziner schließt aus diesen Untersuchungen: »Zahnamalgam ist für den Menschen die Quecksilberquelle Nummer eins.« Wann die Belastung zu Gesundheitsschäden führe, wisse niemand genau. Weder für Erwachsene noch für Embryonen gebe es klare Grenzkonzentrationen. Daß die Geschädigten alle psychisch krank seien, »alle spinnen«, hält der Mediziner für absurd.

Gut ein Jahr benötigte das Bundesinstitut für Arzneimittel - eine der Nachfolgeeinrichtungen des aufgelösten Bundesgesundheitsamts-, um auf die neuen Messungen zu reagieren. Dabei zitiert es immer wieder Studien, die schon verjähren (etwa 1988) aufzeigten, daß Amalgamträger eine enorme Menge Quecksilberdampf im Mund verkraften müssen. Bei allen Amalgamträgern liegt er um den Faktor 100 über dem Quecksilbergehalt der Luft von Industriegebieten. Auch im Speichel übertrifft der Quecksilberanteil den Trinkwassergrenzwert der Weltgesundheitsorganisation (WHO) um ein Mehrfaches. Und das dauernd und über viele Jahre hinweg. Ende März 1995 ergeht endlich ein Bescheid an die Amalgamhersteller, der im Grunde das Aus dieses Werkstoffs bedeutet. In der Gebrauchsinformation heißt der neue Passus: »Aus Gründen des vorbeugenden Gesundheitsschutzes sollte die Zahl der Amalgamfüllungen für den einzelnen Patienten so gering wie möglich sein, da jede Amalgamfüllung zur Quecksilberbelastung des Menschen beiträgt.«

Im Auftrag der sechs bis sieben deutschen Produzenten legt der Bundesfachverband der Arzneimittelhersteller Widerspruch dagegen ein. Dr. Ehrhard Anhalt begründet ihn: »Für die Unverträglichkeit von Amalgam gibt es nicht die Spur eines Hinweises. Die meisten Wissenschaftler sind unserer Meinung.« Ende Juli weist das Arzneimittel-Institut die Eingabe ab. Die Begründungen der Firmen seien nicht stichhaltig. Jetzt hoffen die Hersteller auf eine Richtlinie der Europäischen Union, die Zahnfüllstoffe zu Medizinalprodukten erklärt. Dann könne die Berliner Behörde gegen ihre Produkte nicht mehr vorgehen.

Wenig später lenken die gesetzlichen Krankenkassen ein. Sie zahlen künftig auch für Kunststoffüllungen, obwohl diese weniger haltbar sind und mehr Geld kosten. Unumstritten sind diese Materialien zwar nicht, aber um ein Vielfaches weniger giftig. Die Funktionäre der Zahnärzte haben sich gegen diesen Beschluß übrigens lange gesträubt.

Und Reinhard Neubauer? Ihm geht es mittlerweile etwas besser. Ende Februar 1995 hat er sich den Kiefer öffnen lassen. Seine Krankenkasse erwägt, ob sie die Plombenproduzenten nicht auf Schadenersatz verklagen soll. Die Zahlung von Krankengeld an ihr Mitglied hat sie Mitte Juni eingestellt. Seine Kollegen im Betrieb verstehen seine Situation. Stundenweise kann er dort wieder arbeiten, seinen Beruf aber noch nicht wieder voll ausüben. Nach der Kasse muß er dazu die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte von seinem Leiden überzeugen. Neubauer weiß inzwischen auch, warum es ihn so hart getroffen hat. Das unsachgemäße Entfernen des Quecksilbers hat seinen Organismus etwa so stark mit dem Gift belastet, wie wenn er die Plomben noch zwanzig Jahre getragen hätte. Wie lange sein Körper noch braucht, um den Großteil der Schwermetalle loszuwerden, bleibt abzuwarten. Den Kampf gegen das Gift gibt er nicht auf. Rechenschaft verlangt er hingegen von jenen, die meist wider besseres Wissen den Einsatz der Substanzen befürwortet und gefördert haben - der kleinen, aber zahlungskräftigen Herstellerlobby zuliebe. Und noch immer legen Zahnärzte Amalgamfüllungen, ohne ihre Patienten überhaupt zu befragen. Der Skandal steht erst an seinem Anfang.

 

IV  Hochrisikotechnologie

Uwe Horden

»Ich will wissen, für wen ich ein Restrisiko bin« - Die Leukämie in der Elbmarsch

Szenario

Zwischen Ende 1989 und Mai 1991 erkrankten in der Samtgemeinde Elbmarsch (8000 Einwohner) fünf Kinder zwischen einem und neun Jahren sowie ein junger Erwachsener an Leukämie. Ein weiteres Mädchen im Alter von sieben Jahren erkrankte an aplastischer Anämie, einer Blutkrankheit, die in Leukämie übergehen kann. Ein Junge starb im Juni 1990, ein Mädchen im Januar 1992, der junge Mann im Oktober 1992. Die anderen Kinder leben noch und scheinen geheilt zu sein. Im August 1995 erkrankte ein zehnjähriger Junge an Leukämie.

Die Samtgemeinde Elbmarsch liegt im Urstromtal der Elbe, das gegenüberliegende Elbufer, an dem das AKW Krümmel liegt, steigt bis zu 70 Metern steil an. Die Krankheitsfälle traten alle entlang der Elbe auf niedersächsischer Seite auf, fünf direkt gegenüber dem Atomkraftwerk Krümmel, in dessen Nachbarschaft sich einer der ältesten deutschen Kernforschungsreaktoren befindet. Diese Lehrbuchsituation für durch Strahlung verursachte Leukämiefälle bildet den Hintergrund für die aufwendigste Leukämie-Cluster-Untersuchung, die es in Deutschland je gegeben hat.

Jahrelang berichteten Medien über die grausame Krankheit, deren Therapie nur unter entsetzlichen Qualen für die Kinder möglich ist, über immer neue Erkenntnisse, die die Ursachenforschung ans Tageslicht brachte - aber auch über die Knüppel, die die atomgläubige Wissenschaft und ihre Helfer kritischen Bürgern und Wissenschaftlern zwischen die Beine warfen. Die Medien berichteten von mutigen Frauen und Männern, die abschalten wollten, was ihr Leben und das ihrer Kinder bedroht. Und diese bundesweit bekanntgewordene Bürgerinitiative wäre nicht möglich gewesen ohne eine Mutter namens Birte Jürgens, die sich öffentlich zu der Krankheit ihrer Tochter bekannte, und ohne Sönke Rehr, der die letzten 18 Monate seines Lebens nutzen wollte, um zu wissen, »für wen ich ein Restrisiko bin «. Sie wäre aber auch nicht möglich gewesen ohne die Mithilfe der Umweltschutzorganisation Robin Wood, die durch die Blockade des Krümmel-Werkstores mehrfach öffentlich auf die ungeklärten Fragen hinwies. Das Ergebnis der Untersuchung ist noch offen und wird es wohl bleiben. Für die Menschen in der Elbmarsch hingegen ist die Ursache klar: Radioaktive Strahlen aus dem AKW - auch wenn die Fülle von Indizien nicht zu einer Stillegung geführt hat. Deswegen haben mehr als 11 000 Menschen aus der Region bereits im September 1991 mit ihrer Unterschrift die sofortige Abschaltung der Atomanlagen gefordert, bis bewiesen ist, daß sie für die Leukämieverursachung nicht verantwortlich sind.

Die ersten Symptome - schreckliche Gewißheit

Janne* war mit ihren dreieinhalb Jahren ein fröhliches, springlebendiges Kind, selten krank und nur schwer ins Bett zu bekommen. Melanie Ries* machte sich daher sofort Sorgen, als Janne zwei Tage lustlos und müde war. Als sie abends in der Badewanne dann auch noch eine Vielzahl von kleinen, stecknadelkopfgroßen blauen Flecken auf ihrem Rücken sah, ohne daß Janne sich gestoßen hatte, beschloß sie, doch lieber zum Arzt zu gehen.

Dr. Forkel, der als Allgemeinmediziner auch den Frauen- und Kinderarzt in der kleinen Samtgemeinde Elbmarsch versieht, hatte Mühe, seine aufsteigende Panik zu verbergen. Er ordnete eine Blutuntersuchung an und bat Frau Ries, sich doch am nächsten Tag wieder zu melden. Sein Verdacht bestätigte sich leider. Der Laborbefund lautete eindeutig auf Leukämie - und das war der dritte Fall von Leukämie innerhalb eines Vierteljahres in seiner Praxis. Die anderen Kinder waren Jens*, drei Jahre, und Monika*, sieben Jahre. In den zehn Jahren seiner Praxis zuvor war ihm erst eine einzige kindliche Leukämie begegnet. Die ärztliche Schweigepflicht verbot ihm, mit seinem Wissen an die Öffentlichkeit zu treten - er wandte sich schriftlich an die Gesundheitsbehörden.

Vier Fälle - der erste Verdacht

In dem 3000-Seelen-Dorf Tespe machte die Nachricht von den drei leukämiekranken Kindern schnell die Runde. Am 22. März 1990 titelte ein örtliches Anzeigenblatt: »Ungewöhnliche Häufung von Leukämiefällen beunruhigt nicht nur die Tesper Eltern.«1 Der Autor verglich die Häufung mit einem ähnlichen Ereignis in der Gemeinde Sittensen und mit der Serie von kindlichen Leukämien im britischen Sellafield. Gerade erst hatte der britische Epidemiologe Gardener aufgezeigt, daß Kinder von Männern, die in der Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield gearbeitet hatten, häufig an Leukämie erkrankten. Der englische Gesundheitsminister empfahl daraufhin Männern, die in Sellafield arbeiten, keine Kinder zu zeugen. »Alle ... Fälle ereigneten sich in unmittelbarer Nähe des Atomkraftwerks Krümmel und des dortigen Forschungsreaktors - soweit eine Parallele«, zeigte das Anzeigenblatt auch schon früh mögliche Ursachen auf.2 Die örtliche SPD lud zu einer Podiumsdiskussion über mögliche Gefahren radioaktiver Niedrigstrahlung ein -wenige Tage vor der Veranstaltung erkrankte ein viertes Kind an Leukämie. Zur Veranstaltung drängten sich 150 Personen, für politische Veranstaltungen in der dörflichen Samtgemeinde Elbmarsch ein untypisch guter Besuch. Die Besorgnis war mit Händen zu greifen. Die inzwischen mehrfach benachrichtigten Behörden schwiegen sich bis auf den Landkreis Harburg aus. Erst im September 1990 erfuhr eine Abordnung der Elbmarsch-SPD von der inzwischen neu ins Amt gekommenen Umweltministerin Monika Griefahn, daß in der Elbmarsch schwerpunktmäßig Untersuchungen auf Umweltrisiken vorgenommen werden sollen.

Leon*

Beim neunjährigen Leon stellt der Arzt im April 1990 Leukämie fest - ein Schock für die Eltern, die sich besonders gesundheitsbewußt ernähren. Leon erträgt die Chemotherapie nicht lange - im Juni wird er von seinen Leiden erlöst. Seine Eltern kommen jahrelang nicht über den Verlust ihres einzigen Sohnes hinweg. Sie werden krank an der Seele und kommen erst langsam wieder ins Gleichgewicht, als sie nacheinander noch zweimal Eltern werden. Die Unbeschwertheit des ersten Elternglücks stellt sich jedoch nie wieder ein - dem stehen die Erinnerungen im Wege.

Es sollte noch geschlagene sieben Monate dauern, ehe die angekündigte Untersuchung vorgestellt werden konnte. Noch im November 1990 waren sich Experten nicht einig in der Bewertung der Elbmarsch-Leukämiefälle. Selbst die Einstufung als Cluster (Häufung) schien fraglich.

Nicole

Aufmerksam werden Birte und Hans-Georg Jürgens schnell, als ihre kleine eineinhalbjährige Nicole früh müde wird, still und teilnahmslos wirkt. Als noch kleine, stecknadelkopfgroße blaue Flecken an Rücken und Beinen hinzukommen, ahnt Birte Jürgens schon, daß es Leukämie sein könnte. Aus dem Verdacht wird Gewißheit. Doch Birte und ihre Tochter geben nicht auf. Sie läßt sich von ihrem Arbeitgeber beurlauben, um wochenlang bei Nicole auf der Eppendorfer Kinderstation zu sein, wo ihr Immunsystem mit Chemotherapie zerstört wird, um die Leukämiezellen zu vernichten. Sie tröstet sie, gibt ihr zu essen, wenn sie denn essen kann, und spielt mit ihr. Sie baut sie zu Hause wieder auf, damit sie die nächste Chemotherapie übersteht. Die ist noch schwerer als die erste - doch die Behandlung hat Erfolg. Die ausgefallenen Haare wachsen wieder, Nicoles frühere Lebhaftigkeit kehrt zurück.

Der Arzt Dr. Eberhard Forkel, in dessen Praxis die meisten Leukämiefälle diagnostiziert wurden, betraute Anfang 1991 den Kasseler Kinderarzt Dr. Matthias Demuth mit der Aufgabe, wissenschaftlich exakt darzustellen, ob es ein Leukämie-Cluster Elbmarsch gibt und wie es zu bewerten sei. Die Studie mit dem Titel »Leukämie-morbidität bei Kindern in der direkten Umgebung des Kernkraftwerkes Krümmel«3 lag im Juni vor und beurteilte zusammenfassend das Cluster so: »In der direkten Umgebung des Kernkraftwerkes Krümmel traten von Beginn des Jahres 1990 bis zum Mai 1991 fünf Leukämiefälle bei Kindern auf. Dies ist in Anbetracht der Seltenheit kindlicher Leukämieerkrankungen eine äußerst ungewöhnliche Abweichung. Eine derartige Anzahl von Leukämiefällen in einem so engen zeitlichen Rahmen ist in einem so kleinen Gebiet in der Bundesrepublik bisher noch nicht beobachtet worden. Die Abweichungen der aufgetretenen Leukämiefälle von der Anzahl der dem Bundesdurchschnitt nach zu erwartenden Fälle ist ähnlich deutlich wie beispielsweise in der Umgebung der britischen Wiederaufbereitungsanlage Sellafield, wobei die Erkrankungsfälle dort in sehr viel größeren zeitlichen Abständen auftraten ... die ungewöhnliche Erhöhung der Leukämiefallzahlen, noch dazu in direkter Nähe eines Kernkraftwerkes, halte ich für sehr beunruhigend. Solange nicht das Gegenteil bewiesen wurde, wird man in Erwägung ziehen müssen, daß diese Erkrankungen am ehesten durch radioaktive Emissionen des Kernkraftwerkes hervorgerufen wurden.«4

Ende März 1991 kündigte die Bezirksregierung Lüneburg ein 16-Punkte-Untersuchungsprogramm an, mit dem alle denkbaren schädlichen Umweltfaktoren untersucht werden sollten. Mitte April wurde das Programm der Öffentlichkeit in Tespe vorgestellt. In der aufgeheizten Atmosphäre der Schützenhalle ließen etliche unter den 400 Anwesenden ihrer Wut über die zögerliche Behandlung der Leukämiefälle freien Lauf. Die Besonneneren waren mit dem vorgelegten umfassenden Umwelt-Monitoring nicht unzufrieden, gingen die Fragen doch allen Spuren nach, auch den scheinbar abwegigen. Im einzelnen sollte untersucht werden:

»Ist die Elbe die Ursache?«

  1. Suche nach weiteren Leukämie-Clustern entlang der Elbe (Kinderkrebsregister Mainz, Krebsregister der Ex-DDR)
  2. Schadstoffmessungen im Aerosol der Staustufe Rön-ne/Geesthacht (TU Marburg)
  3. Toxikologische Bewertung der Schadstofffracht der Elbe (Phtalate, Halogenester, Tributylzinn) durch die ArGe Elbe5
  4. Schadstoffmessungen in der Milch von Kühen, die im Deichvorland grasen (Projekt)
  5. Umweltbelastungen bei der Deicherhöhung mit Eibsediment (Schadstoffgutachten)
  6. Gibt es Besonderheiten der örtlichen Immissionssituation ?

  7. Belastung mit ionisierenden Strahlen (Reaktoren, Tschernobyl)
  8. Belastung mit elektromagnetischen Feldern (Sender, Hochspannung)
  9. Belastung mit chemischen Schadstoffen aus der Industrie
  10. Existenz von Altlasten bzw. belasteten Kinderspielplätzen
  11. Gibt es besondere Risikofaktoren im häuslichen Bereich ?

  12. Untersuchung der Innenraumbelastung mit Radon und Lösemitteln (Benzol)
  13. Untersuchung von Muttermilch auf Schwermetalle, Organochlorverbindungen und Radioaktivität
  14. Ermittlung von Besonderheiten beim Anbau eigenen Gemüses (Einsatz von Pflanzenschutz- und Düngemitteln, Herkunft des Beregnungswassers)
  15. Einsatz von Schädlingsbekämpfungsmitteln gegen Insekten und Nagetiere
  16. Gibt es besondere Risikofaktoren im medizinischen Bereich ?

  17. Nachweis von Antikörpern gegen leukämogene Viren
  18. Effekt-Monitoring (Chromosomenanalyse?) (Röntgenaufnahmen und Einsatz leukämieverdächtiger Medikamente bereits geprüft)
  19. Ist das Trinkwasser die Ursache?

  20. Belastung des Trinkwassers (Pflanzenschutzmittel, Altlasten)
    Die Niedersächsische Landesregierung installierte eine Arbeitsgruppe zur Information der Bevölkerung, zu der neben etlichen Wissenschaftlern auch Vertreter des AKW Krümmel, der Chemischen Fabrik Bock, der Gemeinden, von Schulen und Kindergärten sowie der Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Elbmarsch gehören, die sich formal am 8. Mai 1991 konstituierte. Sprecher wurden Dr. med. Helga Dieckmann, Ilona Halbe und Uwe Harden, Vertreter waren Marion Böhm, Eugen Prinz und Angela Richter.

Marco und Sönke

Wie eine Bombe schlägt die Nachricht von zwei weiteren Leukämiefällen in der Elbmarsch ein: Der neun Monate alte Marco Faulhaber, der bis vor wenigen Monaten Nachbar von Janne Ries gewesen war und nun auf der anderen Elbseite wohnt, ist an Leukämie erkrankt. Und um das Maß übervoll zu machen, wird auch noch bei dem 19jährigen Sönke Rehr aus Niedermarschacht Leukämie diagnostiziert. Angst bis hin zur Panik breitet sich aus in der Elbmarsch, die Ärzte kommen aus ihren Praxen gar nicht mehr heraus, weil sie ständig von verängstigten Müttern mit ihren Kindern aufgesucht werden. Lange Gespräche, Hunderte Male geführt, um Verständnis für die Krankheitssymptome zu schaffen, die ohne Vorwarnung, von einem auf den anderen Tag auftreten können. Immer wieder werden Blutuntersuchungen durchgeführt - doch vorerst tritt danach keine neue Leukämie auf.

Die Bürgerinitiative

Die Bürgerinitiative (BI) fand sich schnell: Zu den ersten Versammlungen kamen regelmäßig über 80 Menschen, davon mehr als zwei Drittel Frauen. Die Arbeit ging in drei Richtungen: Begleitung der wissenschaftlichen Untersuchungen mit Information der Bevölkerung, Öffentlichkeitsarbeit und Unterstützung der Leukämiekranken. An einem heißen Juliabend informieren im »Marschachter Hof« Dr. Michael Csicsaky vom niedersächsischen Sozialministerium, Dr. Wolfgang Sowislo von der Bezirksregierung Lüneburg und Kreisdirektor Hesemann vom Landkreis Harburg die BI über erste Untersuchungen. Im Raum ist auch ein junger, fahlblasser Mann mit haarlosem Kopf. Die aufgeheizte Luft scheint zu erstarren, als er sagt: »Ich bin Sönke Rehr,ich habe Leukämie, Und ich bin hier, um zu wissen für wen ich ein Restrisiko bin.« Die Konfrontation mit einem wahrhaft Betroffenen, einem Todkranken, trifft ausnahmslos alle Anwesenden bis ins Mark. Sie spüren, was sie wissen: Es geht der Bürgerinitiative nicht um Kleinigkeiten, es geht um Leben und Tod. Die Macht der Fakten, der Bedrohung ihres eigenen Lebens und, mehr noch, des Lebens ihrer Kinder treibt die Menschen immer wieder zu den Versammlungen, den Arbeitsgruppen und den Pressekonferenzen.

Als die ersten Spenden kommen - Irmtraud Viertel aus Tespe hat bereits über 4000 DM zusammen -, gründet die BI den »Verein Bürger gegen Leukämie in der Elbmarsch e. V«. Bis heute sind über 50 000 DM gespendet worden, die einerseits Betroffenen, andererseits der Ursachenforschung zugute gekommen sind. Insbesondere die Unabhängigkeit, eigenständig Forschungsaufträge in Höhe von mehreren tausend DM vergeben zu können, hat der BI enorme Handlungsmöglichkeiten beschert.

Die Untersuchungen — keine Spur

Die Arbeitsgruppe zur Information der Bevölkerung tagte am 14. 6. 1991 erstmals in Marschacht. Erste Untersuchungsergebnisse wurden vorgelegt, das aufregendste war die Schließung zweier Trinkwasserbrunnen im Niedermarschachter Wasserwerk. In Brunnen I wurde eine geringe Grenzwertüberschreitung (10%) des Schadstoffs Dichlorprop festgestellt, in beiden Brunnen wurde eine lange Zeit unidentifizierbare stickstoffhaltige Substanz festgestellt. Die genaue Analyse war bis heute nicht möglich, jedoch läßt sich diese Substanz im Elbwasser bis in die Tschechische Republik zurückverfolgen, wo sie offenbar von einer Zellulosefabrik abgegeben wird. Doch als Ursache für die Leukämieerkrankungen kam Trinkwasser nicht in Frage, weil es in ein Verbundnetz eingespeist wird, aus dem nur die Hälfte der Erkrankten ihr Wasser bezog. Ebenso interessant wie die Grenzen der Analytik ist die Tatsache, daß diese Substanz den Weg aus dem Eibwasser durch angeblich undurchdringliche Tonschichten zu den Trinkwasserreservoirs in 70 Metern Tiefe gefunden hat. Das zeigt, auf wie wackligen Füßen alle Annahmen über Schadstoffausbreitungswege stehen. Einige der 16 Untersuchungspunkte konnten bereits abgehandelt werden: Die Punkte l, 2, 3, 7, 9, 12 und 13 ergaben nicht den geringsten Hinweis auf eine außergewöhnliche Belastung der Umwelt oder der Nahrung mit Schadstoffen - ein Befund, der sich mit dem Abschluß des Untersuchungsprogramms immer mehr verstärkte. Letztlich blieb als mögliche Ursache das übrig, was Bürgerinitiative und kritische Wissenschaftler von vornherein in Verdacht hatten, nämlich radioaktive Strahlung.

Eine Professorin findet erste Hinweise auf Radioaktivität

Die Untersuchungen wurden in zwei Kommissionen angestellt, zu denen im Herbst 1992 noch eine dritte hinzukommen sollte: Die bereits mit der Untersuchung des Sittensen-Clusters6 befaßte niedersächsische Expertenkommission, die Fachbeamtenkommission »Radioaktivität«, in der niedersächsische und schleswig-holsteinische beamtete Wissenschaftler Umweltdaten untersuchten, und später die Expertenkommission zweier Länder, die der schleswig-holsteinische Energieminister Günter Jansen ins Leben rief, um prüfen zu lassen, ob radioaktive Abgaben für die Leukämieerkrankungen verantwortlich seien.

Bei der zweiten Sitzung der Arbeitsgruppe zur Information der Bevölkerung am 12.12. 1991 waren die Emissionen der Chemischen Fabrik Bock und radioaktive Strahlen die Themenschwerpunkte. Eine erste Begutachtung des Produktionsprozesses und der dazu benötigten Stoffe der Chemischen Fabrik Bock ergab, daß eine leukämogene oder karzinogene Potenz nicht zu erwarten ist.7 Die Firmenleitung der chemischen Fabrik, namentlich die Herren Günter Bock und Dr. Udo Gillandt, zeigte sich äußerst auskunftsbereit und entgegenkommend. Dies gipfelte in einer späteren, von der Bürgerinitiative in Auftrag gegebenen zweiten Begutachtung, die gleichfalls keinen denkbaren Zusammenhang zwischen den Leukämieerkrankungen und dem Betrieb der chemischen Fabrik herstellen konnte. Die Kernkraftwerk Krümmel GmbH ist leider weniger entgegenkommend aufgetreten.

Motor der Untersuchungen ist immer wieder die Bremer Physikprofessorin Dr. Inge Schmitz-Feuerhake, die am 12.12.1991 erstmals Hinweise für ein Einwirken radioaktiver Strahlen bekanntgab. Sie hatte bei fünf Geschwisterkindern der an Leukämie Erkrankten speziell präparierte Blutzellen (Lymphozyten) auf Chromosomenveränderungen, sogenannte dizentrische Chromosomen (Dies), hin untersucht. Bei drei Kindern wurde sie fündig, die von ihr genannte Zahl von vier dizentrischen Chromosomen bei 5005 untersuchten Zellen (Metaphasen) bedeutet nach ihrer Ansicht eine Verdoppelung der zu erwartenden Anzahl von 0,4 Dies pro 1000 Metaphasen. Sie fordert, in größerem Umfang Erwachsene aus der Elbmarsch auf Chromosomen- abweichungen hin zu untersuchen.

Krumme Touren oder wie man verwertbare Ergebnisse schon im Ansatz unmöglich machen kann

Die Expertenkommission beschloß jedoch am 18.2.1992 mehrheitlich, Chromosomenuntersuchungen an Kindern vorzunehmen und zwar an 30 Kindern aus der Elbmarsch und 30 aus einer unbelasteten Kontrollregion. Konzeption und Durchführung der Studie übernahm der Vorsitzende der niedersächsischen Expertenkommission, Prof. Hans-Erich Wichmann. In Marschacht stellte er die Einzelheiten der geplanten Chromosomenstudie vor und benannte als untere Altersgrenze der zu untersuchenden Kinder drei Jahre. Auf Vorhalte der BI, daß Kleinkinder absolut ungeeignet für den Nachweis einer wahrscheinlich länger, nämlich bis zu sechs Jahren zurückliegenden Strahlenbelastung seien, wurde das Mindestalter nach oben korrigiert. Nicht erfüllt wurde die BI-Forderung nach Durchführung der Erwachsenenstudie, obwohl Erfahrungen über das Verhalten dizentrischer Chromosomen bei Kindern zu diesem Zeitpunkt fehlten. Gegen erheblichen Widerstand gelang es der BI-Vertreterin, Ernährung aus dem eigenen Garten als wichtiges Auswahlkriterium für Elbmarschstudien- teilnehmer duirchzusetzen. Die Ernährung aus wohnortnahen Quellen scheint deshalb von Bedeutung zu sein, weil die Mehrzahl der erkrankten Kjnder sich aus dem eigenen Garten ernährt hat und radioaktiv belastete Nahrungsmittel ein denkbarer Belastungspfad sein könnten.

Frau Dr. Fender vom Bundesgesundheitsamt (BGA) versuchte auf dieser Kommissionssitzung unter Verweis auf eine eigene Publikation über den Einfluß des Rauchens die Strahlenspezifität der Chromosomenuntersuchung in Frage zu stellen, der sie selbst noch im Bundesgesundheitsblatt vom November 1991 »eine besondere Bedeutung« zugemessen hatte.8

Dabei wurde eine englische Originalarbeit in der Aussage grob verfälscht. Im Mai 1992 verhinderte die BI, daß die Ergebnisse der Untersuchung schon durch eine falsche Probandenauswahl verwässert werden. Es waren wieder Kinder von 0 bis 15 Jahren im Gespräch und Wohnorte außerhalb des 5-km-Radius. Nachdem das für die Studiendurchführung verantwortliche Institut (GSF) bei einer Besprechung entgegen der Absprache der Kommission verlauten ließ, daß Ernährung aus regionalem Anbau bei der Probandenauswahl zu vernachlässigen sei, forderte die BI, an der Auswahl beteiligt zu werden. Prof. Wichmann lehnte ab. Unter riesiger Hilfsbereitschaft der Bevölkerung wurden in Marschacht und in Plön, der schleswig-holsteinischen Vergleichsregion, Probanden ausgewählt, die für die Blutspende geeignet schienen.

Die Befürchtung der BI bestätigte sich: Der Faktor Ernährung war bei der Probandenauswahl in der Elbmarsch nicht berücksichtigt worden. Hingegen war bei der Vergleichsregion Plön der Faktor Ernährung aus dem eigenen Garten beachtet worden. Damals erschien dieses Vorgehen vollends unsinnig, da die Vergleichsregion sich gerade dadurch auszeichnen sollte, daß ein Atomkraftwerk hier nicht existiert und somit Radioaktivität in der Nahrungskette nicht erwartet werden konnte. Was man erst Monate später erfuhr: Gerade dieser Landkreis ist vom Tschernobyl-Fallout stark betroffen, wie ein Blick in den »Lengfelder-Atlas« unschwer frühzeitig verraten hätte. Es ist alles getan worden, um die Strahlenbelastung in Plön anzuheben, in der Elbmarsch hingegen vieles getan worden, um ein möglichst unauffälliges Ergebnis zu erhalten. In aller Eile wurden auf Kosten des Steuerzahlers zwölf Kinder aus der Elbmarsch zusätzlich in die Untersuchung einbezogen — hier wurde auf den Nahrungspfad geachtet. Im Juli 1992 präsentierte Inge Schmitz-Feuerhake ein weiteres Ergebnis eigener Forschungen: Bei fünf untersuchten Erwachsenen, es handelte sich um Elternteile leukämiekranker Kinder, fand ihr Bremer Institut insgesamt 1,7 dizentrische Chromosomen pro 1000 untersuchten Zellen -eine Zahl, die von Prof. Obe (Uni Essen) bestätigt wurde. Diese Zahl wird später auf 3,2 erhöht - mit 1,7 wollte man die absolut unstrittig als Dies erkannten Chromosomen bekanntgeben, um allen immer wieder vorgetragenen Einwänden gegen das Bremer Institut vorzubeugen.

