© 1999 Dr. S. Eyhorn. Dieser Text wurde im Juli 1999 eingescannt.

Zeitschrift für angewandte Chemie


39. Jahrgang, 15. April 1926, Nr.15, S. 461- 466

461

Die Gefährlichkeit des Quecksilberdampfes

Von ALFRED STOCK, Berlin-Dahlem.
Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie.
(Eingeg. 9. Febr. 1926)

Wenn ich mich entschließe, einem weiteren Kreise rückhaltlos über persönliches Ungemach zu berichten, das an und für sich andere nichts anginge und der Veröffentlichung nicht wert wäre, so treibt mich dabei der heiße Wunsch, alle, die mit metallischem Quecksilber zu tun haben, aufs eindringlichste vor den Gefahren des flüchtigen Metalles zu warnen und ihnen die schlimmen Erfahrungen zu ersparen, die mir einen großen Teil meines Lebens verdorben haben. Ich kann über sie heute frei sprechen, weil sie glücklicherweise abgeschlossen in genügendem Abstande hinter mir liegen.

Die heimtückische Furchtbarkeit des Quecksilbers ist lange nicht genügend bekannt und wird gerade dort zu wenig beachtet, wo man von ihr besonders bedroht ist, in den chemischen und physikalischen Laboratorien.

Seit beinahe 25 Jahren litt ich an Beschwerden, die, anfangs schwach und nur gelegentlich auftretend, allmählich mehr und mehr, schließlich fast bis zur Unerträglichkeit zunahmen, so daß ich schon daran verzweifelte, weiter wissenschaftlich arbeiten zu können. Die Ursache wurde von mir und vielen ausgezeichneten Ärzten, die ich um Rat anging, nicht erkannt. Man hielt für möglich, daß sie in besonders engem Bau der Nasenwege und in einer ungewöhnlichen Reizbarkeit der Nasenschleimhaut zu suchen sei. Ich unterzog mich infolgedessen jahrzehntelanger Behandlung der Nase mit Ätzen, Brennen, Massieren, Elektrisieren, blutigen Operationen. Ohne Erfolg! Vor etwa zwei Jahren endlich kam durch einen Zufall - einige meiner Mitarbeiter erkrankten unter ähnlichen Erscheinungen - heraus, daß es sich um eine schleichende Vergiftung mit Quecksilberdampf handelte. Bei der chemischen Arbeit, der Untersuchung flüchtiger Stoffe nach dem "Vakuum-Verfahren", das Quecksilber-Wannen, -Pumpen, -Manometer und -Ventile benutzt 1), war ich seit 25 Jahren dauernd mit Quecksilber in Berührung gewesen.

An der Richtigkeit der Krankheitsdeutung ist heute nicht mehr zu zweifeln, da alle Erscheinungen, wenn auch zum Teil noch nicht ganz verschwunden, mehr oder minder zurückgegangen sind 2), nachdem ich mich ohne sonstige Heilmaßnahmen in den letzten zwei Jahren vor dem Einatmen von Quecksilberdampf gehütet habe.

Ich schildere zunächst die Beschwerden, wie sie sich im Laufe der Zeit bei mir entwickelten. Sie stimmen bei allen schleichenden Quecksilberdampf-Vergiftungen bis in die Einzelheiten überein, wovon ich mich bei meinen Mitarbeitern und bei anderen Fachgenossen überzeugen konnte, die ebenfalls, und zwar zum Teil auch in Unkenntnis des Ursprunges ihrer Beschwerden, an Quecksilberdampf-Vergiftung litten und leiden. Manche wesentlichen Erscheinungen sind bisher nicht genügend beschrieben, wie denn überhaupt die schleichende Quecksilberdampf-Vergiftung noch nicht die Aufmerksamkeit gefunden hat, die sie verdiente.

Bei mir begann die Sache mit in Pausen auftretendem leichten Kopfschmerz und schwacher Benommenheit, die sich im Laufe der Jahre allmählich steigerten, zu dauernder nervöser Unruhe und Kribbeligkeit, zu einem das Denken erschwerenden Kopfdruck, zu immer stärker werdendem, schließlich fast ununterbrochenem quälenden Kopfschmerz (Sitz meist über den Augen) und heftigem Schwindelgefühl, das gelegentlich mit Sehstörungen (Unscharf- und Doppelsehen) verbunden war. Bald wurden auch die oberen Luftwege in Mitleidenschaft gezogen: Anfangs leichte vorübergehende Schnupfen, dann dauernd verstopfte Nase, später einander fast unmittelbar folgende schwere Katarrhe des Nasenrachenraumes mit eiterigen, oft blutigen Schleimabsonderungen und Schorfbildungen, häufige Halsentzündungen und Ohrenschmerzen, verbunden mit Herabsetzung des Hör- und Riechvermögens (für einzelne Gerüche, z. B. Blausäure, blieb es erhalten); Widerwillen gegen Tabakrauch. In den letzten der Erkennung der Vergiftung vorangehenden Jahren kamen hinzu: starker Speichelfluß, säuerlich-fader Geschmack im Munde, Entzündungen der Augen, der Mundschleimhaut, Bläschen, empfindliche und wunde Stellen an der Zunge, am Gaumen, am Zahnfleisch, an der Innenseite der Lippen und der Wangen, Rötung des Zahnfleisches und leichtes Bluten beim Zähneputzen, Zahnschmerzen, Zurücktreten des Zahnfleisches und Bildung von Taschen, vorübergehende Lockerung einzelner Zähne. Die Mund- und Zahnerscheinungen zeigten sich bei mir wohl deshalb spät (z.T. erreichten sie ihren Höhepunkt erst Monate nach dem Erkennen der Vergiftung), weil ich seit meiner Jugend Zähne und Mund sehr sorgfältig pflege (unter anderem allabendlich längeres Spülen mit 1½ % iger Wasserstoffperoxydlösung und mit Natriumbicarbonat). Wäre dies nicht der Fall gewesen, so würde ich vielleicht früher durch Mundentzündungen auf die Ursache meiner Beschwerden gebracht worden sein.