Das Ergebnis zeigte einmal mehr, daß die dizentrischen Chromosomen mit der Nähe der untersuchten Probanden zu den Leukämiekranken stark zunimmt. Das deutet auf eine kleinräumige Strahleneinwirkung hin, wie sie zum Beispiel durch Nahrung aus dem eigenen Garten denkbar wäre. Diese Nähe zu den Leukämiefällen hat die offizielle Untersuchungskommission nie zum entscheidenden Kriterium gemacht.

Im September 1992 beschloß die niedersächsische Expertenkommission die von der BI von Anfang an geforderte Chromosomenstudie an Erwachsenen: 15 Erwachsene aus der Elbmarsch mit Ernährung aus dem Supermarkt, 15 weitere mit Ernährung aus eigenem Anbau sollten mit einer Kontrollgruppe von 15 Erwachsenen, wiederum aus Plön, verglichen werden. Die Ergebnisse lagen erst im Jahre 1993 vor, ergaben jedoch kein stimmiges Bild.

Die Knochenmarkspenderdatei

Sönke Rehr, der zwischen seinen Chemotherapien in Eppendorf immer wieder die Bl-Sitzungen besucht, schwankt zwischen Hoffen und Hoffnungslosigkeit. Mehrfach scheint die Therapie anzuschlagen, bis sich nach wenigen Wochen neue Leukämiezellen bilden. Seine Mutter Christa, seine Verlobte Anke und sein Freund Karim kümmern sich unermüdlich um ihn. Wenn es ihm gutgeht, kommt er zu den Bl-Sitzungen. Ist es die Ahnung, daß er der Krankheit unterliegen wird? Eine Knochenmarktransplantation ist die letzte Hoffnung. Er wird nicht müde, daraufhinzuweisen, daß es zu wenige Knochenmarkspender gibt. In den USA gibt es eine Datei mit 400000 registrierten Spendern, in der Bundesrepublik nur 35000 - daraus kann man keine Hoffnung schöpfen. Die BI bereitet eine Knochenmarkspendeaktion vor: Ilona Halbe und viele andere organisieren den Termin in der Tesper Schützenhalle, Eugen Prinz arbeitet mit der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) zusammen und macht die Pressearbeit. Am 17. 6. 1992 finden in Tespe, Winsen und Geesthacht Bluttesttermine statt, zu denen 1717 Menschen kommen. Der »Lion's Club« in Winsen wie die Johanniter in Geesthacht haben enorm geholfen, ebenso die DRK-Ortsvereine in der Elbmarsch. Am Jahresende gibt es in der Bundesrepublik über 100 000 registrierte potentielle Knochenmarkspender.

Wenige Tage nach der Aktion: Sönke ist verzweifelt: Wieder haben sich Leukämiezellen gebildet, die Ärzte machen ihm keine Hoffnung mehr. Einige Monate, vielleicht ein halbes Jahr habe er noch zu leben. Eine Knochenmarktransplantation ist nicht mehr möglich. Sein Wunsch, auch nur wenige Stunden am Tag arbeiten zu können - er ist gelernter Tischler -, geht nicht in Erfüllung. Er kann das Angebot des Landkreises Harburg nicht mehr annehmen. Bewundernswert ist die Haltung seiner Mutter und seiner Verlobten. Sönke und Anke überlegen, ob sie heiraten sollten. Er spricht mit Freunden aus der BI, schließlich mit Pastor Otto Kopka. Niemand rät ihm ab. Die Hochzeit wird für Anfang Oktober geplant.

Der Sommer ist für Sönke schrecklich. Seine Kraft nimmt immer mehr ab, essen kann er fast nichts mehr, die Stunden, die er sich auf den Beinen halten kann, werden immer weniger. Seine Mutter, seine Verlobte und die Ärzte helfen ihm, seine Krankheit zu Hause erleiden zu können und nicht in den traurigen Krankenzimmern der Krebsstation in Hamburg-Eppendorf. Trotzdem behält er sein Ziel vor Augen, und er erreicht es. Anfang Oktober tritt er mit seiner Verlobten vor den Traualtar. Trauer und Glück in einem, Pastor Kopka spricht die Dinge so an, wie sie sind. Daß auch ihm die Stimme zeitweise versagt, ist nur zu verständlich. Auch wenn Sönke im Rollstuhl fährt - die Hochzeit wird im »Marschachter Hof« gefeiert. Fast alle seine Freunde sind dabei, auch die Schwiegereltern, die alles andere als erfreut waren. »Das ist der schönste Tag in meinem Leben«, sagter - und das ist die volle Wahrheit.

Wenige Tage später bricht er zu einer Reise zu Freunden auf. In der Nähe von Köln ist seine Kraft zu Ende. Er muß ins Krankenhaus und stirbt in der darauffolgenden Nacht.

Sönke war die Seele der Bürgerinitiative - mit ihm stirbt ein Teil von ihr.

Unplausible Ergebnisse — und wie sie zustande kamen

Das Ergebnis der sogenannten Kinder-Chromosomenstudie im Mai 1993 warf nur Rätsel auf: Bei den Elbrnarschprobanden wurden 0,43 dizentrische Chromosomen je 1000 untersuchten Metaphasen gefunden - ein normaler Wert -, bei den Plönern jedoch 0,706. Die 19 Dies in der Plöner Probandengruppe stammten allesamt von Mädchen, die 19 der 30 Plöner Untersuchten stellten. Eine Probandin wurde mit vier Dies gezählt, eine andere mit drei, drei weitere mit zwei Dies. Übereinstimmend sagten alle an der Untersuchung beteiligten Labors, daß ihnen mehr als zwei dizentrische Chromosomen je 1000 ausgezählten Metaphasen bei einer unbelasteten Kontrollgruppe noch nie begegnet seien. Also blieben drei Fragen: Warum ist der Befund bei den Plönern höher als bei den Elbmarschern? Warum finden sich die Befunde nur bei den Plöner Mädchen, und warum finden sich diese exorbitant hohen Werte?

»Die haben uns über den Tisch gezogen,« war die erste Reaktion von Inge Schmitz-Feuerhake nach der Sitzung der Expertenkommission in Hannover. Immer wieder sagte sie diesen Satz. Signifikant an der Untersuchung waren vor allem die Zufälle. Die BI sprach ziemlich bald von Manipulation, was ihr böse Reaktionen einbrachte. Erst über eineinhalb Jahre später wurde festgestellt, daß das ehemalige BGA-Institut der Frau Dr. Fender offenbar nicht in der Lage oder nicht willens ist, dizentrische Chromosomen zuverlässig zu identifizieren und zu zählen. Dem Bremer Institut von Prof. Schmitz-Feuerhake dagegen wurde erstklassige Arbeit attestiert.

Damit fand die Kinderchromosomenstudie ein unrühmliches Ende, sind die Ergebnisse doch nicht zu verwenden. Verwendbar hingegen waren Untersuchungen, die die Bürgerinitiative veranlaßt hatte: Bei fünf Personen, es handelte sich um Elternteile von Leukämiekranken, war ein Mittelwert von 2,32 Dies pro 1000 Zellen gefunden worden - ein Ergebnis, das wiederum auf hohe Strahleneinwirkung schließen ließ. Die Untersuchten wohnten allesamt nahe bei den Leukämiekranken. Damit war Inge Schmitz-Feuerhake bei drei Untersuchungen dreimal auf ein signifikantes Ergebnis gekommen, das sich mit der Nähe zu den Leukämiefällen auch nachvollziehbar erklären läßt. Weitere Untersuchungen bestätigten diesen Befund. »Wir selbst hatten inzwischen unsere Untersuchungen mit Hilfe der Bürgerinitiative auf 19 Erwachsene der Elbmarsch ausgedehnt und sind nun sicher, daß die Bevölkerung dort tatsächlich verstrahlt wurde.«9

Bislang ungelöste Rätsel in Baumscheiben

Bereits im November 1992 hatte Prof. Schmitz-Feuerhake in Marschacht erste Proben von Baumscheiben auf Radioaktivität hin bekanntgegeben. Nach ihren Untersuchungen waren Baumscheiben aus der Elbmarsch mit strahlendem Material belastet - vermutet wurde Tritium -, Baumscheiben aus anderen Regionen hingegen nicht. Das neuerliche Indiz brachte die Gegenseite in Aktion, die sowohl Methode als auch Ergebnis bezweifelte, jedoch nicht erklären kann, warum Bäume aus der Elbmarsch anders reagieren als Bäume von anderswo. Und zwar zeigt sich die radioaktive Spur wiederum um so stärker, je näher sie räumlich zu den Leukämiefällen liegt. Die sich anschließenden Untersuchungsergebnisse werden vermutlich im Frühjahr 1996 bekanntgegeben, was noch keine Gewähr dafür bietet, daß sie auch einvernehmlich beurteilt werden. Wieviel Strahlung ist in Baumscheiben normal? Ein Becquerel je Kilogramm, oder zehn, oder hundert? Wieviel muß dasein, um ein Atomkraftwerk abzuschalten?

Enttäuschung über Öko-Institut

Nach über einjähriger Reparaturphase ging das AKW Krümmel im Oktober 1994 wieder ans Netz. Das von der Bürgerinitiative und Robin Wood als Träger der Studie durchgesetzte Öko-Institut, das zuvor alle betriebsrelevanten Daten des AKW geprüft und bewertet hatte, attestierte diesem, keine leukämierelevanten Dosen freigesetzt zu haben. Daraufhin wagte es der Kieler Energieminister Claus Möller nicht, die Erlaubnis zum Wiederanfahren des Reaktors zu verweigern. Diesem vorschnellen Urteil steht die These von Inge Schmitz-Feuerhake entgegen, daß diffuse Freisetzungen aus dem Maschinenhaus sowohl die Strahlung in Baumscheiben als auch die dizentrischen Chromosomen, als auch die Leukämiefälle verursacht haben. Untermauert wird diese These durch eine Fülle von Spuren radioaktiver Edelgase, die als »Meßfehler«, »Gerätestörungen« oder »unerklärliche Ergebnisse« keinen Sinn machen, als Spuren von radioaktiven Leckagen hingegen schon. Einen Sinn macht diese These zusammen mit einem Ereignis aus dem Jahre 1987, das die Elbmarsch in Tespe an den Rand einer Naturkatastrophe brachte. Infolge einer Eisversetzung, eines Eisstaus kurz vor der Staustufe in Rönne, staute sich das Eibhochwasser bis an die Deichkrone. Das AKW Krümmel drohte voll Wasser zu laufen. Der damalige alte Tesper Elbdeich war durchlässig wie ein Schwamm. Das Eibwasser drückte durch den Deich und überschwemmte die eibnahen Bereiche, in denen später die Leukämiefälle auftraten. In diesen Bereichen wohnen auch die Menschen, bei denen Inge Schmitz-Feuerhake vermehrt dizentrische Chromosomen feststellte. Hier steht auch die Kastanie, in der erhöhte Radioaktivität festgestellt wurde, hiervon betroffen ist auch die Marschachter Eiche, bei der gleichfalls Radioaktivität in Baumringen vermutet wurde. Auf welchem Wege auch immer die radioaktiven Stoffe den Weg zu ihren Opfern gefunden haben, das 1987er Elbhoch-wasser dürfte eine wichtige Rolle gespielt haben. Entweder waren die Schadstoffe darin, oder es hat sie aufgenommen und in die Gärten getragen. Es hat sich wohl um eine kleinräumige Verseuchung gehandelt, an der jede großangelegte Vergleichsuntersuchung vorbeilaufen muß. Die Wasserhypothese, die aus der Bürgerinitiative heraus immer wieder ins Spiel gebracht wird, wurde bislang wohl deshalb nicht aufgegriffen, weil keiner der untersuchenden Wissenschaftler sich vorstellen kann, wie ein schleichender Deichbruch wirkt. Sie paßt dennoch mit den bisher bekannten Indizien zusammen

Zufallsmessung?

Eine lange Zeit unbeachtete Zufallsmessung vom 3. August 1991 - das AKW Krümmel war am Vortag vom Netz gegangen - sollte noch eine traurige Bedeutung erlangen: An einem schönen Sommerabend, der Tesper Diplomingenieur Hartmut Wolf* saß mit Freunden auf der Terrasse, vernahm einer der Besucher einen kurzen Piepton, der sich mit zunehmender Intensität wiederholte. Das Warngerät, das der beruflich mit der Überprüfung von Atomanlagen befaßte Diplomingenieur mit nach Hause gebracht hatte, zeigte radioaktive Strahlung an. Später wurde die Dosis auf zwei bis sechs Millirem pro Stunde berechnet. Hartmut W. prüfte zunächst sein Gerät auf eine eventuelle Störung. Danach ging er in der näheren Umgebung umher und fand seine Messung bestätigt, die nach einer Dreiviertelstunde abklang. Rückfragen bei seinem Arbeitgeber, dem GKSS-Forschungszentrum in Geesthacht, sowie bei der Kernreaktorfernüberwachung ergaben keine Bestätigung seines Meßergebnisses. Daraufhin geriet diese Messung in Vergessenheit. Sie lebte erst wieder auf, als im August 1995 der zehnjährige Wolfgang Holz* an Leukämie erkrankte. Wolfgang H. und Hartmut W. sind Nachbarn. Die Kieler Reaktoraufsicht sieht auch hier keinen Zusammenhang zwischen der Beobachtung des Diplomingenieurs und dem benachbarten Leukämiefall. Verärgert stellen die Beamten fest: »Herr W. ist kein direkter Nachbar von dem an Leukämie erkrankten Jungen, er wohnt eine Straße weiter.«10 Die Entfernung zwischen beiden Wohnhäusern beträgt etwa 120 Meter Luftlinie.

Ausblick

Noch sind wichtige Untersuchungen nicht abgeschlossen, und es ist durchaus denkbar, daß weitere erdrückende Indizien für eine zurückliegende radioaktive Belastung der Elbmarsch gefunden werden. Das Leukämie-Cluster hat die Menschen in der Elbmarsch verändert.Umweltschutz, gesunde Nahrung und Vorsorge für die Kinder spielen eine ungleich wichtigere Rolle als zuvor. Viele Menschen haben gelernt, sich zu engagieren, selbst etwas zu tun, sich mit anderen zusammenzuschließen. Das bereichert die Gemeinschaft und trägt Früchte. Der Glaube an die Politik und ihre Möglichkeiten ist deutlich geschrumpft - er ist jetzt vielleicht so realistisch, wie er immer schon hätte sein sollen. Drei von acht an Leukämie Erkrankten leben nicht mehr - die anderen verdanken ärztlicher Kunst ihr Leben, und sie haben gute Chancen, völlig geheilt zu werden. Auch Wolfgang H. hat gute Aussichten, seine Krankheit zu überwinden.Die Bürgerinitiative macht weiter, auch wenn die Zahl der Aktiven geschrumpft ist. Viele können es nicht ertragen, ständig an die Gefahr erinnert zu werden, mit der sie leben. Andere können es nicht ertragen, mit der Gefahr zu leben, ohne etwas dagegen zu tun.

* Die richtigen Namen sind dem Autor bekannt.

Anmerkungen

1)   Elbufer-Bote, 22.3.1990, S. l f.

2.)   Elbufer-Bote, 22.3.1990, S. 2

3.)   M. Demuth: Leukämiemorbidität bei Kindern in der direkten Umgebung des Kernkraftwerkes Krümmel, Drage, 1991

4.)   Demuth, a. a O., S. 12 f.

5.)   Arbeitsgemeinschaft zur Reinhaltung der Elbe

6.)   Sittensen-Cluster: Häufung von Leukämiefällen in der niedersächsischen Gemeinde Sittensen

7.)   Bezirksregierung Lüneburg: Protokoll der 2. Sitzung der Arbeitsgruppe Leukämie in der Elbmarsch

8.)  Fender u. a.: Bundesgesundheitsblattll/9l, S. 519

9.)   Inge Schmitz-Feuerhake: »Bürger wurden verstrahlt«,Frankfurter Rundschau vom 18. 10. 1994

10.)   Tischvorlage für Leukämie-Kommission, Sitzung vom 28. 9. 1995: Stellungnahme des Ministeriums für Energie Schleswig-Holstein zur Rede von MDL Uwe Horden im Niedersächsischen Landtag vom 15. 9. 1995, S. 3

 

V  Ist Heilung möglich?

Elisabeth Josenhans

»Man muß alle verfügbaren Register ziehen, um zum Erfolg zu kommen«
- Krankheit und Heilung

Heute sehe ich meine Erkrankung als Herausforderung an, als einen Weg, den ich gehen mußte, um in unserer »toxischen Gesamtsituation« zu überleben.

Heute kann ich gelassen sein, nachdem ich Gelegenheit hatte, den Charakter chronischer Vergiftungen an mir selbst zu erkennen und zu studieren. Das beste Lehrbuch für Umweltmedizin bin ich selbst gewesen. Es begann im Mai 1987 mit einer sehr merkwürdigen Erkrankung. Ganz plötzlich traten Atemnot, Kreislaufversagen, Schwindel, Schweißausbrüche, Gelenk- und Muskelschmerzen, Übelkeit, ausgeprägte Blässe, attackenartige Schmerzen beim Einatmen, Hustenreiz, starke Kopfschmerzen, Blauverfärbung der Hände und Füße, Temperaturanstieg auf 40 Grad auf. Ich war gerade aus dem Allgäu in unser Haus bei Tübingen zurückgekehrt.

Bei stationärer Aufnahme in der Medizinischen Klinik der Universität Tübingen wurden keilförmige Verschattungen in den Lungenunterfeldern beidseits festgestellt. Die Lungenfunktion war gestört. Von den betreuenden Ärzten wurden zahlreiche Gefäßverschlüsse in der Lunge vermutet, eine sichere Diagnosestellung und auch Feststellung der Ursache der Erkrankung war nicht möglich. Eine spontane Besserung des Zustandes trat schon nach wenigen Tagen ein, ohne daß spezifische Therapiemaßnahmen eingeleitet worden waren.

Auch ich selbst hatte keine Erklärung für das akute Krankheitsbild.

Schon längere Zeit vorher war mein schlechtes Allgemeinbefinden auffällig. Warum ich häufig müde war, konnte ich mir zunächst nicht erklären. War mein Arbeitstag zu lang? War ich der Doppelbelastung durch Praxis und Haushalt nicht mehr gewachsen? War meine Infektanfälligkeit nur Folge von Streß oder gab es andere Ursachen für die Schwächung meines Immunsystems? Auffällig war, daß ich besonders im Frühjahr und in den Sommermonaten erkrankte.

Im Juli 1985 ging es mir besonders schlecht. Husten, Kopfschmerzen, Kieferhöhlenentzündung, Brennen der Augen, Fieberschübe, Atemnot, Hautrötungen und Kreislaufprobleme schwächten mich sehr. Zu diesem Zeitpunkt habe ich noch an einen schweren Virusinfekt gedacht.

Im Frühjahr und im Sommer 1986 wiederholte sich das Krankheitsbild. Die Beschwerden wurden stärker und hielten länger an. Sie klangen unmittelbar nach Beginn eines Sommerurlaubs in den Bergen wieder ab.

Im Oktober 1986 und im März 1987 kam die Erkrankung wieder. Ein Ortswechsel durch Urlaub brachte wiederum sofortiges Abheilen. Fachärztliche Untersuchungen waren ergebnislos, eine Allergie oder ein Infekt wurden ausgeschlossen.

Bis zum Zeitpunkt der schweren und sehr akuten Erkrankung im Mai 1987 konnte ich mir nicht vorstellen, daß meine Beschwerden durch Gifte verursacht wurden. Jetzt aber drängte sich der Verdacht auf eine Vergiftung geradezu auf, vor allem durch das plötzliche Auftreten der Symptome, die rasche Heilung ohne Therapie und einzelne Laborwerte, die auf eine Vergiftung hinwiesen.

Welche giftige Substanz aber war die Ursache?

Giftstoffe am Wohnort waren am ehesten wahrscheinlich. Chemikalien in unserem Haus waren als Ursache nicht anzunehmen, da die Beschwerden bevorzugt im Sommer auftraten. Es mußte sich also um Schadstoffe in der Luft handeln.

Bei der zufälligen Lektüre des Buches Giftgrün kam mir erstmals der Gedanke an Pflanzenschutzmittel als Ursache meiner Erkrankung Ich äußerte diesen Verdacht gegenüber meinen behandelnden Klinikärzten. Sofort wurde ich - wegen Verdachts auf Paranoia (Verfolgungswahn) - einem Psychiater vorgestellt. Aus psychiatrischer Sicht hat sich der Verdacht auf eine »Paranoia« nicht bestätigt. Meine Distanz dem Problem gegenüber hat mich vor dieser Diagnose bewahrt. Wie sehr mich Pflanzenschutzmittel tatsächlich verfolgen würden, wußte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Meine Recherchen beim bäuerlichen Nachbarn waren rasch erfolgreich. Unmittelbar vor meiner akuten Erkrankung im Mai 1987 wurden mehrere Felder in der direkten Umgebung unseres Hauses bei Tübingen mit verschiedenen Pflanzenschutzmitteln besprüht. Dies geschah auch im Oktober 1986 und im März 1987. Das Studium der Literatur über Symptome bei Vergiftungen mit Pflanzenschutzmitteln verstärkte meinen Verdacht.

Jetzt sah ich auch die mysteriösen Erkrankungen unserer Haustiere in einem anderen Licht. Ich hatte mir nie erklären können, warum unsere Kätzin nachmittags munter auf Jagd ging und wenige Stunden später an einer Lungenentzündung mit hohem Fieber erkrankte. Ich konnte auch nicht verstehen, warum unser kerngesunder Kater plötzlich und wiederholt eine Darmlähmung bekam. Ich habe mir oft Gedanken darüber gemacht, warum unser Hund nach einem Spaziergang in der Nähe der Felder gerötete Augen, einen hochroten Rachen, völlige Apathie und einen Fieberschub bis 40 Grad entwickelte, um nach wenigen Stunden wieder zu genesen. Auffallend war, daß unsere Haustiere jeweils gleichzeitig mit mir erkrankten.

Heute weiß ich, daß Katzen besonders empfindlich auf bestimmte Chemikalien reagieren und ganz besonders auf Phenole und Kresole. Diese Stoffe können zum Beispiel auch in Pflanzenschutzmitteln enthalten sein. Durch meine eigene Erkrankung sensibilisiert, sah ich ab Juni 1987 auch in meiner Tübinger Praxis Patienten, die ganz ähnliche Beschwerden schilderten. Bei allen diesen Patienten lagen dieselbe Anamnese, ein gleichartiges klinisches Bild und vergleichbare Lebensbedingungen vor. In der Regel wohnten die Betroffenen am Ortsrand in der Nähe von landwirtschaftlich genutzten Flächen oder hatten Lebensgewohnheiten, die sie täglich zu den Feldern führten.

Übereinstimmend klangen die Beschwerden bei allen Patienten bereits nach wenigen Tagen ab, wenn sie einen Ortswechsel vornahmen, um wieder aufzutreten, sobald sie nach Hause zurückkehrten.

An schwülwarmen Tagen oder bei Nebel wurden die Symptome bei allen Patienten deutlicher, ein Phänomen, das auch bei mir in der gleichen Weise auftrat. Besonders auffallend war eine jahreszeitliche Verschlechterung mit Beschwerdegipfeln jeweils im März, Mai, September und Oktober. In den genannten Monaten wurden Pflanzenschutzmittel im Raum Tübingen bevorzugt und in größeren Mengen eingesetzt. Im Verlauf meiner eigenen Erkrankung wurden die typischen Charakteristika einer chronischen Vergiftung sichtbar. Die Beschwerden verstärkten sich. Das klinische Bild wurde bunter. Im Sommer 1987 standen Schleimhautreaktionen wie Husten, Kieferhöhlenentzündungen, Schnupfen und Augen tränen im Vordergrund. Schon im Frühjahr 1988 traten auf: Herzrhythmusstörungen, Nierenschmerzen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Haarausfall, Gewichtsabnahme, starkes Schwitzen und psychische Veränderungen. Die Ähnlichkeit mit einer psychosomati-schen Erkrankung war deutlich.

Im Mai 1988 war eine erneute stationäre Behandlung notwendig, diesmal in der Neurologischen Klinik. Eine Stammhirnschädigung mit Drehschwindel und Übelkeit brachte mich mehrere Wochen aus dem Gleichgewicht. Wieder einmal konnte ich meiner Praxistätigkeit nicht nachgehen. Ich habe sehr viel Kraft benötigt, um diese Erkrankung zu überstehen.

Wieder blieb die Ursache meines Leidens ungeklärt. Ich selbst aber wußte, daß unmittelbar vorher die Felder in unserer Nachbarschaft mit Pflanzenschutzmitteln besprüht worden waren. Die Verdachtsdiagnose einer Vergiftung mit Pflanzenschutzmitteln stützt sich bis heute noch auf das klinische Bild und den Verlauf meiner Erkrankung.

Der Versuch, Pflanzenschutzmittel im Serum und in Urinproben nachzuweisen, ist sowohl bei mir als auch bei meinen Patienten gescheitert. Es fand sich kein kompetentes Labor, das die erforderlichen umfangreichen Untersuchungen übernehmen konnte. Neben finanziellen Aspekten lag die Schwierigkeit der Untersuchung vor allem in der Vielzahl der in Frage kommenden chemischen Substanzen, in der Geschwindigkeit der Stoffwechselvorgänge einzelner chemischer Verbindungen und in den fehlenden analytischen Standardverfahren für verschiedene Pestizide (Pflanzenschutzmittel) und deren Stoffwechselprodukte. Rückschlüsse auf die Art der Pestizide waren nur durch die Symptome möglich.

Naheliegend war es, diejenigen Agrarchemikalien ins Auge zu fassen, die im Kreis Tübingen zum Zeitpunkt meiner Erkrankung eingesetzt wurden. Eigene Erkundigungen ergaben, daß häufig phenolhaltige Kombinationspräparate benützt worden sind. Chronische Vergiftungen mit Dinitrophenolen beschreibt der bekannte Schweizer Toxikologe Sven Moeschlin 1986 wie folgt:

Das Vergiftungsbild mit Dinitrophenolen ist subjektiv durch Kopfschmerzen, Mattigkeit, neurovegetative Labilität mit Neigung zu starkem Schwitzen, auffallendem Wärmegefühl, Bauchschmerzen und durch Appetitlosigkeit charakterisiert (...). Objektiv findet man eine leichte Gelbfärbung der Haut, dann vor allem eine starke Gewichtsabnahme (...), Steigerung des Grundumsatzes und der Temperatur, evtl. bis auf 40 Grad, dann die Vermehrung der Milchsäure und des Acetons im Blut und als Folge der Herzschädigung Zyanose, Tachykardie und Blutdruckabfall. Charakteristisch soll (...) eine starke Erhöhung der Atemfrequenz mit Abnahme der Atemtiefe bei subjektiver Atemnot sein.

Die Ähnlichkeit des Vergiftungsbildes mit Dinitrophenolen und meinem Krankheitsbild war leicht zu erkennen. Nachdem sich die Verdachtsdiagnose einer Vergiftung mit Pflanzenschutzmitteln bei mir erhärtet hatte, begann die Suche nach einer geeigneten Therapie.

Ein spezifisches Gegenmittel bei chronischer Pflanzenschutzmittelvergiftung gibt es nicht. Schulmedizinische Behandlungsmaßnahmen brachten keinen Erfolg. Sie waren zudem nur symptomatisch möglich. Insbesondere nach Einnahme von Antibiotika war mein Allgemeinzustand deutlich schlechter, übliche antiallergische Medikamente waren wirkungslos. Es folgten vergebliche Versuche mit homöopathischen bzw. alternativen Therapieformen. Am wirkungsvollsten war jeweils, wenn ich mich den Giftstoffen durch einen Urlaub, durch vorübergehendes Wohnen in der Stadt oder einen Krankenhausaufenthalt entziehen konnte. Eine Linderung der Beschwerden trat erst ein durch Heilfasten, durch konsequente Umstellung der Ernährung auf möglichst pestizidfreie Nahrungsmittel und überwiegend pflanzliche Kost.

Nachdem mich im Herbst 1988 zunehmende Herzrhythmusstörungen und Schwindelattacken im Arbeitsalltag sehr einschränkten und die Lebensqualität wesentlich reduzierten, verließ ich den Raum Tübingen.

Während der anschließenden Tätigkeit in einer Umweltklinik in Südbayern - weitab von Feldern jeder Art -besserte sich mein Allgemeinzustand sehr rasch. Nach allgemeiner Stabilisierung habe ich Ende 1989 mit der Gründung einer neuen Facharztpraxis in Südbayern den Grundstein zu meiner Heilung gelegt.

Ich bin heute überzeugt, daß nur durch den rechtzeitigen Wegzug aus Tübingen ein Fortschreiten meiner Erkrankung zu verhindern war.

Zusätzliche Maßnahmen zur Erhaltung meiner gesundheitlichen Stabilität erwiesen sich als notwendig, da umweltkranke Menschen grundsätzlich chemikaliensensibel sind. Dieses Faktum habe ich bei mir selbst immer wieder bestätigt gesehen. Auch meine umweltkranken Patienten haben es mir oft sehr deutlich geschildert.

Die Umweltkrankheit wird durch irgendeine giftige Substanz mit ausreichender Stärke und Dosis ausgelöst und durch bestimmte Umstände wie Streß, Erbfaktoren, Ernährung usw. gefördert.

Ist die Erkrankung erst einmal aufgetreten, bleibt eine generelle Sensibilität gegenüber Chemikalien auch dann erhalten, wenn die Krankheit bereits wieder abgeheilt ist. Aussicht auf Heilung besteht nur dann, wenn man gelernt hat, Chemikalien - soweit wie möglich - auszuweichen. Der beste Indikator für Chemikalieneinwirkung ist das eigene Befinden. Plötzliches Schwitzen, Nervosität, Hautrötungen oder Schnupfen in einem Kaufhaus können ebenso auf eine Chemikalienbelastung hinweisen wie Kopfschmerzen in einem frisch gestrichenen Raum. Auf Schadstoffe in Textilien ist besonders zu achten, selbstverständlich auch auf Wohnraumchemikalien, Insektizide im Haushalt, lösemittelhaltige Haushaltsprodukte, Chemikalien am Arbeitsplatz usw. Mitunter kann geradezu kriminalistische Begabung notwendig sein, um all diesen Risiken auf die Spur zu kommen. Wenn die jeweilige Chemikalienbelastung frühzeitig beendet werden kann, bilden sich die Krankheitserscheinungen in der Regel wieder vollständig zurück.

Ein wesentlicher Teil der Therapie bei Umweltkrankheit ist, wie eigene Erfahrungen mir gezeigt haben, die Stabilisierung der Psyche. Welchen Weg man dabei geht, hängt ganz von der persönlichen Neigung ab. Das Erlernen und Praktizieren des autogenen Trainings ist sicher sehr hilfreich.

Für unbedingt notwendig halte ich auch eine konstruktive Sichtweise und innere Einstellung - der Faktor Hoffnung bewirkt viel Gutes. Daß die Ernährung für einen umweltbelasteten Menschen sehr entscheidend ist, liegt auf der Hand. Die Nahrung soll sowenig wie möglich mit chemischen Substanzen belastet sein. Es ist bekannt, daß unsere Nahrungsmittel heute mit unterschiedlichen synthetischen Stoffen präpariert werden. Zu den Nahrungsmittelzusätzen gehören neben Farbstoffen und Aromastoffen auch Rückstände von Pestiziden (Pflanzenschutzmitteln). Alle Menschen, die unter umweltbedingten Krankheiten leiden, müssen kontaminierte, das heißt mit Chemikalien belastete Nahrungsmittel meiden, denn es ist vorstellbar, daß derartig belastete Nahrungsmittel eine Hauptursache der Chemikalienempfindlichkeit sind.

Gewöhnlich haben Patienten mit Chemikalienempfindlichkeit gleichzeitig eine Nahrungsmittelallergie und umgekehrt. Wenn unverträgliche Nahrungsmittel weitgehend gemieden werden, trägt dies zur Entlastung des Immunsystems bei. Daraus resultiert wiederum eine geringere Empfindlichkeit gegenüber Umweltgiften.

Damit eine Umstellung der Ernährung auch den gewünschten Erfolg bringt, sollten Umweltkranke unbedingt eine Darmsanierung durchführen lassen. Die Heilung eines Umweltkranken läuft auf verschiedenen Ebenen ab, man muß alle verfügbaren Register ziehen, um zum Erfolg zu kommen. Psychische Stabilität und weitgehendes Meiden von Umweltgiften sind — aus meiner Sicht - die wesentlichen Pfeiler der Therapie.

Literatur

Ernst, Andrea/Langbein, Kurt/Weiß, Hans u. a.: Gißgrün Köln 1986

Moeschlin, S.: Klinik und Therapie der Vergißungen. Stuttgart1986

 

VI  Wie mit den Vergifteten umgegangen wird

Peter Binz

»Nun sind ja alle tot« - Die Verlängerung des Leidensweges durch den Rechtsweg

»Die moderne Sympathie mit Invaliden ist
unnatürlich. Krankheit jeder Art ist schwerlich
eine Sache, zu der man andere ermutigen sollte.«

(Oscar Wilde)


Der italienische Arzt Bernardino Ramazzini (1633 bis 1714) fertigte als erster sorgfältige Studien über berufsbedingte Krankheiten von Arbeitern an. In seinem im Jahr 1700 erschienenen und bald darauf auch ins Deutsche übersetzten Buch De morbis artificium diatriba (Abhandlung von den Krankheiten der Handwerker) beschrieb er Lungenkrankheiten bei Steinmetzen und Bergwerksarbeitern, Schwindel und durch Blei verursachte Nervenschäden bei Töpfern. Auch bei Schmieden, Färbern, Wäscherinnen, Kanalarbeitern, Druckern, Bauern, Brunnengräbern, Webern, Kupferschmieden und vielen anderen Berufsgruppen stellte er berufsbedingte Häufungen von Krankheiten fest.1

1935 schrieb der amerikanische Historiker Warbasse über Ramazzini: »Der kluge Ramazzini hat die Arbeitsstellen besucht und die Auswirkung des Berufes auf die Arbeiter untersucht. Er sah Krankheiten, die spezifisch für bestimmte Industrien waren. Er sah die Toten durch bestimmte Berufe. Er entdeckte den Blutzoll, den die Gier nach Profit erzeugte. Es war der richtige Augenblick, als dieses Buch nach England kam, kurz vor der industriellen Revolution, aber es hat wenig bewirkt gegen das Verhalten der Industrie. Als England eineinhalb Jahrhunderte später auch von seinen Handelsinteressen in den Ersten Weltkrieg gezogen wurde, wurden die Rekruten untersucht. Man fand, daß jeder zweite Mann, den man für den Militärdienst brauchte, schwere Schäden durch die Industrie hatte, und jeder vierte war nicht wehrdiensttauglich. Die Medizin hat diese Erkenntnisse gesammelt und die Zerstörung der Menschen durch Industrie und Handel aufgezeigt. Mehr konnte die Medizin nicht tun. Es gibt kein traurigeres Kapitel in der Geschichte der menschlichen Gier, als das der zerstörten Leben und des frühzeitigen Todes vieler Arbeiter, womit die Gesellschaft bezahlen muß für ihren Mißbrauch von Menschen in der Industrie.«2

Ramazzini beschwor die Ärzte, bei der Anamnese ausführlich nach dem Beruf der Patienten zu fragen. 250 Jahre später ist dies immer noch keine Selbstverständlichkeit, dabei wäre es nötiger denn je. Denn heute sind es längst nicht mehr nur die Arbeiter, die durch Belastungen aus der Umwelt krank werden. Die schädlichen Produkte der Industrie, vor allem die aus dem Bereich der Chemie, bedrohen inzwischen jeden. 

In der Bundesrepublik wurden 1950 erst zehn Kilogramm organische Chemikalien pro Einwohner produziert. Bis 1986 war die Menge schon auf etwa 450 kg angewachsen. Chemikalien verdrängen zunehmend Naturprodukte. Die gigantische Zunahme der chemischen Produktion ist ein Hauptgrund für die große Zahl von Gesundheitsschäden, auch wenn uns die Werbung diese Seite der Medaille gar nicht oder allenfalls auf den klein gedruckten Beipackzetteln von Medikamenten zeigt. Man schätzt, daß ein Drittel der Menschen weltweit durch Chemieprodukte geschädigt ist, ein Großteil davon natürlich in den hochindustrialisierten Ländern. In unserer Praxis - eine Gemeinschaftspraxis, in der ein Nervenarzt und ein Psychologe zusammenarbeiten — haben wir in den letzten zehn Jahren mit über 3000 Fällen zu tun gehabt, die uns wegen des Verdachts einer Schädigung durch Gifte, insbesondere durch Arbeitsgifte, überwiesen wurden. Die Verteilung der verursachenden Stoffe ist die übliche. Zur Hälfte sind es Lösungsmittel und Kunststoffe. Schwermetalle (allen voran Blei) und Pestizide sind zu je einem Viertel beteiligt. Die hochreaktiven Chemikalien, mit denen sich so viele schöne Dinge machen lassen, sind eben auch dort hoch reaktiv, wo es nicht erwünscht ist, nämlich im menschlichen Körper.

Gifte schädigen meist mehrere Organe gleichzeitig. Sie zerstören Bausteine der Zellen, etwa die Zellmembranen oder Zellorganellen, oft irreversibel. Gerade das Gehirn und die peripheren Nerven haben keine oder nur eine sehr geringe Regenerationsfähigkeit. 

Trotz massenhaft auftretender arbeitsplatzbedingter Schäden haben die Berufsgenossenschaften (BGs) eine hervorragende Statistik aufzuweisen: Nur in etwa fünf Prozent der Fälle, die ihnen gemeldet werden, müssen sie eine Rente zahlen. Dabei ist noch zu bedenken, daß ihnen von den Betroffenen oder den Ärzten nur ein Bruchteil der tatsächlichen Fälle gemeldet wird, die ihnen nach den Vorschriften der Berufskrankheitenverordnung eigentlich gemeldet werden müßten. 

Die Mittel der BGs zur Verminderung der Krankheitszahlen sind ebenso, wirksam wie medizinisch fragwürdig. Nach ihren eigenen Angaben ändern die Entscheidungen der Sozialgerichte die Zahl der Ablehnungen von geltend gemachten Ansprüchen nicht einmal an der Stelle hinter dem Komma. Die Ablehnungsbescheide der BGs ähneln sich sehr. Die entscheidenden Personen treten immer wieder auf, vor allem bei den Gutachtern, denn die BGs haben ja die Gutachterauswahl. Die Experten drücken sich so aus, daß sie der meist sehr geschädigte Patient und seine Familie nicht verstehen und daß der Arzt, der sie versteht, recht belastbar sein muß, um nicht in Schwermut zu verfallen oder in sinnlose Empörung. Der folgende Bericht über eine Familie, in der beide Eltern in einer Schuhfabrik arbeiteten und deren beide Kinder an Leukämie starben, zeigt beispielhaft, wie es um den Arbeitsschutz und um die Verteidigung des Rechts bestellt ist.

Ein Fall: Familie B.

Herr B. ist 54 Jahre alt, sieht aber sehr viel älter aus. Im November 1991 kommt er in unsere Praxis, wie viele Schwergeschädigte aber nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil ihn Verwandte und Bekannte dazu drängten. Kurz vorher war er in der Hoffnung auf Linderung seines Leidens nach Lourdes gefahren. Dort wurde er wegen akuter Atemnot auf eine Intensivstation eingewiesen und danach zurück nach Trier verlegt. Es wird eine koronare Herzkrankheit mit Erkrankung besonders der kleinen Gefäße und eine absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern als Ursache von Lungenstauungen festgestellt.

Herr B. berichtet, daß ihn sein Gedächtnis ständig im Stich lasse. Er rege sich dann immer gleich auf. Andererseits fehle ihm das Interesse an allem. Nach der Arbeit müsse er sich sofort zum Ausruhen hinlegen. Er gehe nicht mehr unter die Leute, weil er sich nichts mehr merken könne und sich deswegen schäme. Wenn er 50 Meter gehe, sei er schon außer Atem und völlig fertig. In der Familienvorgeschichte sind keine Krankheiten bekannt. Nur ein Bruder, er ist Schlosser in einem Industriewerk, ist ähnlich krank.

Die Frage, ob er Kinder habe, verneint Herr B. zunächst. Weil er sehr langsam ist und vieles schlecht begreift, frage ich ihn später nochmals nach Kindern. Ja, er habe zwei gehabt, das erste sei 1970 mit drei Jahren an Leukämie, das zweite 1974 mit zehn Monaten an der gleichen Krankheit gestorben. Damals hätten seine Frau und er in derselben Schuhfabrik gearbeitet. Überhaupt seien aus ihrer Arbeitshalle mehrere Kollegen an Leukämie gestorben. 

Über seinen Berufsweg erzählt er, daß er die Volksschule mit mittlerem Erfolg abgeschlossen habe. In der Nachkriegszeit habe er keine Lehre machen können. Er habe bis 1968 auf dem Bau und danach insgesamt 24 Jahre bei der gleichen Schuhfabrik, davon die ersten zehn Jahre im Walzwerk gearbeitet. Dort sei vor allem Kautschuk für Gummisohlen verarbeitet worden. Durch die Erwärmung der Substanzen habe es da schon mächtig gestunken, und es sei einem oft übel gewesen. Dann habe er ab 1979 in der Automatenhalle gearbeitet. Dort werden an Karussellautomaten in einem Arbeitsgang bei großer Hitze aus Isozyanaten unter Zusatz von Katalysatoren Polyurethansohlen (wie in einem Waffeleisen) hergestellt und auf vorgefertigte Schuh- oder Stiefelschäfte aufgepreßt. Er berichtet, daß er und seine Kollegen dabei sehr oft in Atemnot geraten seien. Anfangs habe es so gut wie keine Absaugung gegeben. In den letzten Jahren habe er kaum noch die Schichten durchhalten können. Der neurologische Befund zeigt eine erhebliche Gleichgewichtsstörung und vegetative Symptome wie Schwitzen und Erröten, die man sonst bei Alkoholmißbrauch beobachtet. Herr B. hat jedoch nie getrunken und nie geraucht. Bei der Psychometrie findet sich ein allgemeiner Abbau so gut wie aller Hirnleistungen. Herr B. kann früheres Wissen nur noch bruchstückhaft wiedergeben und neues Wissen nicht mehr aufnehmen. Unter Leistungsdruck versagt er sofort und bekommt körperliche Beschwerden. Seelisch ist er völlig in sich gekehrt. Auf Fragen antwortet er nur kurz und wirkt dabei wie abwesend. Er kann seinen Zustand kaum noch beschreiben, vorherrschend ist das Gefühl einer völligen Erschöpfung.

Auf eine spätere Anfrage wegen eines eventuellen Zusammenhangs der Leukämie beider Kinder mit der Arbeit der Eltern schickt die AOK das Schreiben an die BG weiter, der Medizinische Dienst der Krankenversicherungen antwortet überhaupt nicht. Wie üblich wird ein Heilverfahren eingeleitet. Herr B. wird nach Bad Dürkheim geschickt, obwohl er sich der Reise kaum gewachsen fühlt. Dort sind aber nicht einmal die Papiere über seine Krankheit eingegangen. Bei der Vorstellung wird ihm gesagt, er sei wohl im verkehrten Haus. 

B.s Frau ist ebenfalls 54 Jahre alt, sie ist vorgealtert und übergewichtig, wie sehr viele toxisch Geschädigte. Die Toxine stören alle Regulationen, auch die der Hormone und des Körpergewichts. Das Übergewicht ist somit Folge der Intoxikation. Von den »Vertrauensärzten« aber wird es gern als Ursache aller Beschwerden bezeichnet, und ein Standardsatz in den Ablehnungsschreiben etwa der LVA lautet, daß, wenn nur die Geschädigten ihr Übergewicht beseitigten, sich ihr Gesundheitszustand wesentlich bessern würde. Auch Frau B. hat eine Polyneuropathie, sie hat Muskel- und Gelenkschäden und eine deutliche Muskelverschmächtigung, die zu Kraftlosigkeit führt. Sie hat Gleichgewichtsstörungen. Bei der Prüfung ihrer Leistungsfähigkeit mit psychometrischen Tests zeigt sie schwere Einbußen an Konzentrations- und Aufmerksamkeitsvermögen sowie beim Neugedächtnis. Ihre Leistungen sind aber noch besser als die ihres Mannes. Gering ist ihre Belastbarkeit, das heißt, sie zieht sich sehr zurück. Sie denkt täglich über den Tod ihrer Kinder nach. Wegen der Verantwortung und der Sorge um ihren Mann ist das übrige Leben weit weg gerückt. 

Auch Frau B. hat elf Jahre in der Schuhfabrik gearbeitet und war ständig in Kontakt mit ätzendem Gummi und Lösungsmitteln. Danach war sie drei Jahre in der Küche eines Krankenhauses tätig. Dort hat sie aber nur mit Scheuermitteln zu tun gehabt, soviel sie weiß. Danach arbeitete sie noch 13 Jahre in einem Kaufhaus als Kassiererin. Frau B. berichtet über eine Reihe von chronischen Erkrankungen bei den Kindern von Arbeitskollegen:

  • So starb die sechsjährige Tochter der Familie J. Mitte der sechziger Jahre an Leukämie. Der Vater arbeitet jetzt noch in der Schuhfabrik.
  • In der Familie Th. ist ein Sohn 1966 im Alter von fünf oder sechs Jahren an Leukämie gestorben. Das zweite Kind, eine Tochter, ist an Leukämie erkrankt. Es ist körperlich und geistig sehr zurückgeblieben und muß immer wieder Monate in der Universitätsklinik verbringen.
  • Die Tochter der Familie S. starb mit acht Jahren an Leukämie. Der Vater war in der Schuhfabrik tätig.
  • Die Tochter der Familie D. starb 17jährig mit schweren Behinderungen. Die Mutter und deren Vater waren ebenfalls in der Schuhfabrik tätig. Der Vater des Kindes sei ein »großer Winzer« gewesen. Als das Kind auf die Welt gekommen sei, habe er Mutter und Kind weggeschickt, die dann sehen konnten, wie sie zurecht kamen.
Nachdem ein Bericht hierüber auch an die AOK gegeben wurde, seien von dort die Herren P. und B. gekommen und hätten sich mit einigen Familien unterhalten. Sie hätten den Familien gesagt, man könne ja doch nichts mehr feststellen, nun seien ja alle tot.

Der Fall hat Methode

In der Geschichte der Familie B. zeigen sich immer wiederkehrende Merkmale der medizinischen und der rechtlichen Struktur des Umgangs mit chronisch Geschädigten:

  1. Die Patienten werden nicht angemessen über die Giftigkeit der Arbeitsstoffe informiert, obwohl die Wirkung von Lösungsmitteln auf den Menschen schon seit etwa 100 Jahren bekannt ist und oft beschrieben wurde.

    So konnte der Trierer Staatsanwalt Ingo Hromada, nachdem der Prozeß im oben geschilderten Fall der Familie B. gegen die Verantwortlichen der Schuhfabrik gegen Zahlung einiger Bußgelder eingestellt worden war, feststellen: »Der Anklagepunkt fahrlässige Körperverletzung< stand von Beginn an auf sehr schwachen Füßen. Zwar hätte einer der beauftragten Sachverständigen mit Sicherheit einen kausalen Zusammenhang zwischen den umstrittenen Chemikalien und den hirnorganischen Erkrankungen bejaht, damit jedoch in der Fachwelt eine absolute Mindermeinung vertreten. Hinzu komme, daß sich der eigentliche Tatzeitraum auf die Jahre 1982-1987 erstreckt. Damals galt die Verwendung dieser Chemikalien aus arbeitsmedizinischer Sicht noch als unbedenklich. Die Angeklagten hatten es in jenen Jahren also noch gar nicht besser wissen können. Und deshalb läßt sich heute kein strafrechtlicher Schuldvorwurf daraus machen.«3

  2. Fast alle Betroffenen haben im Laufe ihres Arbeitslebens mit einer ganzen Reihe von Giften zu tun gehabt.

    Das Zusammenwirken mehrerer Gifte kann deren Wirkungen potenzieren und damit Schäden hervorrufen, die weit über der Summe der Einzeleffekte liegen. Keinem wurde die einfache Tatsache mitgeteilt, daß nur die Dosis Null die Wirkung Null hat. Bei Stoffen unbekannter Giftigkeit gibt es nur eine wirksame Schutzmaßnahme: nämlich gasdichter Abschluß zwischen Arbeiter und Werkvorgang. Das ist technisch möglich, aber natürlich teuer. Es wäre aber, ganz zu schweigen von dem menschlichen Leid, unendlich viel billiger als die Kosten, die ohne diese Vorsorge entständen, würden diese Kosten nicht über die Zwangsversicherungen wieder auf die Betroffenen und ihre Familien abgewälzt.
  3. Betroffene erhalten nur in sehr seltenen Fällen Auskünfte über die verwendeten Gifte.

    Meist werden sie nicht, wie vorgeschrieben, jährlich über die Gifte belehrt. Dabei wären solche Informationen zum Beispiel in den Sicherheitsdatenblättern leicht verfügbar. 
  4. Fast alle Patienten sind vielfach geschädigt.

    Auf meinem Fachgebiet konnte ich vor allem Beeinträchtigungen der Hirnleistung, also von Intelligenz, Charakter, Willen und von sozialen Funktionen sowie Schädigungen der peripheren Nerven einschließlich schwerer Muskel- und Gelenkschäden, Gleichgewichtsstörungen und.Schmerzen am ganzen Körper feststellen.
  5. Schäden sind auf so gut wie allen Fachgebieten nachzuweisen, wenn man es nur will.

    Giftschäden betreffen immer mehrere Organe gleichzeitig. Entsprechende Zusammenhänge werden aber meist nicht systematisch untersucht. Die verschiedenen Schäden werden statt dessen als völlig unabhängig voneinander beurteilt. Statt ein Gesamtbild zu zeichnen, werden Einzeldiagnosen gestellt. Dazu gehören:
    • Herz- und Kreislaufschäden mit Hochdruck und Gefäßverschlüssen, also Herzinfarkte und Schlaganfälle.
    • Störung der Hormonregulation, insbesondere die der Schilddrüse und der Bauchspeicheldrüse mit den Folgekrankheiten des Kropfes, der Schilddrüsenunterfunktion und des Diabetes.
    • Muskel-, Knochen- und Gelenkschmerzen mit Osteoporose.
    • Magen-Darm-Störungen mit manchmal chronischen Entzündungen.
    • Leber-/Nierenschäden.
  6. Die Versicherungen, vor allem die Krankenkassen und die BGs, lassen in den Verfahren so gut wie immer eines der seit jeher wichtigsten Mittel zur Diagnose und Therapie in der Medizin weg, nämlich die Epidemiologie.

    Anhand einer geringen Zahl gleicher Fälle von den gleichen Arbeitsstellen kann man mit jeder wünschbaren wissenschaftlichen Sicherheit den Zusammenhang zwischen Arbeitsplatz und Schädigung feststellen.
  7. Die AOK und andere Krankenkassen zahlen ungerührt weiter aus den Taschen ihrer Mitglieder für die Schäden, die ein Dritter zu verantworten hat.

    Zwar wissen die Versicherungen, daß die Aufdeckung der Erkrankungen ihre gesetzliche Pflicht ist (ihre moralische Pflicht wäre es sowieso), aber sie wissen auch, was geschieht, wenn systematisch untersucht wird: Die Schäden wären für sie unbezahlbar, abgesehen von anderen Folgen wie Klagen auf Schadenersatz und Schmerzensgeld, weil medizinische Erkenntnisse nicht angewendet und gesetzliche Vorschriften beim Arbeitsschutz nicht eingehalten wurden. Die Versicherungen gehen von sich aus nicht gegen die BGs vor, sondern hängen sich allenfalls an, wenn der Patient und sein Arzt es in sehr seltenen Fällen geschafft haben, eine »geringe finanzielle Entschädigung« zu erreichen. Eine Ausnahme ist offenbar die AOK Hamburg, die inzwischen nachgerechnet hat, daß ein großer Teil ihrer Ausgaben für Krankheiten geleistet wird, die durch die Arbeitgeber verschuldet sind.
  8. Auch die Strafjustiz stellt mit großer Regelmäßigkeit die Verfahren mit der Begründung ein, der Schaden oder die Zusammenhänge seien nicht nachgewiesen.

    Den bereits erwähnten Prozeß der Familie B. kommentierte der Staatsanwalt so: »Der Vorwurf, gegen diese Sorgfaltspflichten verstoßen zu haben, blieb weiter gegen die Angeklagten bestehen. Die Sache hätte nun über 25 Sitzungstage und mehr zu Ende verhandelt werden können. Die Frage war aber, ob dies sinnvoll gewesen wäre. Schließlich bestand hier ein Mißverhältnis von rund 15000 DM Prozeßkosten pro Verhandlungstag gegenüber den zu erwartenden geringfügigen Geldstrafen. 4 Der Ablehnung voraus geht immer die Verweigerung der Aufklärung, trotz der Hunderten von Toten und schwer Geschädigten. So wurde ich als ein möglicher Hauptzeuge in dem eingangs geschilderten Fall nicht vernommen, sondern es wurde im Verlauf von insgesamt acht Jahren lediglich zwei- oder dreimal ein Beamter der Kriminalpolizei für eine kurze Befragung zu mir geschickt. Es ist offensichtlich beabsichtigt, daß die wirklich heiklen Punkte nicht zur Sprache kommen und damit nicht zur Kenntnis genommen werden müssen.
  9. Die Berufsgenossenschaften vernachlässigen ihre Aufklärungspflicht.

    Die technischen Aufklärungen sind meist mehr als unvollständig. Man versucht sogar, die gesetzlichen Regelungen umzudrehen: So werden der Patient und sein Arzt danach gefragt, welche Stoffe verwendet wurden, obwohl die natürlich von den Arbeitgebern mit Informationen sehr knapp gehalten werden. Danach wählt die BG dann den Gutachter aus. Nach kurzer Zeit kennt man sie alle, die das Wohlwollen der BG und ihre hohen finanziellen Zuwendungen genießen. Man kennt auch ihre Formulierungen, die oft genug aus den gleichen Textbausteinen bestehen und natürlich die Ansprüche des Patienten ablehnen.
  10. Der Patient selbst verfügt weder über Fachkunde noch über eine fachkundige Vertretung, wenn ihm der behandelnde Arzt diese nicht kostenlos zur Verfügung stellt.

    Das bedeutet, daß auf seiten der BG der finanzielle Einsatz zur Widerlegung der Zusammenhänge sich oft auf Zehntausende von DM beläuft, während auf Seiten der Patienten der behandelnde Arzt versuchen muß, aus seinem Berufsethos heraus auf eigene Kosten dagegen Stellung zu nehmen, denn er kann das natürlich nicht mit der Krankenkasse abrechnen. Hier ist ja nur die Abrechnung der Behandlung und der aus Krankheitsgründen notwendigen Untersuchungen möglich. Allein schon deswegen gewinnen die BGs fast immer. Wie heißt es in den Fabeln des La Fontaine: »Das Recht des Stärkeren ist immer das Beste.«
  11. Wenn einmal ein Gutachten zugunsten der Patienten ausfällt, dann lassen die BGs einfach ein neues anfertigen. 

    Die letzten Stationen für ein Gutachten im Sinne der BGs sind oft die Lehrstühle für Arbeitsmedizin in Heidelberg, in Erlangen und in Dortmund mit den Direktoren Prof. Triebig, Prof. Lehnert und Prof. Bolt. Danach folgt meist die Ablehnung. Oft wird dabei die gesetzliche Regelung umgangen, den Betroffenen einen fundierten Bescheid zu schicken. Man schreibt den Patienten lakonisch, die Ermittlungen hätten ergeben, daß kein Zusammenhang mit der Berufstätigkeit bestünde. An diesem Punkt geben dann die meisten Patienten schon auf, weil sie aufgrund ihrer Schädigung und ihrer mangelnden rechtlichen Erfahrung die Aussage der BG für das letzte Wort halten. Wer nicht aufgibt, muß also zunächst sein Recht auf einen klagefähigen Bescheid geltend machen (der ihm eigentlich in jedem Fall zusteht), aber die BGs »vergessen« das gern. Ebenso gern vergessen sie, im Abstand von drei Monaten den Patienten über den Stand des Verfahrens zu unterrichten, wie es gesetzlich vorgesehen wäre. Sie melden sich oft über Jahre nicht, offenbar in der Hoffnung auf die biologische Lösung des Falles - durch Tod der Betroffenen.
  12. Der Widerspruch wird von den BGs so gut wie immer abgelehnt, der Einfachheit halber mit einem Standardtext. Die Unterschriften der Arbeitnehmervertreter stehen auch darunter.

    Nach der Ablehnung seines Antrages an die BG muß der Patient einen Widerspruch einlegen, wenn er weiter um sein Recht kämpfen will. Danach fordert ihn die BG auf, seinen Widerspruch zu begründen, auch wenn der Patient die Hilfe eines Rechtsanwaltes oder eines Interessenverbandes (Reichsbund, VdK usw.) oder einer Gewerkschaft in Anspruch nimmt: Diese wenden sich danach nochmals an den behandelnden Arzt mit der höflichen Bitte, er möge doch zu den vorgelegten Unterlagen der BG Stellung nehmen und den Widerspruch ärztlich begründen. Das ist ein perfektes Beispiel für die völlige Privatisierung der Fürsorge für die Schwächsten in den Sozialverfahren. Der Arzt darf also nochmals zum Wesentlichen, nämlich zu den fachlichen Fragen, Stellung nehmen. Dabei geschieht es häufig, daß er sowohl von der BG als auch von Sozialgericht und Ärztekammer ermahnt wird, keine unerlaubte Rechtsberatung zu betreiben. Als unerlaubte Rechtsberatung gilt bereits, wenn der Arzt dem Patienten ein Formular gibt, auf dem Widerspruch oder Klage anzukreuzen sind, wenn er ihm zeigt, wo er seine Unterschrift hinsetzen muß (die Patienten sind oft so schwer geschädigt, daß sie das allein nicht können), und wenn er ihn dann mit diesem Formular zum Sozialgericht schickt. Soziale Aktionen sind im Versicherungs- und Sozialgerichtssystem äußerst unerwünscht. Sie stören den üblichen Ablauf, der darauf abzielt, daß der Patient von allein aufgibt.Warum sich Arbeitnehmervertreter oder auch die Rechtsvertreter von Gewerkschaften und Interessenverbänden der Geschädigten so regelmäßig mit den Entscheidungen der BGs und den Urteilen der Sozialgerichte abfinden und nicht hartnäckiger widersprechen, frage ich mich oft. Sie könnten für ihre Sache doch nur gewinnen. Ein Grund dürfte die als übermächtig empfundene Autorität der Gutachter sein. Dabei ist es heute recht einfach, sich anhand der Fachliteratur ein eigenes kompetentes Urteil zu bilden und nicht dem Fachchinesisch und den gegenseitigen rituellen Bestätigungen von Juristen und Medizinern aufzusitzen. Selbsthilfegruppen sind eine besonders gute Möglichkeit, sich mit Hilfe der Alltagssprache und vernünftiger Logik der eigenen Sache zu versichern. 
  13. Nach der Ablehnung des Widerspruchs besteht noch die Möglichkeit einer Klage vor dem Sozialgericht.