Weitere Erscheinungen waren: Geistige Mattigkeit und Abgespanntheit, Unlust und Unfähigkeit zu jeder, besonders geistiger Arbeit, vermehrtes Schlafbedürfnis. Zittern der gespreizten Finger, manchmal auch der Augenlider. Schmerzen an verschiedenen Körperstellen, Reißen im Rücken und in den Gliedern, Druck in der Lebergegend. Zeitweise Störungen der Magen- und Darmtätigkeit; Appetitlosigkeit, plötzlicher Harndrang und ohne sonstige Gründe auftretende vereinzelte Durchfälle. Leichte Bläschenausschläge, z. B. an den Innenseiten der Arme und der Oberschenkel.

Die für den geistig Arbeitenden niederdrückendste Begleiterscheinung war die Minderung des Gedächtnisses. Mein ursprünglich ausgezeichnetes Gedächtnis ließ mehr und mehr zu wünschen übrig und wurde immer schlechter, so daß ich vor zwei Jahren völliger Gedächtnislosigkeit nahe war. Nur mit Hilfe umfangreicher Aufzeichnungen konnte ich mit größter Anstrengung eine Abhandlung verfassen oder einen Vortrag halten. Ich vergaß die Fernsprechnummer auf dem Wege vom Fernsprechverzeichnis zum Apparat, ich vergaß fast alles einst Auswendiggelernte, den Inhalt des Buches und Theaterstückes, das ich kürzlich gelesen oder gesehen, die eigenen Arbeiten, die ich veröffentlicht hatte. Es war mir unmöglich, Zahlen oder Namen zu behalten. Oft fehlten mir selbst die Namen guter Bekannter. Besonders litt auch die Fähigkeit zum Rechnen und zu mathematischen Be-


1) Vgl. Berichte d. Deutschen Chem. Ges. 54 (A), 142 [1921]

2) Und sich sofort deutlich wieder verstärkten, als ich kürzlich infolge eines Versehens bei der Lüftung des Laboratoriums längere Zeit in quecksilberhaltiger Luft zugebracht hatte.

 

462

trachtungen, auch zum Schachspielen. Die Herabsetzung des Gedächtnisses, zumal des Personengedächnisses, und die Erschwerung des Rechnens scheint ein besonderes Kennzeichen der schleichenden Quecksilberdampf-Vergiftung zu sein. Sie zeigten sich auch bei meinen Mitarbeitern und bei anderen mir bekannt gewordenen Personen, die länger unter der Einwirkung des Quecksilbers standen, in auffallendster Form. Bald nachdem wir in meinem Laboratorium erkannt hatten, was uns fehlte, saß ich mit zwei Mitarbeitern zusammen, um eine abgeschlossene Arbeit zu Papier zu bringen, bei der wir allerlei zu rechnen hatten. Keiner von uns war imstande, 10 ‒ 20 mehrstellige Zahlen ohne Fehler zusammenzuzählen!

Während sich die körperliche Leistungsfähigkeit, z.B. bei Bergbesteigungen, als nicht allzusehr geschwächt erwies, litt die geistige Arbeitskraft auch im übrigen, obgleich nicht in dem niederschmetternden Maße wie das Gedächtnis. Dazu kam Niedergeschlagenheit, eine quälende innere, zuletzt auch unruhigen Schlaf verursachende Unrast. Von Natur gesellig und lebenslustig, zog ich mich mißmutig in mich zurück, scheute die Öffentlichkeit, mied Menschen und Geselligkeit, verlernte die Freude an Kunst und Natur. Der Humor rostete ein. Hindernisse, über die ich früher lächelnd hinweggeglitten wäre (und heute wieder hinweggleite), erschienen unüberwindlich. Die wissenschaftliche Arbeit machte größte Mühe. Ich zwang mich ins Laboratorium, ohne trotz aller Anstrengung etwas Ordentliches leisten zu können. Die Gedanken kamen schwer und pedantisch. Ich mußte darauf verzichten, an der Lösung außerhalb der nächsten Aufgaben stehender Fragen mitzuarbeiten. Die Vorlesung, mir früher eine Freude, wurde zur Qual. Die Vorbereitung eines Vortrages, das Schreiben einer Abhandlung, selbst eines einfachen Briefes, verursachte unendliche Mühe im Gestalten des Stoffes und im Ringen mit der Sprache. Nicht selten geschah es, daß ich Worte verkehrt schrieb oder Buchstaben ausließ. Dieser Unzulänglichkeiten bewußt sein, ihre Ursache nicht kennen, keinen Weg zu ihrer Behebung sehen, weitere Verschlimmerung befürchten müssen: Es war nicht schön!

Alle Versuche, den Zustand zu bessern, schlugen fehl. Vielwöchiger Aufenthalt im Gebirge nützte nichts; ich fühlte mich dort kaum weniger elend als in Berlin. Die Nasenbehandlung und -operationen brachten manchmal kurz vorübergehende, doch niemals nachhaltige Erleichterung. Eigentümlich war, daß alle geistigen Beschwerden für Stunden schwanden, wenn der Arzt bestimmte Stellen der Schleimhaut der oberen Nase mit Kokain behandelte: War der richtige Punkt getroffen, so verzogen sich Kopfschmerz und Schwindel manchmal in wenigen Minuten; Gedächtnis, Arbeitslust, gute Laune erschienen wieder, leider nur als flüchtige Gäste. Von der Möglichkeit, sie herbeizurufen, habe ich manchmal vor einem Vortrag, einer wichtigen Sitzung u. dgl. Gebrauch gemacht.