    Auch das Sozialgericht bestimmt Gutachter, und wie es der Zufall will, sind es so gut wie immer die gleichen, die auch schon auf der Favoritenliste der BGs und anderer Versicherungen stehen. Der behandelnde Arzt wird häufig als Gutachter abgelehnt, unter anderem mit der schlagenden Begründung, er stehe auf Seiten des Patienten, was offensichtlich höchst verdächtig ist. Wenn er doch einmal ein Gutachten schreiben darf, kann es geschehen, daß es vom Präsidenten des Sozialgerichts so gekürzt wird, daß nicht einmal mehr die Bürokosten hereinkommen. Denn selbstverständlich macht der Präsident keinen Unterschied, ob ein Beamter, also etwa ein Professor, ein Gutachten schreibt und dazu die Einrichtungen seiner Universität benutzt oder ob ein niedergelassener Arzt von seinem Honorar auch sämtliche Praxiskosten bezahlen muß. Das System hält also die Zahl der Ärzte, die Gutachten für Sozialgerichte schreiben, sehr überschaubar.
  14. Der Patient hat nach Paragraph 109 Sozialgesetzbuch das Recht, einen Gutachter seiner Wahl auszusuchen.

    Einen Gutachter eigener Wahl muß der Geschädigte zunächst einmal selbst bezahlen, und dann muß er noch wissen, welche Gutachter neutral sind. Solche gibt es natürlich auch an den Universitäten, aber sie sind eher dünn gesät und oft auf Jahre hinaus nicht in der Lage, weitere Aufträge anzunehmen. Dann bleibt es also beim »bewährten« System der BG-Gutachter, auf die der Patient sein Vertrauen setzen muß. Inzwischen haben auch einige Gemeinschaftspraxen Gutachten für BGs und Sozialgerichte als Erwerbsquelle entdeckt. Wie sich leicht erraten läßt, unterscheiden sich diese Gutachten nicht sehr von denen der oben genannten Arbeitsmediziner. Normalerweise geht also vor dem Sozialgericht der Prozeß für den Patienten verloren. Auch das Sozialgericht stellt nicht die Überlegung an: wenn hier schon Dutzende von Verfahren liefen, in denen Schäden aus einem bestimmten Betrieb belegt wurden, dann wird es doch immer wahrscheinlicher, daß die Klagen der Patienten zu Recht bestehen. Das Sozialgericht hat eine andere Logik: Bisher wurde an diesem Gericht noch kein solcher Fall anerkannt, da keiner bewiesen war. Also ist auch der aktuelle Fall nicht zu beweisen. Danach folgt das Urteil, häufig unterlegt mit bedenklichen Äußerungen zur fehlenden fachlichen Kompetenz oder zur unerlaubten Rechtsberatung des behandelnden Arztes.
  15. Der nächste Schritt ist die Klage vor dem Landessozialgericht.

    Hier beginnt die Sache mit den Gutachten ein weiteres Mal, und auch diese Urteile enthalten die gleichen Bestandteile. Ab und zu kommt beim Landes-sozialgericht aber wenigstens einmal ein Patient mit seinen Ansprüchen durch, und auch die Qualität der Urteilsbegründung ist gelegentlich höher. Alles in allem aber gilt: Auch wenn es den einen oder anderen korrekten Sachbearbeiter der BGs und hin und wieder einen gerechten Richter gibt, so sind die Aufklärung, das Verwaltungsverfahren der BGs und der Verlauf der Sozialgerichtsverfahren doch trostlos. Wenn eine Rente gezahlt wird, so liegt sie sehr niedrig, meist beträgt sie um die 20 Prozent des zugrunde gelegten Verdienstes. Die Ausgänge der Verfahren werden dem behandelnden Arzt nicht mitgeteilt, außer wenn der Patient das selbst tut: von den Geschädigten, die aufgeben und sich den Angriffen in den Gutachten nicht mehr gewachsen fühlen, erfährt der behandelnde Arzt so gut wie nie. Weder die Versicherungen noch die Gerichte sind zur Auskunft an ihn verpflichtet. Umgekehrt muß er selbstverständlich immer alle Auskünfte vollständig an die Versicherungen oder Gerichte geben.
  16.  

    Ein Nachtrag

    In seinem Bericht über den zu erwartenden Ausgang des Strafverfahrens gegen Verantwortliche der Schuhfabrik hatte der Trierer Volksfreund noch geschrieben: »Die finanzielle Entschädigung der Opfer sieht der Trierer Anklagevertreter als gesichert an. Aufgrund des vorliegenden Sachverständigengutachtens, das eine Kausalität zwischen den Chemikalien und den Krankheitsfällen bejaht, sei schon eine Reihe ehemaliger (...) Mitarbeiter entschädigt worden.«

    Am 30. August 1995 war ich zu einem Hausbesuch bei Familie B. Frau B. berichtete, daß gestern Termin am Sozialgericht war wegen der Ansprüche gegen die Berufsgenossenschaft. Man habe alles abgelehnt und habe sich dabei auf die Aussagen des Sicherheitsbeauftragten berufen. Sie habe eingewendet, daß der ja im Strafverfahren verurteilt worden sei. Der Richter habe gesagt, es waren schon viele hier, und es kommen noch viele, und es sei ihr Schicksal, daß man nichts mehr nachweisen könne.

    Sie habe gesagt: »Und alle, die auf dem Friedhofliegen, und alle, die krank sind, was ist mit den Leuten?« Darauf habe man nichts gesagt. Sie habe gesagt: »Darf ich noch etwas sagen?« Das habe man zugelassen, und dann habe sie gesagt: »Mich können Sie nicht beirren, die Luft in der Halle, die war immer blau zu meiner Zeit.« Sie habe gesagt: »Und zu Hause, mein Mann mit den Erstickungsanfällen, das ist doch kein Vergnügen«, und sie habe gesagt: »Uns sind zwei Kinder gestorben«, und dann habe der Richter gesagt, ja, das sehen wir aus den Akten. Dann sei Schluß gewesen, und man sei rausgegangen.

    Ausblick

    Wie kann man nun dieses trostlose, aber für die jetzigen gesellschaftlichen Umstände doch sehr typische System ertragen oder vielleicht etwas verbessern? Ich sehe dazu vor allem drei Möglichkeiten:

    - die Selbstorganisation der Betroffenen,
    - das Herstellen von Öffentlichkeit über die Medien,
    - Erwerb eigener Kenntnisse.

    Selbstorganisation

    Die Interessengemeinschaft der Holzschutzmittelgeschädigten (IHG)5 hat mit ihrem Frankfurter Prozeß gezeigt, daß es möglich ist, mit Hilfe von sachverständigen Rechtsanwälten und nicht zuletzt hartnäckigen und sachkundigen Staatsanwälten wenigstens die Genugtuung zu erreichen, daß öffentlich darüber aufgeklärt wird und auch verurteilt werden kann, wer seinen Profit sichert, indem er andere bewußt vergiftet. Inzwischen hat sich der Verband arbeits- und berufsbedingt Erkrankter e. V. (AbeKra) gebildet.6 Auch in ihm arbeiten Betroffene und Fachleute zusammen, die ebenso wie bei der IHG einfach nicht mehr bereit sind, das systematische Unrecht in den BG- und Sozialgerichtsverfahren hinzunehmen.

    Es versteht sich von selbst, daß weder IHG noch AbeKra bequeme oder gar lukrative Posten zur Verfügung stellen können. Die Mitgliedsbeiträge reichen gerade für einen Teil der Kosten. Das meiste wird freiwillig und unentgeltlich erarbeitet.

    Medien

    Das Interesse und die Fachkunde der Journalisten sind oft hoch, und wenn, um ein Beispiel zu nennen, Pyrethroidgeschädigte aus einem Kaufhaus in Idar-Oberstein in den Medien vorgestellt werden, dann richtet sich auf diese wenigen von Tausenden gleichartig Geschädigter für kurze Zeit die öffentliche Aufmerksamkeit. Auch wenn gelegentlich Sensationshascherei dabei eine Rolle spielen mag, kann das dazu führen, daß viele Betroffene aufwachen und sich gegen ihre Schädiger und ihre rechtliche Benachteiligung wehren.

    Eigene Kenntnisse

    Nicht zuletzt ist der Erwerb eigener Kenntnisse* sowohl über die Krankheiten wie über die Gifte eine Waffe, mit der man sich gegen die Übermacht der Hersteller, ihrer Versicherungen und ihrer Helfer zur Wehr setzen kann und muß. Der freie Zugang zu Informationen, etwa auf dem Gebiet der Arbeitsmedizin weltweit, ist das stärkste Mittel, um sich gegen die in sich geschlossenen, unehrlichen und profitgierigen Systeme von überheblichen Versicherungen, gefälligen Gutachtern und ungerührten Gerichten zu wehren.

     

    Anmerkungen

    1.) Zitiert nach: Janette D. Sherman, Chemical Exposure and Disease, Princeton 1994

    2) J. P. Warbasse: TheDoctor and the Public. A Study of Sodology, Economics Ethics and Philosophy of Mediane. Based on medical History. New York 1935

    3.) Zitiert nach Trierer Volksfreund vom 18./19.3.1995

    4.) Ebenda

    5.) Interessengemeinschaft Pyrethroidgeschädigter in der IHG e. V., Unterstaat 14, 5176 Engelskirchen. Tel. und Fax 02263/3786. Jahresbeitrag: 100 DM für die ganze Familie

    6.) AbeKra, Verband arbeits- und berufsbedingt Erkrankter e. V. Stammheimer Str. 8b, 63674 Altenstadt. Tel. 06047/681 39. Beitrag monatl.: 10 DM plus 20 DM einmaliger Beitrittsbetrag

     

    Harald Theml

    Warum wirken Ärzte oft so »Ignorant« und Patienten so »hysterisch«?
    - Die unterschiedliche Sicht von Arzt und Patient

    Wenn Patienten ihre Geschichte schreiben, kommen Ärzte selten gut weg, denn wenn die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patient gelungen ist, geht das Leben weiter - oder auch nicht: Jedenfalls schreibt keiner eine Geschichte.

    Dem Autor als Arzt (und Mitbegründer der Interdisziplinären Gesellschaft für Umweltmedizin) ist daran gelegen, das gegenseitige »Feindbild« abzubauen. Ich glaube wirklich nicht, daß Ärzte durch besondere Willensanstrengung böse und ignorant sind, sondern daß sie einerseits mit ihrem Verhalten in einer langen Tradition und oft gewachsenen Berufserfahrung stehen, die sie geprägt hat, und daß andererseits die neuen Fragen der Umweltmedizin sie emotional und inhaltlich überfordern.

    Ebensowenig glaube ich natürlich, daß Patienten ihre Probleme ohne Not übertreiben wollen. Es könnte also für Arzt und Patient gut sein, die jeweiligen Vorbedingungen ihrer Sicht- und Verhaltensweisen wahrzunehmen und zu reflektieren, denn mit Ärzten, die man versteht, können Patienten besser umgehen. Ebenso hat die Patientensicht ihre jeweilige methodische Voraussetzung, die es wert ist, wahrgenommen und in den Umgang miteinander einbezogen zu werden.

    Die Prägungen und Bedingungen ärztlichen Verhaltens

    Ausführlicher als auf die (den meisten Lesern bekannte) Patientensicht und -not gehe ich auf die unausgesprochenen Voraussetzungen ärztlicher Verhaltensweisen ein; hier steht ganz am Anfang:

    Die (unbesetzte) Rolle der Ursachenbekämpfung und Prävention in der Medizingeschichte und im ärztlichen Alltag

    In gebotener Verkürzung darf gesagt werden, daß in der Medizingeschichte ärztliches Handeln nicht von der Frage nach den Ursachen der Erkrankung geprägt war. Verständlicherweise war man vollauf damit beschäftigt, das jeweils vorliegende Leiden zu lindern und zu reparieren. Die archaische Sicht, daß Krankheit von oben gesandtes Schicksal oder gar Fluch sei, wo man allenfalls diskret nach der biographischen Schuld des Betroffenen suchte, hat zwar nicht verhindert, daß man dem Kranken half. Diese Hilfe blieb (und bleibt) aber über weiteste Strecken symptomatisch, das heißt, sie versucht die Auswirkungen zu lindern, ohne an die Ursachen gelangen zu können - unter anderem deshalb, weil man die Ursachen lange nicht erkennen konnte. Da so leidliche Erfolge erzielt wurden und werden, orientiert sich auch in Zeiten, wo inzwischen für viele Krankheiten die Ursachen offengelegt sind (oft nicht durch Ärzte, sondern durch Biologen, Chemiker, Physiker), die Behandlung weiter an der Reparatur von Symptomen. Der Blutzuckerwert beim Diabetiker ist leichter einzustellen als sein Übergewicht, der Blutdruck beim Hypertoniker leichter mit Tabletten zu senken als der Streß, und nicht das Rauchen ist Behandlungsgegenstand, sondern die chronische Bronchitis oder gar der Lungenkrebs.

    Die Versuche der Krankheitsprävention stellen historisch keine Erfolgsgeschichte dar. Zwar kann man erstaunliche Beispiele ärztlichen Rates für gesunde Lebensführung (Diätetik) gerade gehobener Personen und Stände finden, aber bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es für die breite Masse keine Präventionsmedizin (auch hier belegen natürlich Ausnahmen wie Rudolf Virchows Aktivitäten die Regel). Noch heute empfinden sich viele Ärzte, die Krankheitsprävention betreiben, als Pioniere: In Herz-Kreislauf-Gruppen sind sie schon etwas etablierter, während es Raucherentwöhnungsgruppen kaum gibt.

    Krebsfrüherkennung läßt sich empfehlen, Krebsvermeidung ist im ärztlichen Alltag nicht so recht zu orten - ebenso wie Unfallchirurgie eine blühende Disziplin, aber Unfallvermeidung keine ärztliche Aufgabe ist.1

    Was die Medizin groß gemacht hat, dazu hält sie treu und blind

    Ärzte werden meist als hilfsbereit, fleißig und in ihrer Lebenshaltung, bei aller Skepsis, als Vertreter eines begründeten Glaubens an Fortschritte der Menschheit erlebt. Diese Haltung scheint ihnen den oft nicht einfachen Job zu erleichtern.

    Der Fortschrittsglaube ist verständlich, denn die Entwicklung der Lebenserwartung in westlichen Ländern parallel zum Aufblühen moderner Medizin ist ja gewaltig. Die Überwindung der großen Killer früherer Generationen, der Infektionskrankheiten, wird besonders dem Fortschritt auf dem Sektor chemischer Hygiene und Therapiemaßnahmen zugeschrieben (und nicht, wie angemessen, in gleichem Maße der Verbesserung der Lebensbedingungen, also dem Sieg sozialer Forderungen).

    Der so erzielte Durchbruch der Chemie in die Medizin machte die Medizin zum Anwendungsgebiet des breitesten Sektors der Chemieproduktion für alle menschlichen Gebrechen. So wie der Naturarzt an seinem Kräuergarten hing, so steht verständlicherweise der moderne Arzt in empathischem Bunde mit der Chemie, die ihm so viele rasche und meßbare Erfolge beschert. Vielleicht wird so verständlich, daß Skepsis gegenüber »Chemie« rasch an die emotionalen Wurzeln dieser erfolgreichen Solidargemeinschaft zwischen Chemie und Medizin rührt bzw. den grundsätzlichen Fortschrittsglauben des Mediziners gefährdet. Dies aber verstimmt und verunsichert ihn um so mehr, als er ja die Schattenseiten des chemischen Fortschritts durchaus anhand alltäglicher Nebenwirkungen eigentlich nicht übersehen kann; er weiß wohl, mit wem er sich da eingelassen hat, aber er glaubt, mit ihm in einem Boot zu sitzen.

    Eine Differenzierung zwischen »guter« und »schädlicher« Chemie wäre zum Teil möglich, wird aber gerade in Kontroversen mit vermeintlichen Chemiegegnern aus Treue gegenüber dem Bündnispartner Chemie nicht vollzogen.

    Dem Verhältnis der Ärzte zur Chemie entspricht das zur modernen Strahlenphysik; niemand möchte wohl auf die Vorteile der Diagnostik mit Röntgenstrahlen verzichten. Rasch hat sich auch der Umgang mit rasch zerfallenden Isotopen (Nuklearmedizin) sowie mit Gamma- und Alphastrahlenquellen unentbehrlich gemacht. So wird man unter Ärzten wenige finden, die gegen Wirkungen und Nebenwirkungen der Energiegewinnung durch Kernspaltung auftreten, denn »Kerngegner« erwecken den Eindruck, als seien sie gegen Kernspaltung überhaupt und als wollten sie die entsprechenden medizinischen Errungenschaften in Frage stellen. 

    Gerade unter Blutforschern, die kaum nach den Ursachen der Leukämien fragen, ist die Ablehnung von Untersuchungsergebnissen über Leukämieentstehung in der Umgebung von Reaktoren vehement. Sogar die Auswirkungen der Atombomben hat noch nicht jeder akzeptiert: Der damalige wissenschaftliche Leiter des Deutschen Ärzteblattes bezweifelte auf dem Hämatologenkongreß 1990 in öffentlicher Rede die Leukämiehäufung nach Hiroshima.

    Das Individuum ist in Gefahr, der Menschheit geopfert zu werden

    Schon in dem oben Gesagten deutet sich an, daß Arzte natürlich nicht ohne weiterreichende Weltsicht einzig dem Wohl ihrer jeweiligen Patienten verschworen sind. Sie sehen sich darüber hinaus nicht selten - offen oder latent - als privilegierte Mitarbeiter an so etwas wie dem Dombau menschlichen Fortschritts beteiligt und fühlen sich als Ärzte des westlich-industriellen Kulturkreises für seine spezifische Gestaltung mitverantwortlich.

    Diese Verbundenheit mit einem biologistisch-technologischen Fortschrittsglauben hat eine lange Geschichte, die mindestens die zwei letzten deutschen Reiche durchzog und weiter reicht; das gilt natürlich nicht nur für die Medizin und unsere Nation, aber hier zum Teil in speziellem Sinne.2

    Gerade an der Frage, ob »Chemie« oder Strahlen auch Schattenseiten haben und Ängste auslösen können, wird eine Sensibilität deutlich, die zeigt, daß man hier an die Wurzeln eines Systems oder einen Grundstein eben jenes Fortschrittsgebäudes rührt. So zum Beispiel wenn der namhafte Chemiker Prof. Herbert Remmer in seiner Bewertung einer lokalen Agrarchemiebelastung daran erinnert, wie gefährlich es sei, wenn »gewissenlose Ärzte, Biologen, Chemiker und Toxikologen« durch Chemiekritik an »die tiefsitzenden Ängste der heutigen Menschen rühren«. Die Angst vor der Chemie ist gefährlich, denn: »Ohne ihren rationalen Einsatz wird es nicht gelingen, die Ernährung für die zukünftigen Generationen zu sichern und natürliche Rohstoffe zu schonen, die für das Überleben der Menschheit notwendig sind.« 3

    Das bedeutet also, wer »Chemie« hinterfragt, gefährdet das Überleben der Menschheit.

    Wenn also schon einmal eine Abwägung erfolgt zwischen dem konkreten Schicksal eines einzelnen und dem imaginären Ziel des Menschheitsfortschritts, überwiegt die Parteinahme für das Größere. Man könnte wohl auch sagen: Ärzte sind in Gefahr, die Misere des Einzelschicksals durch Flucht auf die siegreiche Seite der Mehrheit oder in eine imaginäre Zukunft zu verdrängen. Dieser »Frontwechsel zur stärkeren Seite« ist ein bekannter Reflex.

    Medizinisches Denken ist von Statistik und Risikoabwägung geprägt: Die Überlebenden schreiben die Geschichte.

    Risikoabwägungen erfolgen natürlich durch Gegenüberstellung statistisch ermittelter Gruppen und Ergebnisse. Die moderne Medizin kann gerade in der Wirksamkeitskontrolle von chemischen Medikamenten gar nicht mehr ohne statistische Gegenüberstellungen denken: Das chemische Medikament A hat in 30 Prozent der Fälle geholfen, B in 45 Prozent, also ist B besser, und der Schluß lautet: immer B! (Auch wenn ja A für viele, nämlich eben für 30 Prozent, ein Vorteil wäre.)

    Der Umkehrschluß lautet analog: wenn die Substanz C nur in acht Prozent der Fälle Schäden hervorruft, ist sie für 92 Prozent unschädlich, also so gut wie überhaupt unschädlich, weil für die überwiegende Mehrzahl ohne Nebeneffekte!

    Man hat sich sogar schon an Therapieformen gewöhnt, die 20 Prozent der Patienten schaden - man führt sie durch, weil sie 30 Prozent nutzen; die Gewinner stehen auf den Schultern der Verlierer.

    Daß diese schwer vermeidbare Art von statistischer Medizin auch das Denken gegenüber Risiken und in bezug auf den Kontakt mit Schadstoffen prägt, ist unvermeidlich. Wenn eine Population mit einem Risiko belastet wird (zum Beispiel Dioxine aus Müllverbrennungsanlagen oder Strahlen aus Atomkraftwerken), sucht man natürlich ein tolerables Risiko einzugehen. Es erfolgt eine Risikoabwägung, wie sie beispielsweise Prof. Georges Fülgraff formuliert:

    »Risiken werden nur vertretbar dadurch, daß ihre Inkaufnahme einen Nutzen ermöglicht, der ohne diese Inkaufnahme nicht zu bekommen ist. Der Nutzen muß so eindeutig als erstrebenswert anerkannt sein, daß er das Risiko aufwiegt. Das Urteil über die Vertretbarkeit ist somit das Ergebnis einer Abwägung von Werten durch die jeweils urteilenden Subjekte. Dabei haben alle Urteile den gleichen Anspruch, ernst genommen zu werden, auch wenn sie außerhalb des Erwartungshorizontes von Risikoexperten liegen. Das Problem besteht darin, den Nutzen zu beschreiben, der das krebserzeugenden Stoffen in der Umwelt zugeschriebene Risiko rechtfertigt. Pauschal gesagt: Die Vorteile unserer Industriekultur. Akzeptanzprobleme treten heute vor allem dadurch auf, daß dieser Nutzen weder pauschal noch in allen seinen Elementen als die mit ihm verbundenen Risiken rechtfertigend anerkannt wird. Die Vorteile der Industriekultur sind nicht analog zu den Risiken verteilt. Es gehört vielmehr gerade zu den sozialen Vorteilen, bestimmte Risiken für sich zu Lasten anderer minimieren zu können.« 4

    Hier wird (endlich) problematisiert, daß Vorteile unserer »Industriekultur« auf der einen Seite Gesundheitsrisiken (wie Polyneuropathien oder Krebs) auf der anderen Seite rechtfertigen können, wenn die Mehrheit das so definiert. So entstehen die sogenannten »tolerablen« Belastungen, zum Beispiel werden die Risiken einer Luftverunreinigung in Kauf genommen, wenn sie eine nicht vorhersagbare und nicht auffallende Minderheit (und wahrscheinlich nicht mich) treffen und ein allgemein anerkanntes Gut (Wachstum, Umsatz, Gewerbefreiheit) dadurch gefördert wird.

    Prof. Dr. Jürgen Salzwedel von der Universität Bonn stellt folgende juristische Thesen auf:

    »Die gesetzgeberische Immissionsbegrenzung muß sich zwischen zwei verfassungsrechtlichen Eckwerten halten: Art. 2, Abs. 2, Satz l GG, gebietet ein Mindestmaß an Gesundheitsschutz für den Nachbarn, Art. 12, Abs. l und Art. 14, Abs. l GG verbieten, die Gewerbefreiheit durch überzogene Zielvorgaben unverhältnismäßig einzuschränken.« 

    Risikoungleichheiten liegen auf der Hand - und sind offenbar akzeptiert und unkorrigierbar; der gleiche Autor zieht den Schluß:

    »Der Zweite Berichtsentwurf einer Arbeitsgruppe des Länderausschusses für Immissionsschutz kommt zu dem Ergebnis, daß das außenluftbedingte Krebsrisiko in Ballungsgebieten 5,4mal so hoch ist wie in ländlichen Gebieten. Weder aus der Verfassung noch aus dem Gesetz ergibt sich freilich eine Verpflichtung der Bundesregierung und des Bundesrates, daraufhin entsprechende Verwaltungsvorschriften zu erlassen. Auch eine Verletzung des Gleichheitssatzes des Art. 3, Abs. l GG liegt in diesem Risikoungleichgewicht zwischen Ballungsgebiet und ländlichem Raum nicht.«5

    Hier wird der Charakter unserer »Risikogesellschaft« (so der Soziologe Ulrich Beck) ungeschminkt und nüchtern deutlich; die Mediziner können sich hier in angemessener Weise als Teil des gesellschaftlichen Risikokonsenses empfinden. Andererseits könnte man natürlich auch an die Mediziner appellieren, daß sie das Prinzip der Individualmedizin gegen diese Akzeptanz der Risikoopfer in die Waagschale werfen müßten. Aber Ärzte sind auch nur Menschen, und überdies widersprechen solche Appelle unter anderem etwa dem systemischen Fortschrittsglauben (siehe oben): Soll man denn auf die Segnungen beispielsweise des Verkehrs (der uns auch Rettungswagen beschert hat) oder der unbegrenzten Energie (die auch gesunde Wärme statt kalter Feuchte beschert) oder der Chemie (man denke an die Antibiotika) verzichten und auf die damit verbundenen Arbeitsplätze dazu, nur um ein paar Promille potentieller Kranker und Belasteter weniger zu haben, die sowieso im statistischen »Hintergrundrauschen« untergehen?In diesem Zusammenhang ist es auch konsequent, wenn mögliche und erwiesene Umweltbelastungen immer wieder dadurch relativiert werden, daß auf noch verbreitetere Schädigungen hingewiesen wird. So gehört ja der Vergleich der nuklearen Belastungen mit der Belastung durch Tabakrauchen nicht nur ins Repertoire fast jeden Politikers. Der prominente Internist Prof. Gotthardt Schettler klagt in einem Artikel der Zeitschrift Versicherungsmedizin die »Verhältnismäßigkeit bei Umweltgefährdungen« unter anderem mit folgenden Aspekten ein:

    »Sich auf unwesentliche statt auf wichtige Gesundheitsrisiken zu konzentrieren, ist unsinnig. Die daraus folgende Verwirrung kann eher zur Vernachlässigung entscheidender und bewiesener Faktoren und Risiken führen, z.B. des Zigarettenrauchens, des Alkohols, der einseitigen Ernährung mit zuviel gesättigten Fettsäuren und Cholesterin und Vermeidung von Faserstoffen.«

    Als Beispiel einer nötigen Relativierung wählt er die Asbestgefährdung:

    »Das Risiko durch Asbest bei Schulkindern ist 600mal geringer als das Risiko tödlicher Unfälle der Kinder in ihrem Elternhaus, 12000mal gefährlicher als die Asbestexposition ist nach solchen Berechnungen das Tabakrauchen.« 6

    Situation und Erwartungen des Patienten

    Das dargelegte System von Einstellungen und Verhaltensweisen ist nicht nur Ausdruck des Denkens von Ärzten, sondern zu guten Teilen denken wohl viele Menschen so, die sich »nicht betroffen« fühlen.

    Dem gegenüber steht nun der Patient, der leidet und betroffen ist. Ich kann und brauche seine Probleme nicht zu umreißen, denn das wäre in jedem Falle eine unerlaubte Vereinfachung der jeweilig individuellen Situation, und andererseits ist diese in den vorangegangenen Beiträgen dieses Buches ausdrucksvoll zu Wort gekommen.

    Gemeinsam ist den jeweiligen Patientensituationen im Bereich umweltmedizinischer Belastungen:

    Jeder ist nur einer!

    Diese totale Subjektivität und Individualität des Erlebens und der Erfahrung steht dem Patienten zu, stößt aber auf das Relativierungsbedürfnis der Umgebung und speziell der Ärzte. Und da die Symptomatik oft nur persönlich erfahrbar und nicht oder nur schwer objektivierbar ist, weiß der Patient bald offensichtlich mehr von seinem Leiden als der Arzt. Diese gepeinigte und oft auch getriebene, hilfesuchende Überlegenheit des Patienten — zumal auf einem so neuen und teilweise schwer durchschaubaren Gebiet wie der Umweltmedizin -macht dem Arzt angst!

    Zunächst nun versucht der Patient, seine Krankheitserlebnisse mit eigenen Worten, von innen heraus, verständlich zu machen. Da er aber an die Objektivierungs-zwänge der Medizinsprache stößt, sucht er sich nach und nach im Laufe seiner »Krankheitskarriere« oft wiederkehrende Chiffren wie »mein Immunsystem ist völlig gestört« oder »meine Eingeweide sind ganz verpilzt« oder »ich spüre doch die Nervenströme«. Diese unvermeidlichen und in den Ohren des Fachmanns »anatomisch und physiologisch falschen« Versuche subjektiver Erfahrungen erleichtern es dem Arzt, sich zu distanzieren und den Patienten nach und nach in ein eigenes Krankheits- und Weltsystem zu verweisen.