Wie ich schon andeutete, litten auch meine Mitarbeiter im Laboratorium, Assistenten, Doktoranden und Laborantinnen, seit längerem an allerlei Beschwerden: Abspannung ohne erkennbare Ursache, verschlechtertem Gedächtnis, schwachen Kopfschmerzen und Benommenheiten, gelegentlichen Verdauungsstörungen, Gliederschmerzen, leichte Mundentzündungen, Schnupfen, Katarrhen usw. Die Beschwerden äußerten sich bei dem einen hier stärker, beim anderen da, offenbar bei jedem zunächst an den wenigst widerstandsfähigen Stellen zutage tretend. Bei allen zeigten sich Müdigkeit und Herabsetzung der geistigen Arbeitsfähigkeit. Doch keiner kam auf den Gedanken, daß es sich bei uns allen um eine und dieselbe Ursache handeln könne. Erst das Zusammentreffen einiger glücklich-unglücklicher Umstände öffnete uns endlich die Augen.

Aus Sparsamkeit hatten wir 1921 die elektrische, viel teueren Strom verbrauchende Entlüftungsanlage unseres Kaiser-Wilhelm-Institutes für Chemie außer Betrieb gesetzt. Seit Mitte 1923 befaßten sich zwei meiner Mitarbeiter, ein Assistent und ein spanischer Gast, in einem kleineren Raume mit Gasdichtebstimmungen, die gleichbleibende Temperatur erforderten, und hielten deshalb Fenster und Türen möglichst geschlossen. Die Arbeit mußte bis zum Frühjahr 1924 beendet werden, weil mein Assistent in die Industrie gehen und der spanische Kollege in seine Heimat zurückkehren wollte, und wurde zuletzt etwas hastig betrieben, so daß die sonst in unserem Laboratorium übliche peinliche Sauberkeit in jenem Raume litt, indem verspritztes Quecksilber unbeachtet blieb und viel davon unter Stativen, in den Fugen und Ritzen des Fußbodens und der Tische lag. Dadurch waren die Bedingungen gegeben, daß statt der langsamen schleichenden eine leichter zu erkennende akute Quecksilbervergiftung auftrat: Der Assistent erkrankte schwerer, nicht nur mit Kopfschmerzen, geistiger Mattigkeit usw., sondern auch unter stärkerem körperlichen Verfall, mit Zahngeschwüren u. dgl. Sein Bruder, ein Arzt, vermutete, daß dieses Krankheitsbild auf Quecksilbervergiftung deute. Der erfahrene Giftforscher L.Lewin, den wir hinzuzogen, untersuchte alle Laboratoriumsinsassen und erklärte auf Grund seiner Erfahrungen mit Bestimmtheit, daß wir sämtlich an Quecksilbervergiftung litten. In der Tat ergab die Prüfung (nach den in der folgenden Mitteilung beschriebenen Verfahren) Quecksilber sowohl in der Luft der Arbeitsräume wie im Harn aller Betroffenen. Der Quecksilbergehalt der Luft war in den einzelnen Räumen recht verschieden: er belief sich nach dem Ausfall unserer Proben auf tausendstel und hundertstel mg im Kubikmeter, d. h. auf einen kleinen Bruchteil dessen, was die Luft bei Sättigung mit Quecksilberdampf aufnehmen kann. Dies berechnet sich nämlich für Zimmertemperatur, wenn man 0,001 mm Quecksilber-Sättigungsdruck zugrunde legt, auf etwa 12 mg je Kubikmeter. Da der Mensch stündlich etwa ½ cbm Luft einatmet und das eingeatmete Quecksilber in den Lungen, wie es scheint 3), größtenteils zurückgehalten wird, bedürfte es also keines sehr ausgedehnten Aufenthaltes in quecksilbergesättigter Luft, um schwere  akute Quecksilbervergiftungen zu erleiden. Beim Einatmen der schwach quecksilberhaltigen Luft dauert es aber lange, bis die Vergiftung offenkundig wird. Ein oder mehrere Jahre lang können sich die Erscheinungen auf Ermattung und langsames Zurückgehen der geistigen Leistungsfähigkeit und des Gedächtnisses beschränken. So traten z. B. bei dem erwähnten spanischen Mitarbeiter äußerliche Merkmale, Entzündungen in der Mundhöhle, erst ganz zum Schlusse des Jahres auf, das er in unsrem Laboratorium zubrachte, und erreichten ihren Höhepunkt Monate, nachdem er uns verlassen hatte und dem Einflusse des Quecksilbers entzogen war. Die geistigen Wirkungen hatte er viel früher gespürt, ohne sich ihre Ursache erklären zu können. Mir war, meinte er, als ob ich in Deutschland verdumme. Und ähnliche Beobachtungen mußte ich an meinen übrigen Mitarbeitern machen. So hatten fast alle in meinem Laboratorium arbeitenden Doktoranden Schwierigkeiten, den Anforderungen der Doktorprüfung zu genügen. Verließen die Doktoranden und Assistenten nach wenigen Jahren das


3) Vgl. A.Blomquist, Ber. d. Deutschen Pharmaz. Ges. 23, 29 [1913]

 

463

Laboratorium, so erholten sie sich, ohne sich der Quecksilbervergiftung bewußt zu werden. Bei mir selbst steigerte sich die Wirkung der winzigen Quecksilbermengen im Laufe der Jahrzehnte in der geschilderten Weise.