    Die Tragik bei dieser scheiternden Begegnung liegt auch darin, daß der Patient zuerst mit großen - rückblickend muß man meist sagen: übertriebenen - Erwartungen zum Arzt kommt. Er hofft, hier einen kenntnisreichen, verständnisvollen Partner und Fachmann zu finden, der seine Beschwerden ernst nimmt, einordnet, Ursachen sucht und findet, schließlich eine wirksame Behandlung einleitet und bis zum Erfolg führt.

    Statt dessen wird der Patient aber bald auf die Denkvoraussetzungen der Mediziner (wie ich sie oben geschildert habe), ihre sachgegebene Detailunkenntnis und ihre Angst vor dem drängenden Patienten stoßen. Und auch die ganz banale Erfahrung bleibt ihm nicht erspart: daß er, der einzelne Patient, jedenfalls nur eine von vielen Aufgaben und Problemen für den Arzt verkörpert. Nun beginnt ein negativer Regelkreis aus enttäuschten Erwartungen und um so intensiverem Drängen einerseits und Ablehnung, Beschwichtigung, Distanzierung andererseits.

    Es ist erstaunlich, aber wahr, daß schwer faßbare Beschwerden und Krankheiten den Patienten isolieren können, statt Solidarität hervorzurufen. Wo der Arzt die Situation nicht versteht, steht er hilflos und machtlos da. Das ist eine ungewohnte Position, und da sie den Erwartungen des Patienten widerspricht, löst der Arzt oft offen oder versteckt den Behandlungskontrakt auf und gibt die Erwartungen dem Patienten zurück, denn es ist viel leichter, den Patienten durch Unverstehen in die Einsamkeit zu verweisen, als die eigene, ärztliche Ohnmacht einzugestehen.

    Wege zur Überwindung der gestörten Kommunikation

    Bei den dargelegten asymmetrischen Voraussetzungen für eine fruchtbare Kommunikation zwischen Arzt und Patient liegt es auf der Hand, daß unterschiedliche Motivationen ein formaler Hauptgrund für das Mißlingen der Zusammenarbeit sind. Die Motivation der Patienten ist dabei eindeutig (Suche nach Verständnis, Analyse und Hilfe). Aber es ist offenbar schwer, Ärzte zu motivieren, sich auf den umweltbelasteten Patienten und seine spezifischen Probleme einzulassen. Die Patientengeschichten dieses Bandes sind auch Dokumente, wie Motivationen zu einer Arzt-Patienten-Interaktion nicht zustande kamen. Betroffene mögen es fast für zynisch halten, daß Ärzte auch noch »motiviert« werden müssen, so eine Aufgabe sachgemäß zu übernehmen. Das hat aber etwas mit der Überschätzung von Ärzten zu tun, cjenen unterstellt wird, sie hätten ein Ethos, das ganz unabhängig von ihrer emotionalen Situation auto-matenhaft funktionierte. (Darin geht es Ärzten ähnlich wie Pfarrern oder Juristen, deren Ethos gleichermaßen überschätzt und überfordert wird.) Vor diesem Hintergrund kann man Patienten nur raten, bei ihren Ärzten den Bedarf nach Motivierung von Kräften ernst zu nehmen, wenn sie mit ihnen kooperieren wollen und von ihnen Hilfe erwarten.

    Dieser Aspekt der Verdrängung und Motivationshilfe wird in Umweltfragen ganz allgemein vernachlässigt.7 Aus soziologischer Sicht8 ist Kooperation immer dann erleichtert, wenn das »Prinzip Eigennutz« als Urquell aller Motivation berücksichtigt wird. Beim Arzt nun fühlt sich dieses Prinzip mit einer Währung honoriert, die eine Legierung aus verschiedenen Wertstoffen ist:

    • menschliche Anerkennung durch Patienten und Kollegen,
    • fachliche Anerkennung durch Patienten und Kollegen,
    • weltanschauliche Werte und Menschenbild,
    • finanzielle Würdigung.

    Bei Legierungen kann der relative Anteil der Einzelsubstanzen variieren.

    Künftig könnten Patienten es mit diesem Motivationskomplex einfacher haben, denn auch die Ärztekammern und Krankenkassen (über die Kassenärztlichen Vereinigungen) haben den Problemkreis als Herausforderung aufgenommen: »Arzt für Umweltmedizin« kann als Zusatzbezeichnung erworben und geführt werden, wenn eine breite Ausbildung vorausgegangen ist, die unter anderem 200 Stunden folgender Grundsatzinhalte umfaßt:

    Grundzüge der Ausbildung für Umweltmediziner:

    Prinzipien von Umwelteinwirkungen auf den Organismus

    Biologische Einwirkungen
    Chemische Einwirkungen
    Physikalische Einwirkungen
    Grundzüge der Epidemiologie
    (Innerhalb dieses Themenkomplexes erfolgt auch Abgrenzung gegenüber Arbeitsmedizin)

    Prinzipien des Diagnoseganges

    Anamneseerhebung
    Klinische Befunderhebung
    Grundlagen der Probeentnahme (biologisch und technisch)
    Prinzipien der Ortsbesichtigung

    Biochemie und Toxikologie von chemischen Noxen

    Toxikologische Grundprinzipien, Bewertungsfragen
    Referenzwerte, Grenzwerte, MAK, MIK
    Umweltrelevante Substanzgruppen

    Klinische Krankheitsbilder (die Verdacht auf Umweltnoxen wecken)

    Für jeden Komplex jeweils: klinisches Bild, mögliche Auslöser, Untersuchungswege, Differentialdiagnosen, Therapiemöglichkeiten.

    a) Neuropsychologische Krankheitsbilder

    Polyneuropathien
    kognitive Störungen
    Chronic-fatigue-Syndrom u. a.

    b) Pulmologische Krankheitsbilder

    Die Außenluft als Noxe
    Die Innenluft als Noxe
    Toxisch-irritative Lungenerkrankungen
    Immunologische Lungenerkrankungen
    Onkologische Lungenerkrankungen

    c) Dermatologische Krankheitsbilder

    allergologische Dermatosen
    toxische Dermatosen
    onkologische Dermatosen

    d) Immunologische Krankheitsbilder

    Immundefektsyndrome
    Grundzüge der Allergien

    e) Leber- und Nierenstörungen

    f) Hämatologische und onkologische Erkrankungen
    Anämien
    Hämoblastosen
    solide Tumoren

    g) Multiple Systemstörungen

    multiple chemische Sensitivität
    Sick-building-Syndrom

    Damit soll der oben angesprochenen »Inkompetenz« begegnet werden. Überdies können die umweltmedizinischen Leistungen, wie spezifische Anamnese und Befunderhebung und die eingeleiteten spezifischen Suchmaßnahmen (indizierte Ortsbegehung, Messungen von Umwelt- und Blutbelastungen) vergütet werden. Natürlich muß und kann nicht jeder Allgemeinarzt, Internist oder Gynäkologe nun »Arzt für Umweltmedizin« werden; aber er wird aus der Tatsache der offiziellen Anerkennung dieser Disziplin lernen, daß es zu den normalen ärztlichen Tätigkeiten gehört, umweltmedizinische Belastungen und Fragen ernst zu nehmen, so weit zu verfolgen, wie seine (fortbildbare) Kompetenz reicht, und wenn er an seine Grenzen stößt, den Arzt für Umweltmedizin auf dem Überweisungsweg hinzuzuziehen.

    Diese Entwicklung auf dem ärztlichen Versorgungssektor ist die Antwort der Gesundheitsorganisatoren auf die produktive Unruhe der Patienten, wie sie auch in diesem Buch zum Ausdruck kommt. Dieser Regelweg klingt natürlich zum Teil zu schön, um in jedem Fall alle Patientensorgen zügig zu lösen; es wird weiter reichlich individuelle Arbeit besonders in bezug auf die Punkte »menschliche Anerkennung« und »Werte und Menschenbild« im Rahmen des medizinischen Währungssystems nötig sein. Sicher aber ist, daß Fortschritte auf diesem Weg nur erreichbar sind, wenn Patienten und Ärzte umweltmedizinische Belastungen als gemeinsame Probleme und Fragen sehen, zumal die Grenzen zwischen Arzt und Patient rasch verschwimmen können, wie der Beitrag von Frau Dr. Josenhans in diesem Band gezeigt hat.

     

    Zusammenfassung

    Patienten mit umweltmedizinischen Belastungen werden von Ärzten zu oft allein gelassen! Das hat vielfältige Ursachen:

    - Die bisherige Medizinerausbildung vermittelt keine hinreichenden diagnostischen Erkenntnisse, und auch die therapeutischen Möglichkeiten erscheinen gering.

    - Die Erkrankungen durch Umweltnoxen und ihre Beschwerden werden als »Kritik« an der industriellen Welt (mit ihren chemischen und radiologischen Belastungen) verstanden, der der Mediziner sich verpflichtet weiß.

    - Die Symptomatik vieler umweltmedizinischer Erkrankungen ähnelt psychosomatischen Erkrankungen oder wird von ihnen begleitet.

    Die Phase blanker Empörung über diesen Mißstand in der Betreuung scheint allmählich überwindbar. Hierzu trägt die Beharrnis von Patienten und ihren Selbsthilfegruppen sowie ein sich langsam wandelndes Bewußtsein kritischer Medizin bei.

    Kenntnis der Unsicherheiten und Hemmungen von Ärzten kann den Umgang von Patienten mit ihnen produktiver gestalten. Es soll dabei nicht zur Schande des Arztes werden, wenn der Patient oft mehr über seine Krankheit weiß als der Arzt.

    Durch aufgeklärten Umgang von Patienten mit Ärzten wird es dem Arzt auch leichtergemacht, seine Abwehr zu überwinden und (wie es natürlich seine Pflicht und Schuldigkeit ist) sich nach Kräften auf das Einzelschicksal in seinen toxikologischen, somalischen und psychischen Komponenten einzulassen.

    Überdies können dann beide Seiten auch den Aspekt der psychosomatischen Mitreaktion bearbeiten: Wo der Arzt den Patienten ohne wechselseitige Vorurteile annehmen kann, kann die ganzheitliche Belastung therapeutisch thematisiert werden.

     

    Anmerkungen

    1.)   Wer hat davon gehört, daß Ärzte für unfallverhütende Geschwindigkeitsbegrenzungen laut votieren würden? Eine Ärztekampagne der IGUMED fand unter 200000 Ärzten nur bei 180 ein Echo

    2.)   Vergleiche dazu: Mann, G./Winau, R.: Medizin, Naturwissenschaft, Technik und das zweite Kaiserreich. Göttingen 1977; Lasch, Hans Günther/Schlegel, Berd (Hrsg.): Die Kongreßeröffnungsreden der Vorsitzenden 1882-1982. München 1982

    3.)   Remmer, Herbert: »Die Umwelt als Ursache von Erkrankungen.« In: Deutsches Ärzteblatt 27, 1400 (1994)

    4.)   Fülgraff, G.: »Vertretbares Risiko und Akzeptanz bei Kanzerogenen Stoffen«, in: Kolloquium Krebserzeugende Stoffe in der Umwelt, Verein Deutscher Ingenieure (VDI), Mannheim 1991 (Abstracts)

    5.)   Salzwedel, Jürgen: »Kanzerogene Stoffe in der Umwelt -Rechtliche Aspekte«, in: Kolloquium Krebserzeugende Stoffe in der Umwelt, Verein Deutscher Ingenieure (VDI), Mannheim 1991 (Abstracts)

    6.)   Schettler, Gotthardt: »Die Verhältnismäßigkeit bei Umweltgefährdungen«, in: Versicherungsmedizin, 44, 69 (1992)

    7.)   Siehe dazu: Theml, Harald: »Von der Wahrnehmungsselektion zum Sehenlernen mit dem Blinden Fleck«, in:
    Umweltschutz in der Verhaltensklemme. Herrenalber Protokolle 103, Karlsruhe 1994

    8.)  Siehe dazu: Hennen, Manfred: »Wie ist Verhalten beeinflußbar; unter welchen Bedingungen kann es Selbstbindung geben? Zur Chance der Umsetzung von Umweltpolitik«, in: Wenn die Umwelt krank macht, Herrenalber Forum, Band 12, Karlsruhe 1995

     

    VII  Darstellung eines Beschwerdeprofils am Beispiel einer Pestizid-Intoxikation

    Helmuth Müller-Mohnssen

    Frühe Erkennung des Krankheitsbildes

    Seit den vierziger Jahren werden bevorzugt synthetische Nervengifte als Insektizide eingesetzt, obwohl sie als solche nicht nur das Nervensystem der Insekten, sondern ungezielt auch das aller übrigen Tiere und des Menschen schädigen. So haben Insektizide aus der Gruppe der Organophosphor- und Organochlorverbindungen auch beim Menschen zu akuten und chronischen Schädigungen des Nervensystems geführt. Zu den Organophosphorverbindungen zählen E 605, Chlorpyrifos, Dichlorvos und die chemischen Kampfstoffe Sarin, Tabun, zu den Organochlorverbindungen DDT, Lindan, PCP. Seit ca. 1980 wurden sie weltweit durch die Pyrethroide verdrängt: zunächst in Pflanzenschutzmitteln, etwa seit 1986 auch in »nichtagrarischen« Insektiziden für den Innenraum (für Schädlingsbekämpfer und Selbstanwender, Elektroverdampfer, Textil- und Holzschutzmittel).

    Anfang der achtziger Jahre, also noch vor dem großtechnischen Einsatz, haben wir und andere Untersucher die Pyrethroide im Labor auf ihre Unbedenklichkeit getestet. Nach diesen Ergebnissen sind Pyrethroide ebenfalls neurotoxisch. Wegen ihrer ungezielten und sehr hohen Wirksamkeit, wegen der mangelnden Reversibilität der Wirkungen sowie ihrer Beständigkeit haben wir befürchtet, daß Pyrethroide ebenfalls zu chronischen Gesundheitsschäden beim Menschen führen werden, und in Publikationen von 1984 bis 1991 vor ihrer Anwendung gewarnt.

    Die Rechtslage: Statt dem Vorsorgeprinzip herrscht das Verursacherprinzip. Der Mensch wird zum Versuchsobjekt

    Für nichtagrarische Insektizide gilt nicht das Vorsorgeprinzip wie im Pharmabereich, sondern das Verursacherprinzip. Danach ist es nicht das Ziel der Gesundheitspolitik, Schäden zu vermeiden, sondern den Verursacher für Schäden zu bestrafen und bezahlen zu lassen. Dafür müssen die Stoffe so lange auf den Markt gebracht werden, bis der Schaden tatsächlich eingetreten ist und bis vor Gericht bewiesen ist, daß der Schuldverdächtige ihn verursacht hat.

    Der exakte naturwissenschaftliche Beweis für den Ursache - Wirkung - Zusammenhang ist in der Medizin nicht zu erbringen

    Bisher galt die Naturwissenschaft als die für die Beweisführung zuständige Instanz. Der Naturwissenschaftler bejaht den Ursache-Wirkung-Zusammenhang zwischen einem schädlichen Stoff und einer Krankheit erst dann, wenn der physikalische oder chemische Mechanismus, mit dem die Noxe zur Krankheit führt, lückenlos und möglichst auf molekularer Ebene aufgeklärt ist. Dies ist in der Medizin nur ausnahmsweise der Fall (zum Beispiel bei mechanischer Körperverletzung). Wollte man diesen Nachweis auch für die günstige Wirkung von Arzneimitteln fordern, würden nur wenige zugelassen.

    Ärztlicher und juristischer Nachweis des Kausalzusammenhangs

    Man weiß kaum, durch welche Mechanismen etwa Choleraerreger das komplexe Krankheitsbild der Cholera erzeugen. Trotzdem wird der Arzt, der entscheiden muß, um handeln zu können, nicht bezweifeln, daß eine bestimmte Krankheit (wie zum Beispiel die Cholera) vorliegt, wenn bei seinem Patienten

    1. die Krankheitsursache, beispielsweise pathogene Mikroorganismen oder chemische Noxen, im Körper oder in der Umgebung des Erkrankten nachweisbar ist,

    2. wenn andere Ursachen, die das Krankheitsbild vollständig erklären könnten, auszuschließen sind,

    3. und wenn darüber hinaus das typische, sich bei einer Vielzahl von Patienten gleichförmig wiederholende und in Lehrbüchern und in der übrigen Fachliteratur beschriebene Krankheitsbild erkennbar ist.

    Dies ist zugleich auch die Definition des Kausalzusammenhanges, die das OLG Frankfurt im Beschluß zur Aufnahme der Hauptverhandlung im Holzschutzmittelprozeß verwendet hat.1

    Kenntnis des Krankheitsbildes: Voraussetzung für den Nachweis von Kausalzusammenhang, Diagnostik und Therapie

    Während in der konventionellen Medizin Krankheitsbilder bekannt sind und nach ihren Ursachen - als bevorzugtem Ansatzpunkt für die Therapie - geforscht wird, sind bei neu eingeführten neurotoxischen Insektiziden die potentiellen Ursachen bekannt. Unbekannte Größe ist das Krankheitsbild. Sofern die Insektizid-Intoxikation an ihrem Krankheitsbild erkannt und die Ursache beseitigt wird, besitzt sie eine ungleich bessere Prognose als die neurologischen Erkrankungen, mit denen sie verwechselt wird (multiple Sklerose, Parkinson, amyotro-phe Lateralsklerose).

    Die Erfassung des Krankheitsbildes unter Zeitdruck

    Um das Krankheitsbild der Pyrethroid-Intoxikation möglichst schnell erkennen zu können, haben wir versucht, möglichst viele vergleichbare Daten in möglichst kurzer Zeit von möglichst vielen Patienten zu bekommen. Bis eine einzelne Klinik oder Praxis die geforderte Vielzahl von Patienten mit Verdacht auf Pyrethroid-Intoxikation erreicht, wäre bereits ein großer Teil der Bevölkerung betroffen. Wir mußten nach einer anderen Methode suchen - die übrigens nichts kosten durfte, denn öffentliche Mittel stehen für diese Thematik nicht zur Verfügung, und die durch eine Vergiftung Betroffenen haben ihre eigenen finanziellen Probleme.

    Ein kleines Team muß in kurzer Zeit eine Vielzahl von Patienten erfassen können, damit das neu erkannte Krankheitsbild auf einer Datenbasis steht, die den methodischen Kriterien der Statistik standhält (im Regime des Verursacherprinzips kommen gesundheitspolitische Entscheidungen nicht durch naturwissenschaftliche Argumentation, sondern unter dem Druck der großen Zahl zustande). Die Daten wurden daher in folgenden Schritten aufgenommen:

    1. Wir informierten die deutschsprachige Öffentlichkeit durch Fernsehsendungen über das mögliche Risiko. Patienten nahmen Kontakt mit uns auf. Unser Arzt-Patienten-Gespräch mußte ohne persönliche Begegnung auskommen, da das Einzugsgebiet dafür zu groß war (Bundesrepublik und angrenzende Länder).
    2. Es wurde eine Beschwerdetabelle erstellt. Art und Höhe der Insektizidbelastung, die Beschwerden des Exponierten und der zeitliche Verlauf der Erkrankung wurden daher telefonisch sowie mit einem umfangreichen Fragebogen erfaßt; dieser wurde von Ärzten entwickelt, die seit vielen Jahren Insektizidgeschädigte behandeln und deshalb Zeugen des Krankheitsgeschehens sind. (Derselbe Fragebogen wird zur Erfassung von Intoxikationen durch alle neurotoxischen Stoffe verwendet; eine Methode, die für die Feststellung des Krankheitsbildes bei Kindern geeignet wäre, konnte noch nicht entwickelt werden.)

      Die Fragebogenexploration hat Nachteile, aber auch Vorteile: Die Zusammenstellung der Fragen ist von der Person eines einzelnen Arztes unabhängig, so daß die Antworten vieler Patienten quantitativ miteinander verglichen werden können. Vergleichbarkeit setzt überdies voraus, daß die Datensätze vollständig sind — was bei der persönlichen Befragung nicht gewährleistet ist. Die Daten sind schriftlich dokumentiert, so daß verschiedene Untersucher auch später noch auf sie zurückgreifen können. In vielen Kliniken werden regelmäßig umfangreiche Fragebögen verteilt, indessen aus Zeitmangel selten ausgewertet. Wir haben ein Computerprogramm für die automatische Auswertung entwickelt, weil Daten nicht nur in großer Menge, sondern auch unter Zeitdruck zu bewältigen sind (da der tägliche Zuwachs der zu klärenden Verdachtsfälle erst mit der Erkennung der Krankheit, dem Nachweis ihrer Ursache und der Identifizierung des Verursachers gestoppt werden kann).

    3. Ziel der Auswertung ist es, das »mittlere« Krankheitsbild einer Vielzahl von Patienten zu beschreiben (Referenzprofil) , um das individuelle Krankheitsbild des einzelnen Patienten damit vergleichen und feststellen zu können, ob die nach Punkt 3 (siehe oben) geforderte Ähnlichkeit im Einzelfall besteht. Das Beschwerdespektrum mit den vom Patienten ausgefüllten Zahlenreihen umfaßt 95 Datenpaare, deren Kombinationen erst das typische Beschwerdesyndrom ergibt. Zusammen mit den Datenpaaren und Inter-dependenzen des Referenzprofils resultiert eine Informationsmenge, die das gedankliche Fassungsvermögen bei weitem übersteigt. Auch die Zahlentabellen, die der Computer als Ergebnis der Auswertung liefert, sind unanschaulich und schwer zu überblicken. In der konkreten Entscheidungssituation des Arztes ist aber ein schneller, sicherer Zugriff erforderlich. Der Arzt ist es gewohnt, komplexe Zusammenhänge in Form graphischer Darstellungen zu lesen (EEG, Tomogramme usw.). Daher wird das Beschwerdeprofil des einzelnen Patienten zusammen mit dem Profil einer Vielzahl von Patienten - als Referenzprofil für den geforderten Vergleich - vom Computer in ein und derselben Graphik dargestellt. So kann es mit einem Blick erfaßt werden, um das in Zahlen formulierte Ergebnis der Patientenbefragung in die Anschauung zurückzuholen - als Krankheitsbild im Sinne dieses Wortes.

    Vergleich des individuellen Profils mit dem Referenzprofil

    Abbildung 1:
    Die Säulen zeigen das Spektrum der Beschwerden eines einzelnen Patienten vor dem Hintergrund eines Gebirges. Waagerechte Achse des Diagramms: Nummer der Fragen im Fragebogen. Senkrechte Achse: Intensität, mit der die Beschwerden vom Patienten gewichtet werden, in einer Skala von 0 bis 4 (Null bedeutet, daß die Störung nicht über das bei Normalbefinden beobachtete Maß hinausgeht). Das Gebirge stellt das Referenzprofil dar. Es ist durch Mittelwertsbildung der Beschwerdeprofile von 100 Patienten entstanden, die das erste und zweite der oben genannten Kriterien erfüllt haben (d. h., sie waren nachweislich gegenüber Pyrethroiden exponiert, daraufhin erkrankt; andere Noxen und Krankheiten kamen nicht in Betracht). Zur Unterscheidung beider Profile in ein und demselben Diagramm wurde das individuelle Krankheitsbild als Säulengruppe, das kollektive Krankheitsbild als Gebirge dargestellt.

    Die Computer-Auswertung bildet das Vorgehen des Arztes nach: Es ordnet die vom Patienten vorgetragenen Beschwerden derjenigen Organlokalisation zu, auf die sie nach ärztlicher Erfahrung hinweisen (zum Beispiel werden Taubheitsgefühl, Einschlafgefühl, Brenngefühl und Kribbelparästhesien in den Extremitäten unter Sensibilitätsstörungen zusammengefaßt, die - unter anderem - an eine Schädigung ausgedehnter Gebiete des peripheren Nervensystems, an eine Polyneuropathie, denken lassen).

    Hierfür wurden die 97 Einzelbeschwerden in 14 Gruppen gebündelt, die mit den Buchstaben B bis O bezeichnet werden. Das Computerprogramm ermittelt für jeden Patienten die Gruppen, deren Beschwerdemaß einen vorgegebenen Schwellenwert überschreitet. Der behandelnde Arzt erhält das Ergebnis der Fragebogenauswertung mit der Bitte, zu überprüfen, wieweit die aus den Beschwerden des Patienten zu schließenden Organstörungen klinisch nachweisbar sind. Das Ergebnis der Fragebogenauswertung erlaubt es, statt des umfassenden und teuren klinischdiagnostischen Screenings eine begrenzte und gezielte Auswahl der zur weiteren Abklärung erforderlichen diagnostischen Verfahren zu treffen.

    Das Korrelations-Diagramm, »Fingerabdruck« der Krankheit

    Die bekannten Krankheiten zeigen meist ein breites Spektrum unspezifischer Symptome. Wesentliches Kennzeichen einer Krankheit ist die Abnahme der körperlichen und geistigen Kondition: der Patient ist den Anforderungen des Alltags nicht mehr gewachsen. So beginnen Infektionskrankheiten wie Masern oder Scharlach mit Beeinträchtigungen des Allgemeinbefindens; Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Abnahme der Leistungsfähigkeit, rheumaähnliche Gliederschmerzen, Erkrankungen der Mund- und Rachenschleimhäute. Oft schließen sich opportunistische Infektionen als Folge der Abwehrschwäche, Krankheiten des Nervensystems, der Nieren, der Leber, des Herzens als Spätkomplikationen an. Die Identität von Masern oder Scharlach offenbart sich erst in prägnanten Kardinalsymptomen, die sie von anderen Krankheiten unterscheiden: das Exanthem und die Koplikschen Flecken bzw. die Himbeerzunge.

    Abbildung 2:
    Die Pyrethroid-Intoxikation umfaßt ein ebenso breites Beschwerdespektrum. Kardinalsymptome wie bei Masern oder Scharlach konnten wir nicht entdecken. Bei den bekannten neurologischen Erkrankungen überwiegen entweder zentralneurologische oder peripher-neurologische Störungen. Bei der Pyrethroid-Intoxikation dagegen sind beide Bereiche gleich stark betroffen. Offensichtlich unterscheiden die toxischen Stoffe bei ihrer Ausbreitung nicht zwischen ihnen. Das Krankheitsbild der Pyrethroid-Intoxikation ist somit gekennzeichnet durch die Kombination und Korrelation von zentralneurologischen gleichgewichtig mit peripher- und vegetativneurologischen sowie mit charakteristischen nichtneurologischen Störungen. Die neurologische Symptomatik besteht in hirnorganischen Ausfällen, an multiple Sklerose oder Morbus Parkinson erinnernden Bewegungsstörungen, in sensorischer, motorischer und autonomer Polyneuropathie mit zum Beispiel Herz-Kreislauf-Regulationsstörungen im Sinne einer Sympathikotonie; die nichtneurologische Symptomatik besteht in Störungen des Immunsystems (opportunistischen, zum Beispiel Candida-Infektionen des Verdauungstrakts), in Haut- und Schleimhautveränderungen (Schwellung, Hautausschläge, Haarausfall, Konjunktivitiden), Fertilitätsstörungen, Gerinnungsstörungen und - am häufigsten bei Kindern - Störungen der Knochenmarkfunktion. Daher schließt sich als weitere Auswertungsstufe die Berechnung der - in der vorliegenden Studie zunächst der paarigen - Kombinationen P an (Abbildung 2, linkes unteres Halbdiagramm). Die breite Hügelkette B, C, D entsteht durch die große Häufigkeit der hirnorganischen Störungen, die Häufigkeit ihrer Kombination miteinander sowie mit nahezu allen anderen Symptomgruppen - insbesondere mit Störungen des peripheren und autonomen Nervensystems. Ähnliches gilt umgekehrt auch für periphere Sensibilitätsstörungen G und Störungen im Bereich der Hirn- und Sinnesnerven K Neben der Häufigkeit der paarigen Kombination von Gruppen werden die Korrelationskoeffizienten 0, der Symptomgruppen berechnet (Abbildung 2, rechtes oberes Halbdiagramm). <E> erreicht hohe Werte, wenn zwei Gruppen eines Paares gleichzeitig anwesend (kombiniert) sind, aber keine Gruppe ohne die andere auftritt. Korrelationen gelten als Maß für die Strenge der Kopplung und als Hinweis auf einen funktionellen Zusammenhang. Als Beispiel sei die erhöhte Korrelation OHN genannt: Der erhöhte muskuläre Tonus, wie er in Verbindung mit den Parkinson-ähnlichen Bewegungsstörungen N auftritt, führt zur Überbeanspruchung von Muskeln, Sehnen, Insertionsflächen und ist daher möglicherweise die Ursache der Muskelschmerzen (des Fibromyalgie-Syndroms H), die von den Patienten mit dem Schmerz beim »Aufwachen eines eingeschlafenen Beines« oder beim Auftauen schneekalter Finger verglichen wird, aber im Gegensatz dazu ständig anhalten.

    Abbildung 3:
    Das Referenzprofil der Pyrethroid-Intoxikation weist prägnante Merkmale auf, die es von den Profilen anderer »Umweltkrankheiten« unterscheidet. So stehen die Beschwerdegruppen C-G-B (neurologische Störungen) bei der Pyrethroid-Intoxikation an der Spitze der Häufigkeit. Bei einem Kollektiv von 100, gegenüber den Luftschadstoffen SO2, NO2, HF, HCL und Staub exponierten Personen, waren es dagegen die Beschwerdegruppen O-C-I-J, die auf Atemwegserkrankungen hindeuten. In der graphischen Darstellung, vor allem der Kombinations-Korrelations-Diagramme (Abb. 2 und 3) springen die Unterschiede deutlich ins Auge. Das Kombinations-Korrelationsdiagramm ergibt somit ein charakteristisches Bild, wir hoffen eine Art Fingerabdruck der Krankheit.