Besonders kennzeichnend für diese schleichenden Quecksilbervergiftungen ist ein auffälliges Schwanken der Erscheinungen. Auf einige Tage oder Wochen etwas besseren Befindens folgt, manchmal ganz plötzlich einsetzend, eine Zeit erhöhter Beschwerden. Dies gilt auch für die häufigen Rückfälle während der Gesundung. Als meine Erkrankung den Höhepunkt erreicht hatte, war fast die Regel: ein oder zwei Tage erträglicherer Zustand, dann verstärkter Speichelfluß und Schnupfen, von der Nase zum Kehlkopf und zu den Bronchien hinabgleitender Katarrh, Zahnentzündungen, höchste Mattigkeit und Benommenheit, quälender Kopfschmerz, oft auch Reißen und Durchfall. Daß Kopfschmerz, Benommenheit und Gedächtnisminderung mit der Reizung der Nerven zusammenhängen, die in die obere Nase führen, zeigt die erwähnte Wirkung des Kokainisierens der Nasenschleimhaut.

Offenbar besteht manche Ähnlichkeit zwischen der schleichenden Quecksilbervergiftung und der genauer bekannten schleichenden Bleivergiftung. Diese ist gründlicher untersucht, weil sie in der Industrie häufig vorkommt. Auch sie betrifft wesentlich das Nervensystem und zeigt dasselbe Schwanken der Krankheitserscheinungen 4). Nach einer Periode der Gesundheit kann plötzlich, ohne daß eine Ursache vorhanden ist, das Gift von neuem seine Wirksamkeit entfalten, einen heftigen Anfall von Bleikolik oder ein anderes Symptom hervorrufen . . . nur so zu erklären, daß das Gift, das seit langem eingekapselt an einer Stelle des Körpers lag, plötzlich wieder in den Kreislauf gelangt . . . 5). Nach F.Schütz und H.Bernhardt 6) speichert sich das Blei vor allem in Milz, Gallenblase und Gehirn und wird hauptsächlich mit der Galle, vielleicht auch durch die Wand des Dickdarms ausgeschieden; die Nieren sind bei akut und chronisch verlaufenden Vergiftungen weniger an der Ausscheidung beteiligt. Ähnlich scheint es beim Quecksilber zu sein. Ein Jahr nach Abstellung der Ursachen der Quecksilbervergiftung ließ sich in meinem Harn kein Quecksilber mehr nachweisen, obwohl noch recht starke Beschwerden vorhanden waren. Der Speichel enthielt aber noch Spuren Quecksilber 7).

Nachdem wir die Quelle unserer Erkrankungen erkannt hatten, war natürlich unsere erste Sorge: Wie schützen wir uns in Zukunft vor dem Quecksilber? Selbstverständlich wurde zunächst alles auf Tischen, in Schubkästen, in Ritzen und Fugen, unter schadhaften Stellen des Linoleum-Fußbodenbelages befindliche Quecksilber sorgfältig entfernt, wobei ein behelfsmäßiger Staubsauger (Saugleitung, Saugflasche mit langem Gummischlauch und vorn schnittbrennerartig verbreitertem Glasmundstück) gute Dienste leistete. Wir ließen das Linoleum ausbessern, alle Ritzen an den Arbeitstischen beseitigen, die gefährlichen Winkel zwischen Fußboden und den sogenannten Scheuerleisten ausrunden (Kitt, mit Ölfarbe gestrichen.), so daß sie der Säuberung leichter zugänglich wurden. Wo Stative für längere Zeit stehen, werden die Fugen zwischen Stativ- und Tischplatten ebenfalls mit Kitt verstrichen. Alle offenen Quecksilberflächen an Wannen, Manometergefäßen usw. werden bei Nichtbenutzung möglichst vollständig mit entsprechend geschnittenen Cellonplatten abgedeckt. Wir vermeiden es,  in den Arbeitsräumen zu essen oder Eßwaren aufzuheben, und befleißigen uns größter Sorgfalt beim Reinigen der Hände (vor allem Bürsten der Nägel) nach dem Hantieren mit Quecksilber, achten auch besonders darauf, daß kein Quecksilber in die Taschen und Falten der Arbeitsmäntel gerät. Vor allem schenkten wir der Entlüftung der Arbeitsräume vollste Aufmerksamkeit, indem wir den Erfolg durch Luftanalysen prüften (vgl. die folgende Mitteilung). Es zeigte sich bald, daß Wiederingangsetzen der kräftigen Hausentlüftungsanlage (sehr starke, im Dachgeschoß stehende Ventilatoren saugen die Luft durch die Abzüge ab; frische Luft strömt durch Klappen über den Türen aus Kanälen zu) nicht annähernd genügte, um die Luft quecksilberfrei zu machen. Die Verhältnisse liegen in unserem Laboratorium insofern ungünstig, als wir mit besonders vielen Quecksilberapparaturen arbeiten, wobei offene Quecksilberflächen und gelegentliches Verspritzen von Quecksilber nicht völlig zu vermeiden sind. Zudem sind die Arbeitsräume in dem ganz neuzeitlich und aufs beste gebauten und eingerichteten Kaiser - Wilhelm - Institut für Chemie z. T. so groß (mehrere hundert Kubikmeter Luftraum), daß die Luft von der Entlüftungsanlage nicht schnell genug erneuert wird. In dieser Beziehung können kleinere Räume vorteilhafter sein, weil natürlich die gleiche Entlüftung in ihnen eine wirksamere und häufigere Erneuerung der Luft bewirkt 8). Eine genügende Lüftung ist hier, wie sich herausstellte, nur durch dauerndes (nach Temperatur, Windstärke und -richtung geregeltes) Offenhalten der Fenster und Herstellen von Zugluft zu erreichen. Nebenher arbeitet die Entlüftungsanlage. Da diese in der Nacht ruht, wird morgens vor Beginn der Arbeit das ganze Laboratorium durch weites Öffnen der Fenster mit frischer Luft versorgt. Diese Maßregel wird mittags wiederholt. So ist es gelungen, die Laboratoriumsluft soweit von Quecksilber frei zu halten, daß es sich darin nicht mehr oder nur gerade in Spuren nachweisen läßt und daß wir mit unseren Quecksilber-Apparaturen weiterarbeiten können, ohne neue Gesundheitsstörungen befürchten zu müssen.

Wo man mit Quecksilber zu tun hat, sollte man der Prüfung und Reinhaltung der Luft die allergrößte Sorgfalt widmen, die Luftströmungsverhältnisse im Arbeitsraum untersuchen 9) und für möglichst viel Frischluft sorgen, selbstverständlich alle Arbeiten mit Quecksilber, soweit irgend möglich, unter den Abzügen vornehmen 10). Dies ist der einzige Weg, der sicher vor Schaden bewahrt. Man


4) Vgl. z. B., was L.Lewin (Archiv f. klin. Chirurgie, Bd. 94 [1911] und an anderen Stellen) über die pathologisch-familiären, oft neurasthenie-ähnlichen Giftwirkungen des Bleies und über das intermittierende Auftreten der Vergiftungserscheinungen und der Bleiausscheidung sagt.

5) G.Wolff, Metallvergiftungen im Gewerbeleben, Ch. Z. 49, 389 u. 411 [1925].

6) Die Verteilung des Bleies im Körper bei chronischer Bleivergiftung, Zeitschr. für Hygiene u. Infektionskrankh. 104, 441 [1925].

7) Im Gegensatz zu den Angaben von M.Oppenheim (Über das Auftreten von Quecksilber im Mundspeichel, Archiv f. Dermatologie u. Syphilis 56, 340 [1901]), nach denen das Quecksilber eher im Speichel als im Harn verschwindet.

8) Diese Tatsache erklärt, warum das Arbeiten in manchem kleinen, zunächst in gesundheitlicher Hinsicht schlecht erscheinenden Raume trotz unvorsichtigen Umgehens mit Quecksilber nicht schadet.

9) Regelmäßige Luftströmungen, z. B. von den Fenstern her, können bewirken, daß die Luft an einzelnen Stellen dauernd quecksilberhaltig ist, an anderen nicht.

10) Z. B. auch die bekannten Quarz-Quecksilberdampf-Luftpumpen, bei denen ein warm werdender Schliff mit Quecksilber abgedichtet ist (es empfiehlt sich, ihn mit Wasserkühlung zu versehen), unter einem Abzuge aufstellen.

 

464

muß ihn wählen, wenn er auch zwischen der Scylla der Quecksilbervergiftung und der Charybdis der Erkältung hindurchführt. Eine chemische Entquecksilberung der Luft ist nach unseren Erfahrungen nicht zu erreichen. Man hat dafür empfohlen, Schwefelblumen oder Zinkstaub im Arbeitsraum zu verteilen. Wir haben es mit großen Stanniolfahnen versucht, die in langen Reihen von der Decke herabhingen. Obwohl Stanniol, wenn man es in einem geschlossenen Gefäß neben Quecksilber bringt, sich schnell amalgamiert, versagte es hier: Der Quecksilbergehalt der Luft nahm nicht merklich ab; ein Stanniolstreifen (33 x 100 cm Fläche; 57 g schwer), der 11 Monate über einer Quecksilber-Apparatur gehangen hatte, enthielt danach nur etwa 0,005 mg Quecksilber.

Die Erholung von der schleichenden Quecksilbervergiftung, nach Beseitigen der Giftquelle, geht außerordentlich langsam und unter oft wiederkehrenden Rückfällen vonstatten. Professor Lewin sagte es uns voraus, und die Entwicklung unseres Befindens hat ihm recht gegeben. Der Zeitraum hängt ersichtlich von der Dauer der Vergiftung, vielleicht auch vom Lebensalter ab. Meine Mitarbeiter, die das Laboratorium verließen, sind erfreulicherweise im Laufe von 1 ‒ 2 Jahren aller Beschwerden ledig geworden und haben die frühere Frische ihres Denkens und ihres Gedächtnisses voll wiedererlangt. Allerdings hatten auch sie noch lange unter Rückfällen nicht nur geistiger, sondern auch körperlicher Art (besonders Mundentzündungen) zu leiden. Einige Assistenten und Laborantinnen setzten die Arbeiten hier fort, bei denen auf Anwendung von Quecksilber leider nicht verzichtet werden kann. Sie unterliegen auch heute noch, nach fast zwei Jahren, deutlichen, immer schwächer werdenden Nachwirkungen der Vergiftung. Bei mir selbst, der ich über 20 Jahre der Schädigung ausgesetzt war, erfordert die völlige Wiederherstellung offenbar die längste Zeit; die Arbeitsfähigkeit, im ganzen wiederhergestellt, erfährt nur von Zeit zu Zeit durch leichte Rückfälle (Kopfschmerzen, Benommenheit, auch schwache Mundentzündungen) noch vorübergehende Beeinträchtigung. Nach dem bisherigen Verlaufe der Besserung zweifle ich aber nicht daran, daß auch meine letzten Mitarbeiter und ich die Beschwerden restlos verlieren werden. Man scheint nun einmal damit rechnen zu müssen, daß Jahre dazu gehören, um das in Jahren vom Körper aufgenommene Quecksilber wieder auszuscheiden. In dieser Beziehung ist folgender, mir kürzlich zufällig bekanntgewordener Fall lehrreich, der zugleich beweist, daß es für den Verlauf der langsamen Quecksilbervergiftung gleichgültig ist, ob das Gift durch die Lungen oder durch die Haut 11) in den Körper gelangt:

Ein Heilgehilfe, der fünf Jahre lang an seinen Patienten Quecksilberschmierkuren vorgenommen hatte, erkrankte 1905 unter den uns bekannten Erscheinungen (Mißmut, Kopfschmerz, Schwindel) , die sich allmählich steigerten (Mattigkeit; unerträglicher Kopfschmerz; Mundentzündungen; Losewerden und Verlust von Zähnen; dauernde Schnupfen, Katarrhe, Halsentzündungen; Ohrensausen, Hör- und Sehstörungen). Erst 1911 wurde der Zustand als Quecksilbervergiftung erkannt. Der Mann gab nun das Schmieren auf, brauchte aber lange Jahre, bis er seine Beschwerden verlor. Noch 1914, als er ins Feld zog, litt er an Kopfschmerzen und Benommenheit. Heute ist er, fünfundfünfzigjährig, wieder kerngesund und recht jugendfrisch.

Es scheint, daß die vorhandene Quecksilbervergiftung besondere Empfindlichkeit gegenüber erneuter Einwirkung von Quecksilberdampf bedingt. Einige von uns, die bei ihrer Arbeit, auch bei gelegentlichen Versehen in der Lüftung, wieder mehr mit Quecksilber in Berührung gekommen waren, spürten dies alsbald am stärkeren Aufflackern der Rückfälle. Das ist nicht wunderbar, da ja, wie die lange Entwicklungszeit der schleichenden Erkrankung zeigt, in der vom Körper aufgenommenen Quecksilbermenge ein gewisser Schwellenwert erreicht werden muß, ehe merkliche Erscheinungen auftreten. Der Schwellenwert bleibt sicherlich auch während der Genesung noch lange überschritten, so daß jede zusätzliche Quecksilbermenge das Befinden sofort verschlechtert.

Auf ärztlichen Rat suchten wir die Wiedergesundung auf verschiedene Weise zu beschleunigen, durch harntreibende und abführende Mittel, durch heiße Bäder durch längeres Einnehmen kleiner Natriumjodidmengen. Ich habe nicht den Eindruck, daß die Heilung dadurch sehr wesentlich gefördert worden ist. Das Jodid steht ja in dem Rufe, aus unlöslichen organischen Quecksilberverbindungen, als welche sich das Quecksilber wohl im Körper verankert, das Metall in lösliche Form zu bringen. Bei mir ließ sich jedoch nicht nachweisen, daß im Harn nach Zuführen von Jodid nennenswert mehr Quecksilber ausgeschieden wurde. Von den harntreibenden Mitteln war kein Fortschritt zu erwarten, nachdem, wie schon erwähnt, die Quecksilberausscheidung im Harn verhältnismäßig bald ganz aufgehört hatte. Der Heilkunde fehlt es leider bisher an Mitteln, im Körper vorhandenes Quecksilber zu entgiften 12).

Bewegung in frischer Luft ist noch am besten geeignet, die subjektiven Beschwerden weniger fühlbar zu machen. Bei leichteren Kopfschmerzen und Schwindelzuständen hat sich Novalgin als Linderungsmittel einigermaßen bewährt. Im wesentlichen muß man es wohl der Zeit überlassen, des Störenfriedes im Körper Herr zu werden. Bei mir brachten auch vierwöchiger Aufenthalt im Hochgebirge und eine Seereise in südlichere Breiten kaum größere Fortschritte, als sie wohl sonst in derselben Zeit gekommen wären, wenn auch natürlich die geistige Ausspannung den Nerven wohltat.

Warum sind unsere Erkrankungen nicht früher als Ouecksilbervergiftungen erkannt worden? Diese Frage habe ich mir selbst, nicht ohne Vorwürfe, oft vorgelegt. Die ersten, den Munderscheinungen vorangehenden Anzeichen der ganz langsamen Quecksilbervergiftung kennt auch die Ärztewelt kaum 12). Sie bestehen eben nur in Mattigkeit, Herabsetzung des Denk- und Erinnerungsvermögens, leichten Kopfschmerzen und Benommenheiten, seltenen und vereinzelten Durchfällen. Ebensowenig war bisher bekannt, daß dabei die Nase und die übrigen Atmungswege in Form von Schnupfen und Katarrhen in Mitleidenschaft gezogen werden. Gerade dieser Umstand brachte mich und die mich behandelnden Ärzte auf die falsche Fährte und hat auch in anderen mir bekannt gewordenen Fällen irregeführt. So wurde einer


11) Allerdings nimmt auch bei der Quecksilberschmierkur  ein Teil des Quecksilbers den Weg durch die Lungen.

12) Vgl. hierzu z. B. E.Hesse, Versuche zur Therapie der Quecksilbervergiftung. Archiv f. experim. Pathologie u. Pharmakologie 107, 43 [1925].