    In den meisten Einzelfällen wurden die Ergebnisse der Auswertung durch die anschließende klinische Untersuchung, zum Beispiel in der Berliner Pyrethroidstudie, bestätigt. Das überrascht nicht, denn es ist eine alte Erfahrung, daß der Arzt die meisten, zur Diagnosestellung erforderlichen Informationen durch die Aussagen des Patienten erhält. An dieser Stelle sei einem Mißverständnis begegnet. Das Fragebogenkonzept stellt keine Diagnosen, sondern weist auf die zu vermutenden Organstörungen und somit auf die Ziele der klinischen Diagnostik hin: es ist ein Suchprogramm. Die Diagnose resultiert schließlich aus der Synthese von Patientenaussagen und klinischem Befund. Sie besteht in der Rückkoppelung von der Ausgangshypothese (zum Beispiel Verdacht auf Polyneuropathie) über die klinische Kontrolle zurück auf die Ausgangshypothese (Verdacht auf Polyneuropathie bestätigt oder ausgeschlossen). Bei persönlicher Befragung des Patienten kann der Arzt die klinische Prüfung, ob sein Schluß von den geklagten Beschwerden auf die Organstörung richtig war, selbst vornehmen oder veranlassen. Bei der in dieser Studie vorgenommenen Auftrennung der beiden Schritte (l. Fragebogenauswertung, 2. klinische Untersuchung) und Verteilung auf zwei verschiedene Stellen, setzt die Diagnostik die Zusammenarbeit der Ärzte mit uns voraus. Wenn die Ärzte die Computerauswertung selbst durchführen wollen, bekommen sie von uns die Programme. Erst wenn mehrere Ärzte bereit wären, die Treffsicherheit des hier vorgestellten Suchprogramms in gemeinsamer Arbeit zu prüfen und zu verbessern, könnte es dem einzelnen Patienten als Standardverfahren beim Nachweis des Kausalzusammenhangs nachdrücklich helfen. Gegenwärtig findet das Verfahren bei den behandelnden Ärzten aber kaum Interesse. Schwerpunkt unseres weiteren Vorgehens kann daher zwangsläufig nicht mehr die Diagnostik im Einzelfall sein, sondern - als Voraussetzung dafür - die Darstellung des mittleren Krankheitsbildes vieler Personen; dafür wird sie zur Zeit in mehreren anderen Projekten eingesetzt. Um die Gefahr einer chronischen Intoxikation möglichst frühzeitig erkennen zu können, ist die Geschwindigkeit der Diagnoseschritte zu erhöhen. Derzeit ist das Computerverfahren so weit entwickelt, daß 100 Fragebögen in wenigen Minuten vollständig ausgewertet werden können. Damit ließen sich neuro toxische Schäden in der Bevölkerung in Zukunft früher erkennen als bisher.

    Eine neue Generation neurotoxischer Insektizide ist das "Gaucho". Es wirkt wie Organophosphat-Biozide als Cholinesterase-Hemmer, ist aber im Gegensatz zu ihnen auch im Organismus beständig. Für die Herstellung hat Bayer 1992 ein Werk in Remagen gebaut. Das Produkt wird seit Jahren in Spanien eingesetzt, in der Hoffnung, es mit der Öffnung des Marktes auch in Deutschland absetzen zu können. Inzwischen ist Gaucho mit einem Jahresumsatz von einer knappen Milliarde DM ein neuer »Cash - Renner« der Firma Bayer. Es ist zu erwarten, daß die ersten Vergiftungsfälle demnächst bei uns auftauchen. Möglicherweise ist dies der Grund dafür, daß sich gerade Wissenschaftler, die auf der Herstellerseite stehen, in Leserbriefen mit der Publikation der hier vorgestellten Methode2 zur Erkennung eines neuen Krankheitsbildes auseinandergesetzt haben und sie unglaubwürdig zu machen versuchen.

    Anmerkung

    1.) OLG Frankfurt/Main. Beschluß zu Az. l Ws 206/90; 5/26 KLs G5 Js 8793/84 LG (19. 12. 1993)

    2.) Das Gesundheitswesen 57, 214-222 (1995) Die Leserbriefe erscheinen im Januarheft 1996

    Abb. 1: Individuelles Beschwerdeprofll (Säulen) vor dem Hintergrund des milderen Beschwerdeprofils von 100 Pyrethroid-Geschädigten.

    Hirnorganische Symptomatik?

     1 B Zunehmende Vergeßlichkeit, 50%
     2    Konzentrationsstorungen, 60%
     3    Merkfähigkeitsstörungen, 44%
     4    Störungen Neugedächtnis, 46%
     5 C Einschlafstörungen, 36%
     6    Durchschlafstörungen trotz erhöhtem Schlafbedürfnis, 44%
     7    Allgemeine Müdigkeit trotz ausreichender Schlafdauer, 74%
     8    Gesteigerte Reizbarkeit, 54%
     9    Aggressivität, 46%
    10   Mürrisches Verhalten 44%
    11   Allgemeine Antriebsstörung, 56%
    12   Leistungsminderung, 58%
    13   Erschöpfungsgefühl, 56%
    14   Abgeschlagenheit, 62%
    15   Raschere Ermüdbarkeit, 66%
    16 D  Verlust der Interessen am Beruf 38%
    17   Verlust des Interesses am Hobby, 36%
    18   Gedrückte Stimmung, 54%
    19   Niedergeschlagenheit, 50%
    20   Negative Gedanken, 46%
    21   Ängste, 48%
    22   Innere Unruhe ohne Anlaß, 50%
    23   Uberempfindlichkeit gegen Alkohol,
           Pharmaka, Chemikalien 28%
    24 B Verwechseln Worte/Silben, 30%
    25    Wortfindungsstörungen, 38%
    26    Steckenbleiben im Satz, 28%

    Polyneuropathie ?

    27 E Gewicht (Zu-/Abnahme), 30%
    28    Appetitlosigkeit, 14%
    29    Völlegefühl; 34%
    30    Blähbauch, 28% 
    31    Durchfälle, 26 %
    32    Verstopfung, 14%
    33    Krampfartige Bauchschmerzen, 34%
    34    Krampfartige Blasenschmerzen, 12%
    34.1. Vermehrter Harndrang, 32%
    35 F Herzjagen, 26%
    36    Herzstolpern, 22%
    37    Herzbeklemmung, 20%
    38    Herzängste, 24%
    39    Herzrhythmusstörungen, 24%
    40    Verfärbung Hände, Fuße, 14%
    41    Abflachung der Fußgewölbe, 18%
    42    Vermehrtes Schwitzen, 34%
    42.1 Fieber, 8%
    43 G Kribbeln in Armen und Beinen, 34%
    44    Taubheitsgefühl Arme/Beine, 34%
    45    Einschlafgefühl Arme/Beine, 36%
    46    Brenngefuhl Arme/Beine; 10%
    47    Kältegefühl in Armen/Beinen, 38%

    Immunologische Symptomatik ?

    48 H Wechselnde Schmerzen der Knochen, 50%
    49    Wechselnde Schmerzen in Weich teilen,

    50    Wechselnde Schmerzen der Gelenke, 42%
    51    Schmerzen der Körpermuskulatur, 42%
    52    Krämpfe der Körpermuskulatur, 22%
    53    Zuckungen der Korpermuskulatur, 18%
    54    Schwächegefühl der Körpermuskulatur,26%
    55 Häufige Infekte, 42%
    56    Lympndrüsenschwellung, 16%
    57 J Augenbrennen, 50%
    58    Augenjucken, 54%
    59    Schmerzen im Augenbereich, 34%
    60    Schwellungsgefühl der Augenlider, 32
    61    Spannungsgefühl der Augenlider, 26%
    62    Spannungsgefühl des Gesichtes, 24%
    63    Spannungsgefühl der Hände/Füße, 20%
    64    Auftreten von Hautunreinheiten, 48%
    64.1 Auftreten von Pilzinfektionen, 16%

    Cerebrale und Hirnnervenstörungen?

    65 K Kopfschmerzen, 58%
    66    Schwindel, 44%
    67    Ohrgeräusche, 38%
    68    Zustand nach Hörsturz, 14%
    69    Veränderung des Riechvermögens, 18%
    70    Kurzzeitiges Verschwpmmensehen, 42%
    71    Kurzzeitige Doppelbilder, 16%
    72    Auftreten von Flecken vor den Augen, 40%

    Immunologische/allergologische Symptomatik (Haut):

    73 L  Veränderungen an den Schleimhäuten, 24%
    74    Trockene Schleimhäute, 52%
    75    Haarausfall, 30%
    76    Erhöhte Blutungsneigung, 38%

    Cerebrale Störungen

    77 M Ungewohnte Ungeschicklichkeit, 14%
    78    Unsicherheit beim Laufen, 24%
    79    Unsicherheit beim Treppensteigen, 14%
    80    Unsicherheit bei Arbeiten auf Leitern, 30%
    81    Zittern der Hände, 16%
    82    Zittern der Hände beim Kaffeetrinken, 16%
    83    Fallenlassen von Gegenständen, 14%
    83.1 Plötzliches Zusammenklappen, 12%

    Pseudo-Dopamin-Mangel?

    84 N  Anhaltende Verspannung H-N-Muskulatur,
        50%
    85    Allgemeines Steifheitsgefühl, 36%
    86    Verlangsamung der Bewegungen, 36%
    87    Zeitweiliges Zittern der Hände in Ruhe, 10%
    88    Zeitweiliges Zittern des Kopfes in Ruhe,2%
    89    Zeitweiliges Zittern des Körpers in Ruhe,
    90 O  Kloßgefühl im Hals, 46%
    91    Vermehrtes Hüsteln/Hustenreiz, 70%
    92    Erschwertes Atmen, 46%

    Tab. 1. Fragebogen nach Lohmann.
    Reihenfolge der Einzelbeschwerden: Zahlen auf der Abszisse des Referenz Profils (Häufigkeit in % bei Belastung durch Luftschadstoffe); B bis O: Beschwerde-Gruppen.
    B Minderung der intellektuellen Leistungsfähigkeit; C Müdigkeitssyndrom; D depressive Verstimmung; E Funktionsstörungen des Magen-Darm- und Harntrakts, F des Herz-Kreislaufs; G periphere Sensibilitätsstörungen; H neuromuskuläre Funktionsstörungen; I Infektabwehr-Schwäche; Bindehautreizung, Schwellung der äußeren Haut (vgl. L); K Hirnnervensymptome; L Haut-

    VIII  ANHANG 1

    Volker Zapke

    Tips und Hinweise für Betroffene

    In einem im Mai 1987 vorgelegten Sondergutachten »Luftverunreinigungen in Innenräumen« stellt der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen fest: »Im allgemeinen kann die Luft in Innenräumen nicht besser sein als die Außenluft. Andererseits weisen viele Veröffentlichungen und spezielle Fachtagungen der letzten Jahre darauf hin, daß die Luft in Innenräumen erheblich höhere Konzentrationen bestimmter Schadstoffe enthalten kann als die Außenluft.«1

    Neben den seit langem bekannten Schadstoffquellen, wie zum Beispiel dem Rauchen (u. a. Freisetzung von Formaldehyd) oder dem Heizen von Herden, Öfen und Kaminen (Bildung von Stickstoffoxiden und Kohlen-monoxid), ist der seit einigen Jahrzehnten ständig steigende Einsatz von Chemikalien im Einrichtungs-, Hobby- und Heimwerkerbereich und die Verwendung neuer Baustoffe die wesentlichste Quelle von Schadstoffen im Innenbereich. Der staatlich geförderte Einbau dicht schließender Fenster und Türen sowie die Verwendung von Wärmedämmstoffen verhindern den normalen Luftaustausch in Innenräumen, so daß es zu gesundheitsschädigenden Konzentrationen von Giftstoffen in der Raumluft kommen kann.

    Die wichtigsten Schadstoffe und ihre Quellen

    Formaldehyd

    Formaldehyd ist ein giftiges, farbloses, stechend riechendes Gas, das zur Gruppe der Aldehyde gehört. Weitere übliche Schreibweisen für die chemische Formel des Formaldehyds sind CF^O (Summenformel) oder HCHO.

    Formaldehyd wird bei vielen tierischen und pflanzlichen Stoffwechselvorgängen gebildet und bei allen Verbrennungsvorgängen freigesetzt. Hauptemittenten sind vor allen Dingen Kraftwerke, der Autoverkehr und die Hausfeuerung.

    Formaldehyd ist einer der wichtigsten organischen Grundstoffe der chemischen Industrie. Entsprechend reicht die Palette der Produkte, die Formaldehyd enthalten können, von Autopflegemitteln über Farben, Lacke, Leime, Kleber bis hin zu Kosmetika, Medikamenten, Textilien, Desinfektions-, Körperpflege-, Waschmitteln und vielen anderen Produkten.

    Hauptsächlich wird Formaldehyd bei der Herstellung von Pheno- und Aminoplasten verwendet, die unter anderem als Leim in Spanplatten, Sperrholzplatten und Holzleimplatten eingesetzt werden. Am weitesten verbreitet ist das sogenannte Harnstoff-Formaldehyd-Harz (UF-Harz), aus dem das Gift über einen sehr langen Zeitraum ausgasen kann.

    Die wichtigsten Formaldehyd-Quellen in Häusern und Wohnungen sind:

    • Spanplatten, Sperrhölzer, Tischlerplatten und daraus gefertigte Innen- und Außenwände, Decken, Zwischendecken, Möbel, Leisten, Türblätter und -zargen sowie Holzverkleidungen und Parkettriegel,
    • Ortschäume (Aminoplaste und UF-Materialien) in Hohlraumfüllungen, Ort- und Dachisolierungen,
    • Kleber für Fliesen, Teppichböden und -platten, Kunststoffplatten und -beläge, Tapeten,
    • Farben, Lacke und Lasuren, vor allem Phenolharz-, Harnstoff- und Melaminharzlacke, die überwiegend als Parkettversiegelungen eingesetzt werden,
    • Teppichware, vor allem solche mit Schaumrücken,
    • Isoliermaterialien aus Schaumstoffen für Rohrleitungen sowie Mineralwolle und Mineralfilze als Dämmmaterialien in Decken und Wänden.
    Das in den aufgeführten Materialien enthaltene Formaldehyd gast bis zum vollständigen Zerfall eines Werkstoffes - z. B. einer Spanplatte - aus, so daß es unter Umständen zu erheblichen Konzentrationen dieses Giftstoffes in der Raumluft kommen kann.

    Holzschutzmittel

    Inhaltsstoffe von Holzschutzmitteln haben die Aufgabe, lebende Organismen wie zum Beispiel Pilze und Insekten abzutöten und zukünftigen Befall des Holzes zu verhindern. Das heißt, Holzschutzmittel müssen hochgiftige Substanzen enthalten, um wirksam zu sein. Die Giftigkeit dieser Wirkstoffe wird schon dadurch deutlich, daß einige ihrer Vertreter direkt aus der Kampfund Giftgasforschung stammen. Die Wirkstoffe von Holzschutzmitteln riechen nicht, sind unsichtbar, gasen aber über Jahrhunderte von den damit behandelten Hölzern aus. Über die Raumluft lagern sich die Gifte an Textilien, Möbeln, Einrichtungsgegenständen und im Hausstaub an und werden von den Bewohnern über die Atmung, die Haut und durch offen gelagerte Nahrungsmittel aufgenommen. Die gesundheitlichen Folgen können sich erst nach Jahren zeigen.Holzschutzmittel werden grundsätzlich in drei Kategorien eingeteilt.

    1. Wasserlösliche Holzschutzmittel

    bestehen zu 80 bis 100% aus pilz- und insektenwidrigen Wirkstoffen in Form von Salzen und können darüber hinaus Korrosionsschutzmittel und Kontrollfarbstoffe enthalten. Die Behandlung der Hölzer erfolgt durch Tauchen in Holzschutzmittelbäder, durch Trogtränkung, bei der das Holz in offenen Trögen Stunden bis Tage untergetaucht, oder durch die sogenannte Kesseldrucktränkung, bei der das Schutzmittel mit Über- oder Unterdruck in das Holz gedrückt bzw. gesogen wird. Die so behandelten Hölzer kommen überwiegend im Außenbereich (Gartenhäuser, Carports, Pergolen, Schallschutzzäune) zum Einsatz oder werden zum Hausbau, insbesondere zur Errichtung von Dachkonstruktionen verwendet.Die einzelnen Salzkomponenten werden mit Buchstaben bezeichnet, die auch bei handelsüblichen Produkten verwendet werden und Hinweise auf die Wirkstoffe geben. Zum Einsatz kommen - meist in Kombination - Arsen- (A), Bor- (B), Fluor- (F), Kupfer Verbindungen (K) und PCP-Na, denen zur Fixierung im Holz Chromverbindungen (C) beigegeben werden. In neueren Holzschutzmitteln werden Alylammonium, Kupfer-HDO und Tridemorph (TFB) verwendet.

    2. Lösemittelhaltige Holzschutzmittel

    enthalten verschiedene in Lösemitteln gelöste Pilz- und Insektengifte, welche leicht ins Holz eindringen können. Aufgrund ihrer hohen Effektivität liegt der Wirkstoffanteil lediglich zwischen ca. 0,2 bis 5,0% Die Präparate sind leicht zu verarbeiten und können, neben anderen Hilfsstoffen, Farbpigmente enthalten, welche das Holz dekorativ anfärben. Folgende Wirkstoffe werden - meist in Kombination - verwendet:

    - Fungizide (Wirkstoffe gegen Pilzbefall) Carbendazim, Chlorthalonil, Dichlorfluanid, DDT, Furmecyclox (Xylasan B, Xyligen B), Pentachlorphe-nol, Phenylquecksilberoleat, Propioconazole, Tebu-conazole, Troysan Polyphase, Tributylzinnbenzoat, -naphtenat, Tributylzinnoxid, Xylasan AL, Xyligen AL (Aluminium-HDO), Xyligen K (Kupfer-HDO).- Insektizide (Wirkstoffe gegen Insektenbefall)Baycarb (Carbamate), Endosulfan (Mergal IB 45, IB 50), Ethylparation, Lindan, Phoxim, Piperonylbut-oxid, synthetische Pyrethroide (Cyfluthrin, Delta-methrin, Permethrin und weitere).

    - Hinweis: Pentachlorphenolhaltige Holzschutzmittel werden seit Anfang der achtziger Jahre nicht mehr produziert. Die Verwendung von PCP, einer der wesentlichsten Eintragsquellen von hochgiftigen Dioxi-nen, ist seit 1989 gesetzlich verboten.2 Der Einsatz von DDT ist in der Bundesrepublik Deutschland seit 1972 zum Schutz von Mensch und Umwelt verboten. In der ehemaligen DDR wurde DDT jedoch bis zum Ende des Staates sowohl in der Landwirtschaft als auch in Holzschutzmitteln eingesetzt.

    Die wichtigsten Holzschutzmittelquellen sind tragende und maßhaltige Holzkonstruktionen sowie nichttragende Holzverkleidungen und Holzböden im Innen- und Außenbereich.Fungizide Wirkstoffe sind aber auch in manchen Lacken und Dispersionsfarben als sogenannte »Topf-konservierer« enthalten, damit die Farbe nicht schon in der Dose schimmelt. Fungizide werden darüber hinaus auch in Fugendichtungsmassen zur Verhütung der späteren Schimmelbildung auf der Fuge eingesetzt.

    3. Steinkohlenteerölpräparate

    (bekannt als Karbolineum) stellen ein wildes Gemisch hochgiftiger, krebserzeugender und erbgutverändernder Wirkstoffe dar, die aufgrund ihres aufdringlichen Eigengeruchs meist im Außenbereich, zum Teil — aus Unkenntnis — aber auch im Innenbereich verwendet wurden. Die am 27.9.1991 in Kraft getretene Teerölverordnung verbietet unter anderem den Verkauf und die Verwendung von Steinkohlenteerölpräparaten im privaten Bereich.3


    Lösemittel

    Die hauptsächlichsten Ausgasungsquellen von Lösemitteln sind (neben Holzschutzmitteln) Lacke, Lasuren, Dispersionsfarben und Klebstoffe. Handelsübliche Farben und Lacke enthalten, je nach Einsatzbereich, eine Vielzahl unterschiedlicher Wirk- und Hilfsstoffe, nach deren Angabe man auf den farbenfroh gestalteten Dosen und Eimern allerdings vergeblich sucht. In der folgenden Übersicht werden die verschiedenen Lacktypen, ihre Einsatzbereiche und Inhaltsstoffe erläutert.4

    Acrylharzfarben und -lacke

    Diese Lacke schmücken sich oft mit dem Signet des blauen »Umweltengels«, enthalten aber neben Lösemitteln und anderen Stoffen auch Fungizide.

    Eigenschaften: Schnell trocknend, wasserverdünnbar.

    Anwendung: Gesamter Heimwerkerbereich, Wand- undFassadenfarbe.

    Gefahren: Bis ca. 6,0% Lösemittelanteil; bis zu0,5% Wirkstoffe gegen Schimmelbildung

    Chlorkautschuklacke

    Diese Lacke sind auch als »Bootslacke« bekannt und werden für den Innen- und Außenanstrich von Booten und Schiffen verwendet. Chlorkautschuklacke enthalten sowohl äußerst giftige Lösemittel als auch sogenannte »Antifoulings«, Wirkstoffe, die den Befall eines Bootes mit Algen und/oder Muscheln verhindern.
     

    Eigenschaften:

    Besonders beständig gegen Wasser und gegen Chemikalien.

    Anwendung:

    Boots- und Schiffsanstriche. Im häuslichen Bereich fälschlich als ein Lack empfohlen, durch den Ausgasungen von Holzschutzmitteln aus behandelten Hölzern unterbunden werden können.

    Gefahren:

    Enthält oft besonders giftige Lösemittel wie zum Beispiel Tetrachlorkohlenstoff.

    Kunstharz- und Alkydharzlacke

    Eigenschaften:
    Hohe Elastizität und Oberflächenhärte.Anwendung: Überwiegend im Heimwerkerbereich.

    Gefahren:
    Ca. 40% Lösemittel (Testbenzin), schwermetallhaltige Trockenstoffe.

    Kunststofflacke:

    Unter dieser Bezeichnung wird eine Vielzahl sogenannter Reaktionslacke verstanden, die eines gemeinsam haben: den hohen Anteil aromatischer Lösemittel. So zum Beispiel Toluol, Xylol und/oder Lösemittel auf der Basis chlorierter Kohlenwasserstoffe wie z. B. Epichlor-hydrin, Methylenchlorid, Tetrachlorkohlenstoff, 1,1,1-Trichlorethan, l ,1,2-Trichlorethylen.

    1. Phenolharz-, Harnstoff-, Melaminharzlacke:

    Eigenschaften:
    Sehr beständig gegen chemische und mechanische Beanspruchung.
    Anwendung: Vorwiegend Parkettversiegelungen, Möbel etc.

    Gefahren:
    Ca. 50% Lösemittel (Toluol, Xylol).Formaldehyd wird abgespalten und gast aus.

    2. Polyurethanlacke (DD-Lacke), Epoxidharz-, Polyesterlacke:

    Eigenschaften:
    Sehr harte Oberfläche.

    Anwendung:
    Auf Holz, überwiegend im gewerblichen Bereich.

    Gefahren:
    Zum Teil hoher Gehalt an Lösemitteln(z. B. Epichlorhydrin in Epoxidharzlacken) oder Isocyanaten in DD-Lacken.

    3. Nitrolacke

    Diese äußerst schnell trocknenden Lacke enthalten die höchsten Lösemittelanteile und werden praktisch universell eingesetzt.

    Eigenschaften:
    Schnell trocknend.

    Anwendung:
    Spritzen und Streichen. Für Holz und Metall.

    Gefahren:
    Über 70% Lösemittel (Ethylacetat, Toluol und/oder andere).

    4. Spirituslacke

    Eigenschaften:
    Schnelltrocknend.

    Anwendung:
    Überwiegend im Modellbau.

    Gefahren:
    Der als Lösemittel verwendete Spiritus ist als wenig gesundheitsgefahrdend zu bezeichnen.

    5. Naturharzlacke, Naturharzdispersionsfarben

    Farben und Lacke auf Naturharzbasis enthalten keine industriell gefertigten chemischen Substanzen. Verwendet werden reine Naturstoffe wie zum Beispiel Pflanzenharze, -öle, -wachse und -leime, Balsamterpentinöle, Zitrusschalenöle, Bienenwachs, Schellack, Kalk, Kreide, Talkum usw.

    Eigenschaften:
    Bei der Verarbeitung inzwischen ähnlich einfach zu handhaben wie Industrieprodukte. Zum Teil etwas längere Trockenzeiten.

    Anwendung:
    Für alle Materialien im Innen- und Außenbereich.

    Gefahren:
    Bei bestehenden Allergien gegen einige Naturstoffe körperliche Reaktionen möglich.

    Pyrethroide

    Pyrethrum ist ein seit Jahrhunderten bekanntes Mittel gegen Mücken, Motten, Wanzen und andere Plagegeister. Das Insektizid aus pulverisierten Chrysanthemenblüten besitzt eine hohe spezifische Wirksamkeit gegen Insekten, ist für Mensch und Tier fast völlig unschädlich und zerfällt innerhalb weniger Tage rückstandslos. Pyrethrum ist eben ein echtes Naturprodukt.

    Die hohe Flüchtigkeit und der damit verbundene schnelle Wirkungsverlust wurde den neuen, chemisch erzeugten Pyrethroiden gründlich ausgetrieben - sie werden erst nach Jahrhunderten abgebaut. Der wesentlichste Unterschied zum natürlichen Pyrethrum besteht aber darin, daß synthetische Pyrethroide nicht nur Insekten töten, sondern auch zu den stärksten bekannten Giften für Mensch und Tier gehören.

    Zur Substanzgruppe der Pyrethroide gehören über 1000 unterschiedliche Verbindungen. Die bekanntesten Vertreter sind Cypermethrin, Deltamethrin und Permethrin.

    Ursprünglich in der Landwirtschaft eingesetzt, haben Pyrethroide inzwischen auch den privaten Lebensbereich des Menschen erreicht: Teppichböden und Auslegeware mit dem Wollsiegel erhalten nur das begehrte Gütezeichen, wenn sie mit Pyrethroiden gegen Käfer-und Mottenbefall behandelt wurden. Pyrethroide sind in Holzschutzmitteln zur vorbeugenden und bekämpfenden Behandlung von tragenden und maßhaltigen Holzbauteilen sowie im »Holzwurmtod« gegen Insektenbefall von Antiquitäten. Pyrethroide verseuchen die In-nenraumluft aus Elektroverdampfern, sind in Fliegen-und Mückensprays enthalten und werden von Schäd-lingsbekämpfern in Privathäusern, Kindergärten, Flüchtlingsheimen, Kaufhäusern, Krankenhaus- und Betriebsküchen, Flugzeugen usw., usw. verspritzt und versprüht.

    Die unsichtbare Vergiftung

    Erkrankungen durch Innenraumgifte

    Holzschutzmittel enthielten bis in die achtziger Jahre das Pilzgift Pentachlorphenol (PCP) und enthalten bis heute noch das Insektengift Lindan. Beide Wirkstoffe sind produktionsbedingt mehr oder weniger mit sogenannten »technischen Verunreinigungen« durch zahlreiche hochgiftige chlorierte Phenole, polychlorierte Dibenzo-p-Dioxine (PCDD) und Furane (PCDF) verseucht.

    Als gefährlich erweisen sich auch die in heutigen Mitteln eingesetzten Wirkstoffe wie z. B. Carbamate, Chlorthalonil (Verdacht auf krebserregende Wirkung), Dichlorfluanid (sehr giftig beim Einatmen), Furmecyclox (krebserregend), synthetische Pyrethroide (unheilbare Nervenschädigungen möglich) sowie weitere Stoffe, deren gesundheitliche Auswirkungen überhaupt nicht erforscht sind.

    Giften wie Formaldehyd, Holzschutzmitteln, Pyrethroiden und Lösemitteln ist eines gemeinsam: kleinste Mengen, jahre-, jahrzehntelang aufgenommen, bewirken beim Menschen eine Fülle völlig unspezifischer Erkrankungen. Bei der Aufnahme mehrerer Gifte verstärkt sich deren Wirkung zu einem toxikologischen Doppelschlag: PCP, zum Beispiel, wirkt in Anwesenheit von Formaldehyd drei- bis viermal toxischer. Erkrankungen durch chronisch-inhalative Aufnahme von Giften können sich in einer Vielzahl von Symptomenkomplexen äußern:

    Internistisch/immunologisch: Augenbrennen, Gesichtsschwellungen, Schwellungender Extremitäten, Chlorakne, Hautjucken, vermehrtes Schwitzen, Magen-Darm-Beschwerden, erhöhte Leberwerte, Schmerzen der Nieren- und Milzregion, Fieber-schübe, Infektanfälligkeit, chronische Bronchitis, Asthma, Allergien, Blutungsneigung, rheumatische Erkrankungen, Haarausfall.

    II. Neurologisch: Kopfschmerzen, Schwindelerscheinungen, Zittern der Gliedmaßen, Kribbel- und Kältegefühl in den Extremitäten, Verlust des Tast- und Geruchssinns, Sprachstörungen, Wortfmdungsstörungen.

    Psychiatrisch: Antriebsstörungen, depressive Verstimmungen, Konzentrationsstörungen, innere Unruhe, Reizbarkeit, Aggressivität, Angstzustände, Schlafstörungen. Beobachtet wurden auch Krebserkrankungen, Leukämie, aplastische Anämie, amyotrophe Lateralsklerose sowie vielfältige gynäkologische Beschwerden, Fehlgeburten und Mißbildungen bei Kindern. Einige der Gesundheitsschädigungen sind irreversibel. Langzeitschäden, wie zum Beispiel Hypersensibilisie-rung gegenüber natürlichen und chemischen Stoffen, sind bei vielen Betroffenen bereits eingetreten.

    Der Nachweis von Giftstoffen

    Formaldehyd, Lösemittel und biozide Wirkstoffe (z. B. Holzschutzmittelinhaltsstoffe) lassen sich grundsätzlich sowohl in Materialproben (Textilien, Holz, Hausstaub) und der Raumluft als auch in Humanproben (Blut und/oder Urin) nachweisen.

    I. Raumluft

    Zum Nachweis der Gifte in der Raumluft sind sogenannte »Passivsammler« geeignet, die für eine bestimmte Zeit in der Raummitte aufgehängt werden. Passivsammler werden auf Anfrage von speziellen Instituten zur Analyse von Schadstoffen zugeschickt. Nach erfolgter Messung wird das Gerät dem Institut in der mitgelieferten Verpackung zurückgeschickt, dort ausgewertet und dem Auftraggeber das Ergebnis schriftlich mitgeteilt. Für den sicheren Nachweis eines Zusammenhanges zwischen einer Raumluftbelastung und Gesundheitsschäden ist diese Meßmethode jedoch nicht zuverlässig genug.

    Während die mit Passivsammlern erzielten Ergebnisse zur Feststellung einer Schadstoffbelastung noch ausreichend genau sind, ist der Nachweis von Schadstoffkonzentrationen in der Raumluft durch sogenannte »Gasspürpumpen«, besser als »Dräger-Röhrchen« bekannt, so unzuverlässig und ungenau, daß auf diese Methode völlig verzichtet werden sollte.

    2. Materialproben

    Der beste Indikator für Schadstoffbelastungen im Innenbereich ist der Hausstaub. Die Probenahme erfolgt durch normales, gründliches Staubsaugen, nachdem ein neuer Staubbeutel eingelegt wurde. Beutel mit Inhalt werden anschließend in Alufolie gewickelt, versandfertig gemacht und zur Analyse an ein Institut verschickt.

    3. Blut- und Urinproben

    Die körperliche Belastung mit Schadstoffen ist durch Analysen von Blut- und/oder Urinproben feststellbar. Giftstoffe haben eine unterschiedliche Verweildauer (Halbwertszeit) im menschlichen Organismus und werden nach ungefähr drei bis vier Wochen fast vollständig abgebaut. Daher müssen die Proben zum Zeitpunkt der unmittelbaren Belastung entnommen werden. Blutproben werden vom behandelnden Arzt entnommen. Für die Probenanalyse stellen darauf spezialisierte Institute dem Arzt analytisch hochreine Gefäße zum Versand zur Verfügung.Pyrethroide und Formaldehyd lassen sich im Blut analytisch nicht nachweisen.Formaldehyd wird im Organismus in Ameisensäure umgewandelt (metabolisiert), die nur im Urin nachweisbar ist. Auch Pyrethroidbelastungen lassen sich nur anhand von Metaboliten im Urin feststellen. Zum Schadstoffnachweis am besten geeignet sind Proben von Wochenurin.

    Hinweis:
    Weiterführende Informationen zu Art und Umfang von Proben sowie Anschriften von sachkundigen analysierenden Instituten können bei den im Anhang aufgeführten Verbänden angefordert werden.

    Die Grenzwerte von Schadstoffen

    Für Innenraumluftbelastungen existieren keine gesetzlich verbindlichen Grenzwerte. Das ehemalige Bundesgesundheitsamt (BGA), heute Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgW), empfiehlt jedoch für einige Giftstoffe sogenannte Maximale Raumluftkonzentrationen (MRK), bei denen nach Meinung der Behörde keine gesundheitlichen Schädigungen zu befürchten sind. Abgesehen davon, daß das Ergebnis von Schadstoffanalysen in der Raumluft von vielen verschiedenen Faktoren (Raumtemperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftwechselrate usw.) abhängig und dazu sehr aufwendig und entsprechend teuer ist, sind diese Empfehlungen des BgW nach neuestem Stand der Wissenschaft viel zu hoch angesetzt und besitzen keinen gesetzlich bindenden Charakter. In Tabelle l sind MRK-Werte des BGA für einige Schadstoffe wiedergegeben.

    Tabelle l
    MRK-Werte von Schadstoffen in der Raumluft und im Hausstaub (BGA)

    Wirkstoff Lindan PCP Dichlorfluanid Pyrethroide Formaldehyd
    Raumluft 1,0 mcg/ m3 1,0 mcg/m3 100,00 mcg/m3
    -
    0,1 ppm
    Hausstaub
    -
    -
    -
    1,0 ppm

    Quelle: BGA

    In Tabelle 2 sind demgegenüber die gerade noch hinnehmbaren Belastungen verschiedener Schadstoffe im Blut, Urin, in Materialien und in der Raumluft dargestellt.

    Tabelle 2
    Duldbare Hintergrundbelastung von Schadstoffen in Human-, Material- und Raumluftproben

    Wirkstoff Lindan PCP Dichlorfluanid Pyrethroide Formaldehyd
    Raumluft 0,02 mcg/m3 0,1-0,2 mcg/m3 1,5 mcg/m3 < 1 ng/m3 0,025 ppm
    Hausstaub 0,02 mg/kg 0,1 mg/kg
    -
    0,1 ppm
    -
    Holz 0,1 mg/kg 0,5 mg/kg
    -
    -
    -
    Blut bis 0,08 mcg/l bis 5,0 mcg/l
    -
    n. n. n. n.
    Urin n. n. 1) - 0,5-1 mcg/l
    2)
    <15,0 mcg/g
    3)

    Quelle: Interessengemeinschaft der Holzschutzmittel-Geschädigten 1995

    Erläuterungen:
    - = Nicht bekannt;
    n. n. = Nicht nachweisbar;
    < = kleiner als
    1) = Nachweis im Urin möglich, aber nicht empfehlenswert.
    2) = Konzentration von CI2CA- und PBA-Metaboliten unter Nachweisgrenze
    3) = Ameisensäure im Urin bezogen auf Kreatinin.

    Weitere nachzuprüfende Werte im Urin:
    Methanol = < 2,0 mg/g Kreatinin,
    Kreatinin im Urin = 1,0-2,5 g/l
    Spezifisches Gewicht im Urin = 1.015-1.032
    mcg = 1000 Mikrogramm (mcg) entsprechen 1 Milligramm (mg)
    ng = 1000 Nanogramm (ng) entsprechen 1 Mikrogramm (mcg)
    ppm = Part per million. 1 ppm entspricht 1 mg/kg bzw. 1,2 mg Formaldehyd/m Luft

     

    Die Sanierung schadstoffbelasteter Wohnungen und Häuser

    Wer Holzschutzmittel verstreicht, vermutet die Giftstoffe im Holz. Das stimmt aber leider nicht. Ein großer Teil wird bereits während des Verstreichens und der Verdunstung der in den Mitteln enthaltenen Lösemittel freigesetzt.Während die meisten Lösemittel nach einigen Tagen vollständig ausgegast sind, können Holzschutzmittelinhaltsstoffe noch einige Jahrhunderte an die Raumluft abgegeben werden, sich an Einrichtungsgegenständen, Textilien usw. anlagern und von dort wiederum freigesetzt werden. Im Laufe der Jahre verringert sich die Menge der Giftemissionen, so daß die in Tabelle l wiedergegebenen Schadstoffwerte des BGA weit unterschritten werden. Sanierungsmaßnahmen sind aber für chronisch vergiftete Menschen, bei entsprechenden Empfindlichkeiten und insbesondere für ältere Menschen und Kinder bei höheren als den in Tabelle 2 aufgeführten Konzentrationen dringend erforderlich.

    Sinnvolle Maßnahmen

    1. Holzschutzmittel und Pyrethroide:

    • Da es keine Möglichkeit gibt, Holzschutzmittel aus behandelten Hölzern zu entfernen, müssen alle im Innenbereich damit gestrichenen Wand-, Decken-und Bodenverkleidungen sowie mit »Holzwurmtod« behandelte Antiquitäten und Möbel aus der Wohnung herausgenommen werden.
    • Tragende Holzkonstruktionen, wie z. B. Holzbalken und -Ständer, können mit starker Aluminiumfolie kaschiert werden, welche die ständige Ausgasung von Giften verhindert. Die anschließende Verkleidung der Balken mit Gipskartonplatten oder »unbehandelten« Hölzern gewährleistet ein gesundes Raumklima und sorgt für ein gutes Aussehen.
    • In Sitzgarnituren mit textilen Bezügen dringen die Gifte bis tief in die Polsterung ein. Sie sind daher nicht zu sanieren und müssen entfernt werden. Das gilt ganz besonders für Garnituren mit Bezügen aus Leder, das in den meisten Fällen bereits während der Verarbeitung und für den Transport mit Giften wie PCP (Pentachlorphenol) gegen Schimmelbefall behandelt wird.
    • Entfernt werden müssen unter anderem auch: Verspannte und/oder verklebte Teppichböden, die durch Holzschutzmittel kontaminiert (verseucht) oder mit Pyrethroiden behandelt wurden, und lose verlegte, mit Pyrethroiden behandelte Teppiche sowie
    • Zeitungen, Bücher, Tapeten — kurz, alle langfristig kontaminierten Papiere.
    • Kontaminierte Gardinen, Vorhänge, Kleidungsstücke,  Wäsche, Plüschtiere usw. können durch mehrmaliges Waschen (Waschmaschine) oder durch eine chemische Reinigung gesäubert werden.
    • Nach einer Schädlingsbekämpfungsmaßnahme mit pyrethroidhaltigen Mitteln im Innenbereich sind besondere Maßnahmen erforderlich (Informationen bei der IPG. Adresse siehe Seite 297-300).
    2. Formaldehyd, Farben und Lacke:
    • Wand-, Boden- und Deckenverkleidungen aus gestrichenen, tapezierten oder mit Teppichboden beklebten Spanplatten müssen entfernt werden.
    • Bei Möbeln aus kunststoff- oder holzfurnierten Spanplatten kann die Formaldehydausgasung durch Verschließen aller unfurnierten Kanten, Rück- und Innenwände von Schrankkorpus, Böden, Schubladen usw. sowie der offenen Bohrlöcher für die Befestigung von Regalböden mit selbstklebender Alufolie verhindert werden.
    • Kunststofflacke auf der Basis von Phenol, Harnstoffoder Melaminharzen sowie Polyurethan-, Epoxidharz- und Polyesterlacken müssen abgeschliffen werden.

    3. Verminderung (Maskierung) von Schadstoffemissionen

    Zur Verminderung von Schadstoffausgasungen behandelter Hölzer oder Spanplatten sind handelsübliche Lacke, ganz gleich ob wasserlöslich oder nicht, völlig ungeeignet: Während des Lackauftrags werden die Gifte durch die im Lack enthaltenen Lösemittel mobilisiert und gasen während der Trocknungsphase vermehrt aus. Holz trägt durch seine Eigenschaft, Feuchtigkeit aufzunehmen und wieder abzugeben, ganz wesentlich zu einem gesunden Wohnklima bei. Bei der Aufnahme von Feuchtigkeit dehnt es sich aus und zieht sich bei der Abgabe wieder zusammen. Dadurch entstehen an der relativ starren Lackoberfläche bereits nach kurzer Zeit Risse, durch die Schadstoffe austreten können. Darüber hinaus durchdringen die Gifte die Lackschicht nach einiger Zeit und gasen von dort wieder unvermindert aus.

    Seit einigen Jahren werden speziell zur Verminderung von Schadstoffausgasungen in Innenräumen entwickelte Lacksysteme angeboten, die bis zu 99% der Giftausgasungen zurückhalten sollen. Diese Lacksysteme können nicht selbst aufgetragen werden, sondern nur von speziell geschulten Handwerkern. Die Anwendung dieser Systeme ist daher entsprechend teuer. Da eine Garantie für die Dauer des Rückhaltevermögens von Herstellern bzw. Vertreibern der Mittel nicht gegeben wird, ist die Anwendung nur in besonderen Fällen zu empfehlen.

    Die Notwendigkeit und die Folgen von Sanierungsmaßnahmen

    1. Gesundheit

    Die einzige wirkungsvolle Therapie bei Erkrankungen durch Schadstoffausgasungen im Innenbereich besteht in einer sorgfältigen Sanierung des gesamten Wohnumfeldes, das heißt der Entfernung aller Schadstoffquellen und der strikten Meidung chemischer Wirkstoffe. Sachkundige Ärzte wissen das und empfehlen bei chronischen Vergiftungen medizinische Maßnahmen nur als Hilfsmittel zur Regenerierung des geschwächten Immunsystems, der gestörten Körper- und Organfunktionen und zur langsamen Entgiftung des gesamten Organismus. Die Maßnahmen auf einen Blick:

    • Expositionen vermeiden
    • Entsäuerung
    • vermehrte Harnausscheidung
    • antioxidative Therapie durch Vitamingaben
    • Stärkung des Immunsystems
    • Ölkur
    • bei Bedarf: Darmsanierung
    • keine akute Gewichtsreduktion
    • Vermeidung zusätzlicher Belastungen6

    Bei den meisten Betroffenen klingen die gesundheitlichen Beschwerden nach einer umfassenden Grundsanierung langsam ab, Wohlbefinden, Lebensmut und die gewohnte Spannkraft kehren zurück.

    2. Kosten

    Sanierungsmaßnahmen sind unter Umständen mit erheblichen Kosten verbunden. Vor der Durchführung ist daher zu bedenken, daß finanzielle Aufwendungen unter bestimmten Voraussetzungen steuerlich absetzbar sind.

    Voraussetzungen für die steuerliche Absetzbarkeit von Sanierungsmaßnahmen

    Die aufgewendeten Kosten für Sanierungsmaßnahmen in holzschutzmittel- und/oder formaldehydverseuchten Wohnungen und Häusern können laut Abschnitt 189 der Einkommensteuer- Richtlinien nach § 33 EStG als außergewöhnliche Belastung geltend gemacht werden. Zur Anerkennung der aufgewendeten Kosten durch die Finanzämter sind die folgenden Bedingungen unbedingt einzuhalten:

    • Zum Nachweis eines bereits eingetretenen oder konkret zu befürchtenden gesundheitlichen Schadens ist eine Bescheinigung des Hausarztes erforderlich.
    • Der Zusammenhang der Gesundheitsgefährdung mit den Ausgasungen ist durch ein Gutachten des Technischen Überwachungsvereins TÜV oder durch andere qualifizierte Gutachter zu erbringen. Das Gutachten muß genaue Angaben zu den kontaminierten Teilen sowie über Art und Umfang der erforderlichen Sanierungsmaßnahmen enthalten. Die Kosten des Gutachtens können ebenfalls als außergewöhnliche Belastung geltend gemacht werden.
    • Bei umfangreichen Sanierungsmaßnahmen, das heißt, wenn ganze Teile eines Gebäudes zerlegt und vergiftete Teile ausgetauscht werden, soll der Sanierungsplan eines Architekten vorgelegt werden.
    • Nicht ausreichend sind Gutachten, bei denen lediglich anhand von Materialproben die Verwendung von Holzschutzmitteln, die schädigende Substanzen enthalten, nachgewiesen wird.
    • Vor Beginn der Sanierungsmaßnahmen ist ein Gespräch mit dem zuständigen Sachbearbeiter des zuständigen Finanzamtes über die aufgeführten Punkte, insbesondere aber zur Frage des Gutachters, dringend zu empfehlen (weiterführende Informationen, Anschriften sachkundiger Ärzte und analysierender Institute sind bei der IHG e. V. erhältlich; siehe Adresse Seite 298). 

    3. Schadenersatzforderungen

    Durch Sanierungsmaßnahmen werden die für Schadenersatzklagen gegen Holzschutzmittelhersteller oder Handwerker notwendigen Beweismittel (mit Holzschutzmitteln behandelte Hölzer, kontaminierte Einrichtungsgegenstände, Textilien usw.) durch Entfernen beziehungsweise Reinigen zwangsläufig vernichtet. Es empfiehlt sich daher im einzelnen wie folgt vorzugehen:

    Mietwohnungen:
    Schadstoffausgasungen stellen einen ganz erheblichen Mangel von gemieteten Wohnungen oder Häusern dar, der zur Minderung der Miete führt und unter Umständen zur fristlosen Kündigung des Mietverhältnisses berechtigt.Vor der Einleitung rechtlicher Schritte gegen den Vermieter ist folgendes Vorgehen empfehlenswert:

    • Fordern Sie den Vermieter auf, den bestehenden »Mangel« des Mietobjektes (zum Beispiel Ausgasungen von PCP, Lindan oder Formaldehyd) umgehend zu beseitigen.
    • Weisen Sie darauf hin, daß Sie bis zur Mängelbehebung eine Mietminderung (ca. 50%) vornehmen und die Differenz bis zu einer umfassenden »Sanierung« auf ein Sonderkonto überweisen werden.
    • Weisen Sie weiter darauf hin, daß Sie im Falle einer Weigerung umgehend ein gerichtliches Beweisverfahren einleiten werden, dessen Kosten im Falle, daß das Gericht Ihnen Recht gibt, vom Vermieter zu tragen sind
    • Hinweis: In diesem sogenannten selbständigen Beweisverfahren wird das zuständige Amts- oder Landgericht gebeten, einen Gutachter mit der Messung von Schadstoffkonzentrationen in der Mietwohnung  zu beauftragen und ein Urteil darüber zu fällen, ob die Schadstoffkonzentrationen geeignet sind, gesundheitliche Schädigungen hervorzurufen. 
    Die rechtlichen Gründe für die Mietkürzung folgen aus dem Kommentar zum § 539 BGB, der besagt: »... bereits die bloße Vermutung eines Mangels (hier Gesundheitsbeeinträchtigungen) reicht schon aus, um dem Mieter zur Durchsetzung von Ansprüchen die Pflicht aufzuerlegen, zumindest den Mietzins unter Vorbehalt zu zahlen«.

    Diese Hinweise sind unbedingt zu bedenken, zumal ein Gericht im konkreten Fall in der zweiten Instanz die Schadenersatzklage eines Mieters, der in der ersten Instanz obsiegt hatte, nur aus dem Grunde abschlägig beschied, weil er die Miete nicht bereits bei der ersten Vermutung eines Mangels der Wohnung (hier: Gesundheitsgefährdung durch Holzschutzmittel) kürzte. (LG Bielefeld, Az. 2 S 707/90 vom 19. 6. 1991.)

    Wohnungseigentum:
    Die Beweislast in Schadenersatzklagen liegt bei dem Kläger. Ein solches Verfahren kann daher nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn eine Erkrankung durch chemische Stoffe eindeutig auf die giftigen Inhaltsstoffe der im Innenbereich verwendeten Mittel zurückgeführt und andere Ursachen ausgeschlossen werden können.

    Zur eigenen Sicherheit sind daher Schadstoffuntersuchungen empfehlenswert, auch wenn die Untersuchungsergebnisse von Schadstoffbelastungen in Materialien, Hausstaub und der Raumluft von der Gegenseite im Verfahren grundsätzlich nicht anerkannt werden. Eine Ausnahme hiervon stellen jedoch die Ergebnisse von Schadstoffkonzentrationen im Blut oder im Urin dar, sofern die Analyse der Humanproben durch ein renommiertes Institut erfolgte.

    Der Nachweis von Schadstoffquellen und die Höhe der Belastungen in Wohnungen und Häusern erfolgt, wie auch in Mietverfahren, durch ein »selbständiges Beweisverfahren«. Während der Schadstoffmessungen durch einen vom Gericht benannten Gutachter haben die Beklagten (Holzschutzmittelhersteller, Handwerker) das Recht, anwesend zu sein. Liegen die Untersuchungsergebnisse vor, wird das Gericht einen weiteren Sachverständigen mit einem medizinisch-toxikologischen Gutachten beauftragen, um festzustellen, ob die nachgewiesenen Belastungen Ursache der aufgetretenen Erkrankungen sein können.

    An der Person des Gutachters können sich die größten Kontroversen zwischen den Parteien entzünden. Das liegt in der Natur der Sache, da Gerichte in der Regel keine Erfahrung mit solchen Gutachtern haben, die Geschädigten einen als industriefreundlich bekannten Sachverständigen natürlich ablehnen werden, die Beklagten aber gegen fast alle kompetenten und sachkundigen Gutachter, die nicht ihrem Einfluß unterliegen, Einspruch erheben.

    Dienstwohnungen, öffentliche Einrichtungen: Bei Schadstoffbelastungen in Dienstwohnungen (z. B. Forst- oder Pfarrhäusern) und öffentlichen Einrichtungen wie z. B. Behörden, Bibliotheken, Schulen, Kindergärten oder Kindertagesstätten ist der Dienstherr verpflichtet, Untersuchungen zu veranlassen und bei nicht mehr tolerierbaren Schadstoffkonzentrationen umgehend Sanierungsmaßnahmen durchzuführen oder eine unbelastete Wohnung zur Verfügung zu stellen. Im Falle einer Weigerung bzw. bei nicht sachgerechter Beurteilung der Situation kann der Geschädigte eine Klage gegen den Dienstherrn vor dem zuständigen Verwaltungsgericht einleiten.

    In derartigen Verfahren wird allerdings der Geschädigte selbst nicht gehört, sondern durch den Dienstherrn vertreten. Ein Erfolg der Klage ist in den meisten Fällen nur bei übereinstimmender Auffassung der Situation durch den Geschädigten und dessen Dienstherrn gegeben. Ausnahmen bestätigen aber auch hier die Regel.- Empfehlung: Erscheint die Durchsetzung berechtigter Ansprüche auf dem Klageweg aussichtslos, ist die Einschaltung öffentlicher Medien (Tageszeitung, regionale Rundfunk- und Fernsehanstalten) ein geeigneter Weg, Druck auf Verantwortliche auszuüben.

    Arbeitsplatz: Hinweise zum Vorgehen bei Erkrankungen durch den Umgang mit giftigen Arbeitsstoffen können aufgrund der in jedem Einzelfall unterschiedlichen Gegebenheiten an dieser Stelle nicht gegeben werden. Weiterführende Informationen und Hilfe erhalten Betroffene von den unten genannten Verbänden.

    Anschriften von Verbänden

    Weiterführende Informationen zu den Themenbereichen Holzschutzmittel, Lösemittel, Pyrethroide, Formaldehyd usw., Sanierungsmaßnahmen, rechtlichen Fragen sowie Anschriften sachkundiger Ärzte, analysierender Institute, Rechtsanwälte usw. sind bei der Interessengemeinschaft der Holzschutzmittel-Geschädigten e. V. (IHG), der Interessengemeinschaft Pyrethroid-Geschädigter (IPG) und dem Verband arbeits- und berufsbedingt Erkrankter (AbeKra) zu erhalten. (Adressen siehe Seite 295-296) Diese Verbände haben bundesweit Kontaktstellen, die auf Anfrage mitgeteilt werden.

     

    Anmerkungen

    1) Luftverunreinigungen in Innenräumen. Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen. Deutscher Bundestag, Drucksache 11/613 vom 15. 7. 1987

    2.) Pentachlorphenol-Verbotsverordnung, rechtskräftig seit 12.12.1989

    3.) Teeröl-Verbotsverordnung, rechtskräftig seit 27.9.1991

    4.) Chemie im Haushalt. Reinbek, 1984; Kursawa-Stucke, H.-J., Schröder, H.-P.: Bio contra Chemie? Farben, Lacke, Holzschutzmittel und Klebstoffe. Stiftung Verbraucherinstitut Berlin, 1986

    5.) Siehe hierzu: Müller-Mohnssen, H.: »Wem nutzen Falschaussagen wissenschaftlicher Experten?« In: Bultmann, A., Schmithals, F. (Hrsg.): Käufliche Wissenschaft. München 1994

    6.) Gerhard, I. et al.: »Therapeutische Empfehlungen bei PCP-Belastung«. In: Reader Chemikalien-Vergiftungen. IHG Eigenverlag, Engelskirchen 1995

     

    IX  Anhang 2

    Klaus-Peter Böge

    Schadstoffe in unserem Wohnumfeld

    Erschreckend sind die Zahlen, die uns die Forschung und die Produzenten von Chemikalien oder chemischen Produkten liefern.

    Es gibt Millionen von Chemikalien oder Verbindungen, und fast täglich kommen Tausende hinzu. Nicht nur, daß ein Außenstehender mit den Inhaltsstoffen seiner gekauften Produkte und möglicher giftiger Wirkungen nicht klarkommt, sondern auch die weltweite Toxikologie kann nur selten Informationen über eine mögliche gesundheitsschädigende Wirkung geben. Noch aussichtsloser wird es, wenn nicht nur Einzelstoffe, sondern Stoffgemische beurteilt werden sollen.

    • Kraftfahrzeuge zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft, Müllverbrennungsanlagen, Industrie und Gewerbeanlagen usw. usw. sind die häufigsten Emittenten von Luftschadstoffen, die sich nicht nur unmittelbar in der Umgebung niederschlagen, sondern zu einer stetigen Schadstoffanreicherung auf der Erde und in der Atmosphäre führen.
    • Ein unermeßliches Feld eröffnet sich Fachleuten wie interessierten Laien, die sich mit Schadstoffen in Nahrungsmitteln, Kleidungsstücken, Kinderspielzeug, Reinigungsmitteln oder Körperpflegemitteln beschäftigen.
    • Immer häufiger werden Fremdstoffe in unser Wohnumfeld eingeschleppt und als Ursache für Erkrankungen des Immunsystems, des Nervensystems, der Haut und der Schleimhäute erkannt. Beim Neubau, vor allem aber bei Renovierungsarbeiten wurden und werden Baustoffe eingesetzt, die leichtflüchtige Verbindungen entweder bei der Verarbeitung oder noch lange Zeit danach in die Wohnraumluft abgeben.

    Der toxikologischen Bewertung von Schadstoffen sind Grenzen gesetzt. Für die nicht krebserzeugenden Stoffe werden Schwellenwerte diskutiert, bei deren Unterschreitung Gesundheitsgefahren unwahrscheinlich sind. Da aber bei der Herleitung von Schwellenwerten auf Ergebnisse aus Tierversuchen zurückgegriffen werden muß, die nur unter Vorbehalt auf den Menschen übertragbar sind, sind Schwellenwerte mit Vorsicht zu genießen. Hinzu kommt, daß sich Schwellenwerte in der Regel nur auf Einzelsubstanzen beziehen und nicht berücksichtigen, daß bei gleichzeitiger Einwirkung mehrerer Schadstoffe die Wirkung des Einzelstoffs verstärkt werden kann (Kombinationseffekt). Das heißt, daß schon bei geringfügig erhöhten Schadstoffkonzentrationen im Wohnraum durch die Wechselwirkungen der Schadstoffe untereinander Gesundheitsbeeinträchtigungen auftreten können. Außerdem reagiert jedes Individuum anders auf Schadstoffe, wobei Kinder besonders empfindliche Reaktionen zeigen und deshalb auch besonders geschützt werden müssen.

    Nicht zu vernachlässigen ist auch der Geruch von Schadstoffen (zum Beispiel Teppichneugeruch, Farbgeruch), der die durch die Schadstoffe real hervorgerufenen Symptome psychisch verstärken kann.

    Aus der Sicht der Umweltambulanz ist es bei der Untersuchung des Wohnumfeldes insbesondere wichtig, sich um folgende Schadstoffe oder Schadstoffgruppen bevorzugt zu kümmern:

    1. Formaldehyd,
    2. Holzschutzmittel und andere Schädlingsbekämpfungsmittel,
    3. leichtflüchtige und schwerflüchtige Lösemittel,
    4. Pilze und Bakterien.

    In den letzten drei Jahren wurde bei mehr als viertausend dokumentierten Wohnungsberatungen für möglicherweise umweltkranke Personen in ca. dreiviertel der Fälle die wahrscheinliche Krankheitsursache unter einer der vorgenannten Substanzen entdeckt. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die wichtigsten Schadstoffe aus unserem Wohnumfeld, ihr Vorkommen und mögliche gesundheitliche Wirkungen.