13) Ausführliche Beschreibung der akuten u. chronischen Quecksilbervergiftung: L.Lewin, Lehrbuch der Toxikologie. Bemerkenswert ist, daß auch die chronische Schwefelwasserstoffvergiftung nach Mitteilungen, die mir ein daran bei technischer Tätigkeit erkrankter Fachgenosse machte, ganz ähnliche nervöse Beschwerden auslöst: Kopfschmerz, Schwindel, Gedächtnisverlust und Katarrhe, Reißen. Das Befinden zeigt auch das gleiche Auf und Ab. Dort fehlen aber die Mund- und Verdauungsstörungen.

 

465

meiner Assistenten lange auf Stirnhöhlenentzündung behandelt, ehe die wahre Ursache gefunden worden war. Im übrigen wird dem Betroffenen selbst die wägende Beurteilung seiner Beschwerden gerade durch die unter diesen auftretende Benommenheit erschwert: Quem Mercurius perdere vult, dementat prius!

An dieser Stelle sei auch vor einer anderen wenig beachteten Quelle schleichender Quecksilbervergiftungen gewarnt: Vor den Amalgam-Zahnfüllungen. Professor Lewin empfahl mir sofort, als er die Quecksilbervergiftung bei mir festgestellt hatte, alle Amalgamfüllungen, deren ich eine beträchtliche Zahl seit früher Jugendzeit im Munde hatte, durch andere Füllungen ersetzen zu lassen. Er erinnerte dabei an den ihm bekannten Fall eines Hochschulkollegen, der am Rande geistiger und körperlicher Zerrüttung war, als die Ursache noch rechtzeitig in den zahlreichen, aus der Jugendzeit stammenden Amalgam-Zahnfüllungen gefunden wurde, nach deren Entfernen langsame Gesundung erfolgte 14).

Die Zahnärzte benutzten früher mit Vorliebe Kupfer- und Cadmium-Amalgame und verwenden heute oft sog. Silber-Amalgame zu Zahnfüllungen, weil diese Amalgame leicht zu verarbeiten sind und die Höhlungen gut ausfüllen. Silber-Amalgam ist den anderen genannten Amalgamen, die sich im Laufe der Zeit stark zersetzen und zermürben, an Haltbarkeit überlegen. Es gibt aber ebenfalls bei Mundtemperatur Quecksilber ab, wie uns folgende Versuche bewiesen 15):

Wir schmolzen Silber-Amalgam-Proben in ein rechtwinklig gebogenes Glasrohr ein, evakuierten dieses vollständig, erwärmten das im wagerechten Rohrschenkel liegende Amalgam auf 30 - 350, kühlten den anderen, als Vorlage dienenden Schenkel mit Eis oder mit flüssiger Luft und bestimmten das Quecksilber, das sich in allen Fällen in der Vorlage niederschlug.

  1. Amalgamstück, vom Zahnarzt sorgfältig für diesen Zweck in der üblichen Weise aus dem Metallpulver und Quecksilber hergestellt; 0,801 g. 24 Stunden nach der Herstellung eingeschmolzen. 23 Tage erwärmt; Vorlage in Eis. Abdestilliert: 11,2 mg Quecksilber.
  2. Desgleichen; 0,810 g. Zunächst drei Wochen aufgehoben, um die Erhärtung möglichst vollständig zu machen, und dann erst eingeschmolzen. 12 Tage erwärmt; Vorlage in flüssiger Luft. Abdestilliert: 15,3 mg Quecksilber.
  3. Amalgamstück, mit besonderer Sorgfalt unter Verwendung von m ö g l i c h s t   w e n i g Quecksilber hergestellt; 1,000 g. Wie II erst 3 Wochen aufgehoben. 9 Tage erwärmt; Vorlage in Eis. Abdestilliert: 8,2 mg Quecksilber.
  4. Amalgamfüllung, die jahrelang in einem Zahne gelegen hatte und herausgefallen war; 0,894 g. 14 Tage erwärmt; Vorlage in flüssiger Luft. Abdestilliert: 29,4 mg Quecksilber.
Unzweifelhaft lassen solche Füllungen wie hier im Laboratoriumsversuche auch im Munde langsam Quecksilber verdampfen und verleihen der eingeatmeten Luft einen kleinen Quecksilbergehalt, der auf die Dauer schädlich wirken muß. Die alten Kupfer- und Cadmium-Amalgame dürften noch gefährlicher sein.

Einer meiner Fakultätskollegen litt seit längerer Zeit an gelegentlichen Kopfschmerzen und Benommenheiten, deren Ursache er sich nicht erklären konnte. Nachdem er sich eine alte Amalgamfüllung, die in der Nachbarschaft des betreffenden Zahnes leichte Entzündungen verursachte, hatte entfernen lassen, verschwanden die Beschwerden allmählich. Die Füllung erwies sich nach dem Herausnehmen als bröckelig und von Quecksilbertröpfchen durchsetzt.

Die Zahnheilkunde sollte auf die Anwendung von Amalgamen als Füllmittel ganz oder doch überall dort verzichten, wo es nur irgend möglich ist. Es unterliegt keinem Zweifel, daß viele Beschwerden, Mattigkeit, Mißmut, Gereiztheit, Kopfschmerzen, Schwindel, Gedächtnisschwäche, Mundentzündungen, Durchfälle, Appetitlosigkeit, chronische Schnupfen und Katarrhe, manchmal von dem Quecksilber verursacht sind, das dem Körper aus Amalgamfüllungen zwar in kleiner Menge, aber dauernd zugeführt wird. Die Ärzte sollten dieser Tatsache ernsteste Beachtung schenken. Es wird sich dann wahrscheinlich herausstellen, daß die leichtsinnige Einführung der Amalgame als Zahnfüllmittel eine arge Versündigung an der Menschheit war.