    Wohngifte und ihre möglichen Auswirkungen auf die Gesundheit

    Schadstoff Vorkommen Wirkungen
    Aceton Lösungsmittel in Lacken, Klebstoffen und Kosmetika (Nagellackentferner) Schleimhautreizungen, Müdigkeit, Entzündungen der Luftwege sowie des Magen- und Darmtraktes
    Anilin Teerfarbstoffe, Fotochemikalien, Kunststoffe Schwäche, Gewichtsverlust, Appetitmangel, Müdigkeit, Haarausfall, Blaufärbung von Lippen, Nase, Ohren und Nägeln, Krebsverdacht
    Asbest Dachplatten, Fassadenelemente, Feuerschutzwände, Fußbodenbeläge, Spachtelmassen, Heizkörperverkleidungen, Dämmplatten und Dichtungen an Herden, Öfen, Kaminen und Schornsteinen krebserzeugend
    Benzine Farben, Lacke, Lösungsmittel, Putzmittel, Abbeizmittel Schleimhautreizungen
    Benzo(a)pyren zur Herstellung von Karbolineum, in Steinkohlenteer, entsteht bei Verbrennungsprozessen, z. B. Tabakrauch krebserregend
    Benzol Extraktions-, Lösungs- und Reinigungsmittel, in Kautschuk, Wachsen, Kunststoffen, Farbstoffen, Insektiziden, Tabakrauch Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Benommenheit, Krämpfe, Bewußtseinsstörungen, Haut- und Schleimhautreizungen, erbgutschädigend, krebserregend
    Bitumen Kohlenwasserstoffgemisch zum Isolieren, Beschichten und Imprägnieren, in Dachpappen, Isolierungen, Lacken, Klebern und Fugendichtungsmitteln Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel, Seh- und Hörstörungen, Hautveränderungen, im Tierversuch Krebs
    Blei Wasserleitungen, Autoabgase, alte Rostschutzfarbe erhöhter Speichelfluß, Schwächegefühl, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Erbrechen, Darmkoliken, Verstopfung, Hirnschäden (besonders bei Kindern), Zittern, Nervosität, Blässe
    Butadien zur Kautschuk- und Styrolherstellung Schleimhautreizungen, Verdacht auf krebserzeugendes Potential
    Cadmium Batterien, Farben, Kunststoffstabilisator, Tabakrauch Reizungen der Atemwege, krebserzeugend
    Carbamate Insektizide Speichel- und Tränenfluß, Schweißausbrüche, Verengung der Pupillen, beschleunigte Herztätigkeit, Atmungssteigerung, Muskelzucken, Krämpfe
    Chlornaphthalin Lösungsmittel, Schädlingsbekämpfungsmittel, in Holzschutz-, Imprägnier- und Grundiermitteln Brechreiz, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Hautausschläge
    Chloroform (Trichlormethan) Lösungsmittel für Öle, Harze und Kautschuk, Abbeizmittel Herzrhythmusstörungen, Haut- und Schleimhautreizungen, narkotisierend, Verdacht auf krebserzeugendes Potential
    Chlorthalonil Fungizid Hauterkrankungen, erhöhte Lichtempfindlichkeit, im Tierversuch krebserzeugend
    Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) Insektizid Verdacht, Krebs zu erzeugen
    1,2-Dichlorethan Lösungsmittel für Harze, Asphalt, Kautschuk, zur PVC-Herstellung, in Abbeizmitteln und Fleckenwassern Kopfschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden
    Dichlorfluanid in Lacken, Farben, Lasuren und Holzschutzmitteln Kopfschmerzen, Schwindel, Erregung, Übelkeit, Erbrechen, Blausucht, Anämie
    Dioxine / Furane Entstehung bei Verbrennung, Metallverarbeitung, Kfz-Verkehr, Tabakrauch, Papierherstellung, chemische Reinigungsanlagen Kopfschmerzen, Übelkeit, Gedächtnisstörungen, Depressionen, Schlafstörungen, leichte Ermüdbarkeit, Angstzustände, Libidoverlust, emotionale Instabilität, Chlorakne, erbgutschädigend, krebserzeugend
    Endosulfan Holzschutzmittel Reizungen der Haut, Schleimhaut und Augen, Erbrechen, Durchfall, Störungen der Bewegungskoordination, Kopfschmerzen, Benommenheit, Desorientierung, Krämpfe
    Epichlorhydrin Stabilisator in Schädlingsbekämpfungsmitteln, Lösungsmittel für Imprägnierharze, in Epoxidharzlacken und Bodendesinfektionsmitteln Übelkeit, Erbrechen, Atembeschwerden, Allergien, Haut-, Schleimhaut- und Augenreizungen, im Tierversuch krebserzeugend
    Ethylbenzol zur Herstellung von Styrol Reizungen der Schleimhäute von Augen und Magen, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel
    Ethylacetat Lösungsmittel für Farben, Klebstoffe und Kunststoffe, in Fleckenentfernern, Möbelpflegemitteln usw. Reizungen der Augen und Atemwege
    Fluorwasserstoff in Holzschutzmitteln Schleimhautreizungen, Schwächegefühl, Atemnot, Husten, Knochen-, Zahn- und Hautveränderungen
    Formaldehyd Desinfektionsmittel, Textilhilfsmittel, in Leimharz von Spanplatten, Klebern, Lacken, Textilien, Tapeten, Teppichen, Gardinen und Tabakrauch Allergien, Hautreizungen, Tränenfluß, Atembeschwerden, Husten
    Glykole wasserlösliche Dispersionslacke Übelkeit, Bauchkrämpfe, Desorientiertheit, Sprachstörungen, Schleimhautreizungen
    Isobutanol Lösungsmittel, in Weichmachern hustenreizend
    Isobutylacetat Lösungsmittel für Lacke, Harze u. a. lokal reizend
    Isocyanate Spanplattenverleimung, Lacke, Bodenversiegelungen, Polyurethanschäume Atembeschwerden, Schleimhautreizungen, Allergien, krebserregend
    Isopropylalkohol Oberflächenbehandlungsmittel, Reinigungsmittel Durchfälle, Erbrechen, Krämpfe, Benommenheit, Schleimhautreizungen
    Künstliche Mineralfasern Baumaterial (Isolier- und Dämmaterial) bestimmte Fasern sind krebserregend
    Lindan (Gamma - HCH) Schädlingsbekämpfungsmittel, in Holzschutzmitteln Benommenheit, Kopfschmerzen, Durchfälle, Erbrechen, Schleimhautreizungen, Krämpfe, Atembeschwerden
    Methylacetat Lösungsmittel in Klebstoffen Schleimhautreizungen, Müdigkeit, Benommenheit
    Methylalkohol (Methanol) Oberflächenbehandlungsmittel, Reinigungsmittel Schwindel, Kopfschmerzen, Schwächegefühl, Erbrechen, Erregungszustände, Sehstörungen, Schleimhautreizungen
    Methylenchlorid (Dichlormethan) Lösungsmittel für Kunststoffe, Bitumen u. a., Hauptbestandteil von Abbeizern, Lacken und Lackentfernern Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, narkoseähnliche Zustände, Konzentrationsschwäche, Haut-, Augen- und Atemwegsreizungen, wahrscheinlich krebserzeugend
    Methylethylketon Lösungsmittel in Lacken zur Holzbehandlung Reizungen der Augen- und Magenschleimhaut, Kopfschmerzen
    Methylisobutylketon Lösungsmittel in Lacken, Anstrichfarben und Druckfarben Augen- und Nasenreizungen, Kopfschmerzen
    n-Hexan Verdünner in Klebstoffen und Lacken Schwindel, Kopfschmerzen, Reizungen der Augen und Atemwege, Übelkeit, Erbrechen, schnelle Ermüdbarkeit, Taubheitsgefühl in Zehen und Fingern
    n-Nonan in Tensiden narkotische Wirkungen
    n-Pentan Lösungsmittel (z. B. in Lacken) , Treibmittel in Schaumstoffen Atembeschwerden
    Parathion (E 605) Schädlingsbekämpfungsmittel Übelkeit, Erbrechen, vermehrter Speichelfluß, Krämpfe, Durchfall, Schwindel, enge Pupillen, Schwächegefühl, Gleichgewichtsstörungen, Atemnot
    Pentachlorphenol (PCP) Holzschutzmittel, in Tapeten, Klebstoffen, Lacken, Farben, Textilien, Teppichen, Leder Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Krämpfe, Müdigkeit, Abmagerung, Haut- und Schleimhautreizungen, beschleunigte Atmung, Chlorakne
    Phenol Imprägnier- und Desinfektionsmittel, Ausgangsprodukt für Kunstharze, in Schaumstoffen, Farbstoffen, Leim, Teer Haut- und Schleimhautreizungen, Kreislaufbeschwerden, erbgutschädigend
    Phthalate z. B. Di-2-(ethylhexyl)-phtalat (DEHP), Di-n-butylphthalat (DBP), Butylbenzyl-phthalat (BBP), Diethylphthalat Weichmacher in Kunststoffen, z. B. in Bodenbelägen, Kabeln, Folien, Beschichtungen für Fensterrahmen und Türen, in Möbeln, Decken, Wandelementen und Tapeten allergische Reaktionen, Immunschwäche, zentralnervöse Effekte
    Polyacrylnitril Textilien, Teppichböden, Tapeten, Decken Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel
    Polychlorierte Biphenyle (PCB) Kondensatoren (z. B. in Leuchtstofflampen), Weichmacher in Kunststoffen (z. B. Fugen- und Dehnungsmassen), Stabilisator in Farben und Lacken, Zusatz in Klebstoffen, Kitten, Spachtelmassen, Isoliermaterial, Flammschutzmitteln Schwächegefühl, Immunschwäche, Sehschwäche, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Taubheit in den Extremitäten, Haarausfall, Chlorakne, Verfärbung von Haut und Nägeln, Verdacht auf krebserzeugendes Potential
    2-Propanol Reinigungsmittel Schwindel, Verwirrtheit, Kopfschmerzen, Herz-Kreislauf-Störungen
    Pyrethroide z. B. Permethrin, Deltamethrin, Fenvalerat, Cypermethrin, Cyfulthrin, d-Phenothrin Insektizid, in Teppichen, Insektensprays, Elektroverdampfern Muskelzittern, Krämpfe, Störung der Bewegungskoordination, Steigerung der Motorik, Übererregbarkeit, Erschöpfung, Wortfindungsstörungen, Hautallergien, Lähmungen, Taubheitsgefühl, Schwindel, Reizungen der Augen und Atemwege, erhöhter Speichel-, Tränen- und Nasenfluß
    Quecksilber Elektronik, Batterien, Leuchtstoffröhren, Thermometer, Farben, Zahnmedizin Übelkeit, Erbrechen, blutige Durchfälle, Augenschäden, Haut- und Schleimhautreizungen, Schluckbeschwerden, Benommenheit, Reizbarkeit,Konzentrationsmangel, Unentschlossenheit, Depressionen, Müdigkeit, Schwäche
    Schimmelpilze z. B. Penicillium, Aspergillus, Cladosporium, Fusarium, Alternaria, Mucor, Rhizopus durch Wasserschäden, falsche Wärmedämmung, Wärmebrücken, hohe Luftfeuchtigkeit (Kochen, Waschen), mangelhafte Bauaustrocknung im Neubau, geringer Luftwechsel Allergien, Augenbrennen, Atemwegserkrankungen, Kopfschmerzen
    Styren in Kunststoffen, Klebstoffen, Tapeten, Dämmplatten, Teerpappe, Estriche Kopfschmerzen, Müdigkeit, Depressionen, Verhaltensstörungen
    Styrol Ausgangsstoff für Kunststoffe, Spritzgußmassen, Isoliermaterial, Lösungsund Bindemittel von Kunstharzen und Lacken Haut-, Augen- und Atemwegsreizungen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Schwächegefühl, Krämpfe, im Tierversuch krebsauslösend
    Terpene, z. B. Limonen, alpha-Pinen, delta-3-Caren Extraktionsmittel, Lösungsmittel, Reinigungsmittel in chemischen Reinigungen, in Fleckenwassern Schleimhautreizungen, Übelkeit, Schwindel, Husten, Verwirrtheit, Erbrechen, Gesichtsfeldeinschränkungen, Schlaflosigkeit, Gedächtnisschwäche, Verdacht auf krebserzeugendes Potential
    Toluol Lösungs- und Verdünnungsmittel, z. B. in Nitrolacken, Kunststofflacken, Klebern, Polituren, Farbentfernern, Reinigungsmitteln, Tabakrauch Reizungen der Atemwege, Irritationen von Augen, Nase und Rachen, Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Appetitverlust, Schwächegefühl, Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Nervosität, Mißempfindungen, Erregungszustände, Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen
    Tributylzinn-Benzoat (TBTB), Tributylzinn-Naphthenat (TBT) Holzschutzmittel Muskelschwäche, Lähmung der Extremitäten, Krämpfe, Depressionen, verlangsamte Atmung, Hautreaktionen, Dickdarmentzündungen, Stoffwechselstörungen
    1,1,1-Trichlorethan (Methylenchloroform) Universalsprühreiniger, in Korrekturflüssigkeiten Schläfrigkeit, Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen, narkotische Wirkung, Verdacht auf krebserzeugendes Potential
    Trichlorethylen (Tri) Reinigungs- und Entfettungsmittel, Lösemittel in der Textilindustrie, in Abbeizern und Lacken Reizungen der Augen- und Nasenschleimhäute, Übelkeit, Benommenheit, Herzrhythmusstörungen, Müdigkeit, Desorientiertheit, Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen, Aufhebung der Geruchs- und Geschmacksempfindung, erbgutverändernd, Verdacht auf Krebs
    1,2,4-Trimethylbenzol Tenside, Weichmacher, Farbstoffe Atemreizungen
    Vinylchlorid zur PVC-Herstellung, in Fußbodenbelägen, Textilien, Installationsrohren Haut- und Knochenveränderungen, krebserregend
    Xylen Lösungs-, Reinigungsund Schädlingsbekämpfungsmittel, in Klebern, Farben, Lacken Kopfschmerzen, Brechreiz, Reizungen der Augen und Atemwege
    Xylole Lösungs- und Entfettungsmittel, in Lacken und Kunststoffen, Putzmitteln, Abbeizern, Klebstoffen und Schädlingsbekämpfungsmitteln Kopfschmerzen, Schwindel, Brechreiz, Reizungen der Augen, Haut und Atemwege, Menstruationsstörungen, Konzentrationsschwächen, Schlafstörungen, Gleichgewichtsstörungen

     

    Adressen

    Selbsthilfegruppen, Initiativen, Verbände

    Initiative gegen Verletzung ökologischer Kinderrechte

    Wundtstr. 40
    14057 Berlin
    Telefon 0 30/3 25 74 43

    Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN) e. V.

    Carina Weber
    Gaußstraße 17
    22765 Hamburg
    Telefon 0 40/39 39 78

    Eltern für unbelastete Nahrung e. V.
    Bundesgeschäftsstelle

    Helga E. Rommel
    Königsweg 72
    24103 Kiel
    Telefon 0431 672041

    Ökologischer Ärztebund
    Bundesgeschäftsstelle

    Braunschweiger Straße 53b
    28205 Bremen
    Telefon 04 21/4 98 42 51

    Arbeitsgemeinschaft Allergiekrankes Kind, Hilfen für Kinder mit Asthma, Ekzem oder Heuschnupfen (AAK) e. V.

    Marianne Stock
    Hauptstraße 29
    35745 Herborn, Telefon 0 27 72/4 12 37

    AK Umweltchemikalien/Toxikologie des BUND

    Dr. Henning Friege
    Rosellener Weg 2
    40547 Düsseldorf

    PAIN PAtienten INitiative Amalgamgeschädigter Essen e. V.

    Marco Gehrke
    Bandstraße 114
    45359 Essen
    Telefon 02 01/60 27 15

    Medizinische Gesellschaft für Umweltfragen e. V.

    Dr. med. H. J. Wiegand
    Lützowstraße. 7
    47057 Duisburg
    Telefon 02 03/2 47 97


    Interessengemeinschaft der Holzschutzmittel-Geschädigten (IHG) e. V.

    Helga und Volker Zapke
    Unterstaat 14
    51766 Engelskirchen
    Telefon 0 22 63/90 14 22


    Die Verbraucherinitiative

    Bernhard Kühnle
    Breite Straße 51
    531 1 1 Bonn
    Telefon: 02 28/7 26 33 93


    Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) e. V.
    Bundesgeschäftsstelle

    Helmut Wilhelm
    Prinz-Albert-Straße 43
    53113 Bonn
    Telefon 02 28/21 40 32


    Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen e. V. (AGU)

    Arnim Schmülling
    Mathias-Grünewald-Straße 1-3
    53175 Bonn
    Telefon 02 28/37 50 05


    Unabhängiges Nachrichtenbüro für Umweltmedizin U.N.U.M.

    Hauptstraße 41
    77694 Kehl
    Telefon: 0 78 51/7 13 21


    Interdisziplinäre Gesellschaft für Umweltmedizin e. V. IGUMED

    Poststraße 11
    79730 Murg-Hänner
    Telefon: 0 77 63/2 00 14


    Beratungsstelle für Amalgamvergiftete

    Lochamer Straße 79
    82166 Gräfelfing
    Telefon: 0 89/8 54 13 01


    Interessengemeinschaft der Umweltgeschädigten

    c/o Elfi Sumser
    Fichtenstraße 23
    85774 Unterföhring
    Telefon: 0 89/9 50 52 54 oder 4 48 99 34

    Deutsche Gesellschaft für Umwelt- und Humantoxikologie (DGUHT)

    z. Hd. Herrn G. Ehrhardt
    Annastraße 28
    97072 Würzburg
    Telefon: 09 31/3 54 11-30


    Selbsthilfegruppe der Chemikalien- und Holzschutzmittelgeschädigten

    Maria und Bruno Henneck
    Rudolph-Clausius-Straße 49
    7080 Würzburg
    Telefon 09 31/9 36 27

    Projektgruppe Biozidbekämpfung im BBU

    Siegfried Treu
    Dr.-Bühner-Straße 10
    97657 Sandberg-Waldberg
    Telefon: 0 97 01/13 31


    Allergie-Verein Europa e. V.Verein zur Förderung der ganzheitlichen Behandlung allergischer Erkrankungen (AVE)

    Marienstraße 57
    99817 Eisenach
    Telefon: 0 36 91/21 30 88


    Medizinische Untersuchungen Nachweis von Giften

    Ärzte für Labormedizin
    Gemeinschaftspraxis Dr. H. W. Schiwara
    Haferwende 12
    28357 Bremen
    Telefon: 04 21/2 07 20

    Analyse und Bewertung von Schadstoffen

    Umweltambulanz Deutschland GmbH Wesloer Str. 112, 23568 Lübeck Tel. und Fax 04 51/6 19 73 01
    Mobile Meßwagen mit ausgebildeten und erfahrenen Umweltingenieuren; Erfahrungen durch ca. 4000 Fälle, die dokumentiert und an der Uni Kiel ausgewertet werden. Schleswig-Holstein, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen-Ost

    Umweltambulanz Böge, Wesloer Str. 112, 23568 Lübeck,
    Tel. und Fax 04 51/6 19 73 102

    Hamburg (im Aufbau) Umweltambulanz Dr. Waldöstl, Isfeldstr. 37,
    22589 Hamburg, Tel. 0 40/8 70 37 563

    Bremen und Niedersachsen-Mitte Umweltambulanz Frank Trenkner, Emder Str. 76,
    28219 Bremen, Tel. 04 21/3 96 66 334

    Niedersachsen-West Umweltambulanz Klaus Maly, Witte-Lenoir-Str. 16,
    27798 Hude, Tel. 0 44 08/92 80 415

    Berlin/Brandenburg Umweltambulanz Kl. Petersen-Mahrt, Am Weißen See 6,
    14469 Potsdam, Tel. 03 31/61 96 076

    Nordrhein-Westfalen Umweltambulanz Dr. Lorenz, Mindener Str. 111,
    40227 Düsseldorf, Tel. 02 11/72 31 847

    Hessen (im Aufbau) Umweltambulanz Bernhard Dowe, Fauerbacher Str. 37,
    61169 Friedberg, Tel. 060 31/59 998

    Baden-Württemberg (im Aufbau) Umweltambulanz Manfred Künzler, Schützenstr. 21,
    91625 Schnelldorf, Tel. 0 79 50/92 50 21

    Bayern Umweltambulanz Manfred Künzler, Schützenstr. 21,
    91625 Schnelldorf, Tel. 0 79 50/92 50 2110

    Thüringen Umweltambulanz Herbert Theuerer, Ringbergstr. 40,
    98528 Suhl, Tel. 0 36 81/42 13 5311

    Sachsen/Sachsen-Anhalt Förderzentrum GmbH Mittelsachsen, Heinr.-Heine-Str. 5,
    09557 Flöha, Tel. 0 37 26/78 3012

    Rheinland-Pfalzz. Zt. im Aufbau, Kontaktadresse Lübeck

    An Bus e. V. Nürnberger Str. 6, 90762 Fürth Telefon und Fax 09 11/77 07 62 Analyse und Bewertung von Schadstoffen. Untersuchung von Hausstaub zum Selbstkostenpreis von 280 DM. Anleitung zur Probenahme und Fragebogen wird zugeschickt.

    ARGUK-Umweltlabor GmbH, Dr. Wigbert Maraun,
    Sonja Pfeil 61440 Oberursel, Krebsmühle l, Telefon 0 61 71/71 817 und 7 29 36, Fax 7 18 01

    Dr. Vera Schubert, 68239 Mannheim, Riegeler Weg 14,
    Telefon 06 21/4 81 47 13

    Beratung u. Analyse - Verein für Umweltchemie e. V.
    (B.A.U.C.H.) Axel Wichmann, 10559 Berlin, Wilsnacker Str. 15,Telefon 0 30/3 94 49 08

    Bremer Umweltinstitut e. V., Dr. Norbert Weis
    28203 Bremen, Wielandstr. 25,
    Telefon 04 21/7 60 78

    Chemie & Umwelt e. V., Bernd Rosenthal 30159 Hannover, Hausmannstr. 9-10,
    Telefon 05 l l/l 64 03-20, Fax l 64 03

    Gesellschaft für Umweltchemie GmbH, Helmut Scholz
    80336 München, Schwanthaler Str. 32,
    Telefon 0 89/55 71 57, Fax 5 57 15

    Göttinger Umweltlabor e. V., Dr. Burgi Riens,
    Heidrun Hoffmann 37075 Göttingen, Bertheaustr. 14, Telefon 05 51/37 65 27, Fax 3 76 52

    INA - Privatinstitut für naturwissenschaftliche Analytik GmbH,
    Dr. Edith Lohaus, 83410 Laufen, Landratsstr. 6, Telefon 0 86 82/93 00, Fax 93 00

    Institut für Mensch und Natur e. V., Bernd Eichhorn
    27383 Verden, Obere Str. 41,
    Telefon 0 42 31/8 19 28, Fax 8 21 41

    Umweltberatung Fulda, Dr. Eva Diel
    36037 Fulda, Petersgasse 27,
    Telefon 06 61/7 10 03, Fax 7 10 19

    Umweltinstitut München e. V., Hans Ulrich Raithel
    81667 München, Elsässer Str. 30,
    Telefon 0 89/4 80 29 71, Fax 44 86 00

    WARTIG Chemieberatung GmbH, Dr. Uwe Koop,
    Dr. Andreas Weber, 35094 Lahntal/Sterzhausen, Ketzerbach 27, Telefon 0 64 20/550, Fax 558

    Manfred Santen 22763 Hamburg, Friesenweg 4,
    Telefon 0 40/88 28 28, Fax 8 80 42 34

     

    Krankenhäuser für Umweltkranke

    Nicht für jeden ist jedes Krankenhaus geeignet. Es empfiehlt sich eine Stippvisite im Krankenhaus und Erkundigungen bei den Selbsthilfegruppen einzuholen.

    Fachkrankenhaus für Umweltkrankheiten Nordfriesland
    Krankenhausweg 3
    25821 Bredstedt
    Telefon 0 46 71/90 40

    Wasserschloß-Klinik
    26427 Nordseebad Neuharlingersiel
    Telefon 0 49 74/1 60

    Kurklinik Waldeck
    Langemarckstr. 15
    34537 Bad Wildungen
    Telefon 0 56 21/80 46 00

    Universitäts-Frauenklinik, Abteilung Endokrinologie, Umweltsprechstunde
    Bergheimer Str. 48,
    69115 Heidelberg
    Telefon 0 62 21/56 83 21

    Spezialklinik Neukirchen, Akutklinik
    Krankenhausstr. 9
    93453 Neukirchen bei Heilig Blut
    Telefon 0 99 47/2 80

    Umweltabteilung an der Frauenklinik; Elisabethklinikum
    Krankenhausweg 23
    94315 Straubing
    Telefon 0 94 21/71 00

     

    Weiterführende Literatur

    H. Müller-Mohnssen/K. Hahn in: Das Gesundheitswesen, 4,Jahrgang 57, April 1995, S. 185-246

    H. Theml u. a.: Wenn die Umwelt krank macht... Verlag Evang. Presseverband für Baden e. V., Herrenalber Forum, Band 12

    Landtagsfraktion Rheinland-Pfalz: Gift am Arbeitsplatz, 1992, Kaiserstr. 29 a, 55116 Mainz

    A. Bultmann, F. Schmithals (Hrsg.): Käufliche Wissenschaft. Experten im Dienst von Wirtschaft und Politik, München 1994

    Institut für Toxikologie der Universität Kiel: Dokumentationumweltmedizinischer Daten in Schleswig-Holstein, BrunswikerStr. 10, 24103 Kiel

    Kurt Lohmann, Jens-Martin Träder (Hrsg.): Umweltfibel. Einkleines Handbuch für die Praxis, Verein zur Förderung der Umweltmedizin e. V, Bismarckallee 1-3, 23795 Segeberg

    Prof. Dr. Volker Zahn: Umweltmedizinische Fibel. Praktische Umweltmedizin, Mühlweg 24, 94315 Straubing

    Max Daunderer: Gifte im Alltag, München 1995

    Ökologisches Ärzteblatt. Arzt und Umwelt, Hrsg. ÖkologischerÄrztebund e. V, Braunschweiger Str. 53 b, 28205 Bremen

    Umwelt & Gesundheit. Informationen über Umweltmedizin, Allergien,gesundes Wohnen und Ernährung,Organ der AVE, IGUMED,IHG

    Zeitung für Umweltmedizin, Dr. med. Bernd Guzek, medi, Bei den Mühren 69 a, 20457 Hamburg-Altstadt

    Eva Kapfelsberger/Udo Pollmer: Iß und stirb. Chemie in unserer Nahrung, Köln 1992

     

    Zu den Autorinnen und Autoren

    Dr. med. Peter Binz, geboren: 1941, niedergelassener Nervenarzt seit 1976. Arbeitet seit 10 Jahren zusammen mit Psychologen über Persönlichkeits- und Leistungsstörungen durch Arbeits- und Umweltgifte sowie deren juristische Folgen.

    Klaus-Peter Böge, geboren: 1949, Fachhochschulstudium in Elektrotechnik und Zusatzstudium im Fach Umwelt- und Hygienetechnik. 1974-1991 im Gesundheits-und Umweltamt der Hansestadt Lübeck tätig, zuletzt als Abteilungsleiter und stellv. Amtsleiter. 1992 Gründung der Umweltambulanz in Kooperation mit den Kassenärzten Schleswig-Holsteins, inzwischen bundesweite Ausdehnung. Seitdem mehrere tausend Beratungen und Messungen in Wohnungen durchgeführt.

    Uwe Horden, geboren 1952, Studium der slawischen Sprachen in Göttingen und Hamburg, Journalist und Verleger. Kommunalpolitiker seit 1976, Bürgermeister der Gemeinde Drage seit 1991, Abgeordneter des Niedersächsischen Landtages seit 1994.

    Martin Hofmann, geboren 1955, Promotion in Sozialgeschichte, arbeitet seit fast zehn Jahren als Redakteur für Umwelt- und Gesundheitspolitik bei der Südwest Presse, Ulm.

    Dr. med. Elisabeth Josenhans, geboren 1946, Studium der Medizin an der Ludwig Maximilians Universität in München, dermatologische Facharztausbildung an den Universitäten Ulm und Tübingen von 1975 bis 1979. Dermatologische Facharztpraxis von 1980 bis 1988 in Tübingen, 1989 Leitende Ärztin einer Umweltklinik in Inzell. Seit November 1989 dermatologische Facharztpraxis in Traunstein.

    Prof Dr. med. Helmuth Müller-Mohnssen, geboren 1928, studierte Medizin in Marburg; Habilitation für Physiologie an der Ludwig Maximilians Universität, München. Von 1960 bis 1993 tätig im GSF - Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit Neuherberg; seit 1971 als Leiter der Abteilung für Physiologie.

    Jörg Rheinländer, geboren 1961, studierte Germanistik und Politik in Marburg und Frankfurt/M. Danach besuchte er die Deutsche Journalistenschule in München. Er lebt als freier Journalist in Frankfurt/M. und arbeitet hauptsächlich für die Abteilung Fernsehen des Hessischen Rundfunks.

    Marc Rufer, Arzt und Psychotherapeut in Zürich, arbeitete als Assistenzarzt in der großen staatlichen Psychiatrischen Anstalt Königsfelden. Autor mehrerer psychiatriekritischer Bücher.

    Prof. Dr. med. Harald Theml, geboren 1940, Internist mit Schwerpunkt in Blut- und Tumorerkrankungen, habilitiert über Leukämie-Wachstum. Seit 1983 Chefarzt der Abteilung für Hämatologie und Onkologie an den St.-Vincentius-Krankenhäusern Karlsruhe, apl. Professor der TU München und Lehrbeauftragter der Universität Freiburg. Mitbegründer der interdisziplinären Gesellschaft für Umweltmedizin und Wissenschaftlicher Beirat der E.-F.-Schumacher-Gesellschaft für politische Ökologie.

    Prof. Dr. med. Volker Zahn, geboren 1940, Leiter der Frauenklinik am Elisabeth-Krankenhaus in Straubing und Ausbilder für klinische Umweltmedizin. Seit 1990 Beschäftigung mit Umweltmedizin, Mitpreisträger der Bayerischen Umweltmedaille für das 1. Umweltfreundliche Krankenhaus in Bayern. Arbeitsschwerpunkte: wissenschaftliche Fragen der Pränatalmedizin, Erforschung von umweltbedingten Frauenkrankheiten, ver-netztes Denken in Wohn- und Ernährungsmedizin.

    Volker Zapke, geboren 1938, studierte Gebrauchsgraphik und war sieben Jahre als Grafic Designer in Werbeagenturen tätig; seit Ende der sechziger Jahre arbeitet er freiberuflich. Durch Renovierungsarbeiten in einem 1972 erworbenen Fachwerkhaus wurde er holzschutzmittelgeschädigt. Gründungsmitglied der Interessengemeinschaft der Holzschutzmittel-Geschädigten e. V. (IHG) 1983, seither im Vorstand der IHG e. V. Verfasser und Mitautor mehrerer IHG-Informationsschriften über Verhalten, Wirkung und Bewertung von Holzschutzmittelinhaltsstoffen, Sanierungsmaßnahmen, medizinische, rechtliche und steuerliche Aspekte von Holzschutzmittelschädigungen.

     

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Autorin: Antje Bultmann (Hrsg.)
Datum 23.04.2003                 Mail: Antje Bultmann
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Letzte Änderung 25.1.2007 14:27:18