Schleichende Quecksilbervergiftungen sind sicherlich viel verbreiteter, als man im allgemeinen glaubt. Dies gilt ganz besonders für die Chemiker und Physiker, die ja so häufig mit Quecksilber zu tun haben. Die große Gefahr wird hier viel zu wenig beachtet, die wahre Ursache von Beschwerden und Krankheit oft nicht erkannt. In der Literatur findet sich darüber fast nichts 16). Seit der Aufklärung unseres Mißgeschickes habe ich etwa ein Dutzend sicherer Fälle von schleichender Quecksilbervergiftung allein im Kreise meiner Bekanntschaft kennengelernt, fast immer mit den gleichen Erscheinungen, vielfach in ihren Ursachen falsch gedeutet und deshalb falsch behandelt. Ein bezeichnendes Beispiel ist ein ausländischer Fachgenosse, der seit langem mit Quecksilberapparaturen arbeitet. Als er mich besuchte und ich ihn fragte, ob er niemals etwas von Quecksilbervergiftung gespürt habe, verneinte er entschieden. Auf weitere Fragen nach seiner Gesundheit antwortete er: Ich bin ja schlimm daran; ich leide seit vielen Jahren an Neurasthenie, habe lange Zeit dem Laboratorium fernbleiben müssen usw.. Die Ärzte hatten alles Mögliche mit ihm versucht, ihn auf Magen-, Darm- und Brustfellerkrankung, mit besonderer Kost behandelt u. dgl. mehr. In Wirklichkeit handelte es sich um die ausgesprochenste Quecksilbervergiftung, wie jetzt einwandfrei feststeht.

Ein ahnungsloses Opfer der Quecksilbervergiftung ist sicherlich auch Faraday gewesen. In den letzten drei bis vier Jahrzehnten seines Lebens, das er als hoher Siebziger beschloß, wurde er in steigendem Maße von Beschwerden gequält, die ihm die wissenschaftliche Arbeit immer mehr erschwerten, die in seinen Briefen und in den Beschreibungen seines Lebens eine große Rolle spielen und von ärztlicher Seite als Neurasthenie und frühzeitige Arteriosklerose gedeutet worden sind. Sie bestanden in zeitweiser starker Abgespanntheit und geistiger Mattigkeit, in reizbarer Schwäche, in Kopfschmerzen, Schwindel, Rheumatismus und vor allem in stetig wachsender Gedächtnisschwäche 17).

Von ernsten körperlichen Krankheiten verschont, noch in stattlichem Alter ein rüstiger Wanderer und Schwimmer, ging Faraday im letzten Drittel seines Lebens den Menschen aus dem Wege. Die wissenschaftliche Tätigkeit, auch seine Vorlesungen, setzte er, mit langen Unterbrechungen, bis ins letzte Lebensjahrzehnt fort. Es greift ans Herz, in den Briefen des großen Forschers zu lesen, daß er sich so oft zu seinem ärztlichen


14) Dieser Kollege gab mir kürzlich eine erschütternde Schilderung der Leiden, die er jahrelang durchgemacht hatte, ehe man die Ursache erkannte.

15) Vgl. hierzu auch: O.Tammann und O.Dahl. Z. anorg. u. allgem. Ch. 144,16 [1925].

16) Eine Ausnahme aus neuerer Zeit ist die Mitteilung von A.Blomquist (Ber. d. deutsch. Pharmaz. Ges. 23, 29 (1913]) über eine allgemeine Quecksilberdampf-Vergiftung im Physiologischen Institut der Universität Uppsala.

17) Vgl. E.Jentsch, Faradays Gedächtnisschwäche, Naturwissenschaften 3, 625 und 637 [1915].

 

466

Freunde begeben und ihm über Schwindel und Kopfschmerz klagen müsse, daß er keinen Namen behalte, daß er die Verbindung mit den Fachgenossen verliere, daß er seine eigenen Arbeiten und Notizen, seine Korrespondenz vergesse, nicht mehr wisse, wie die Worte geschrieben werden. Das betroffene Organ ist mein Kopf. Die Folge ist Gedächtnisverlust, Unklarheit und Schwindel. Alle diese Erscheinungen machen höchst wahrscheinlich, daß es eine schleichende Vergiftung durch den Dampf des im Laboratorium benutzten Quecksilbers war, an der Faraday litt. Erschütternd ist der Gedanke, wie leicht aller Wahrscheinlichkeit nach dieser reiche Geist von seinem Leid zu befreien gewesen wäre und welche Gaben er der Wissenschaft noch hätte schenken können, wenn man die Ursache des Übels erkannt und beseitigt hätte.

Vielleicht war ‒ hierauf macht mich Professor E.Jaensch- Marburg aufmerksam ‒ auch das rätselhafte Siechtum, dem der Mathematiker, Physiker und Philosoph Blaise Pascal (1623 - 1661) in jungen Jahren erlag, eine Quecksilbervergiftung. Pascal arbeitete bei seinen bekannten Barometerversuchen viel mit Quecksilber. Seine Leiden (anhaltender Kopfschmerz, Schwindel, Zahnschmerzen, Appetitlosigkeit, schwere dauernde Koliken) fügen sich zum vollständigen Bilde einer weit fortgeschrittenen langsamen Quecksilbervergiftung zusammen.

Unzweifelhaft hat das Quecksilber, auf dessen Benutzung die Forschung ja leider nicht verzichten kann, der Wissenschaft, in der Vergangenheit wie noch heute, schweren Schaden verursacht, indem es die Leistungsfähigkeit so manches Forschers herabdrückte. Möchte diese heutige Warnung helfen, daß man die Gefahren des tückischen Metalles besser beachte und vermeide.